TE OGH 1974/5/30 2Ob115/74 (2Ob116/74)

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Veröffentlicht am 30.05.1974
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Norm

ABGB §1304

Kopf

SZ 47/69

Spruch

Ist der Erfolg einer Operation schon an sich zweifelhaft, handelt es sich darüber hinaus um einen schweren, unter Umständen lebensgefährlichen Eingriff und ist die körperliche und geistigseelische Verfassung des Geschädigten durch die Unfallsfolgen bereits reduziert, so kann ein Hinausschieben oder auch eine Weigerung, sich der hinsichtlich ihres Erfolges nicht sicher zu beurteilenden Operation zu unterziehen, nicht als Verletzung der Schadensminderungspflicht angesehen werden

OGH 30. Mai 1974, 2 Ob 115, 116/74 (OLG Linz 2 R 95/73; LG Salzburg 2 Cg 165/32)

Text

Der Kläger wurde als Insasse eines vom Erstbeklagten gelenkten und diesem gehörigen PKW bei einem Verkehrsunfall am 10. August 1970 schwer verletzt. Die Zweitbeklagte ist Haftpflichtversicherer des Erstbeklagten. Die Haftung der Beklagten gegenüber dem Kläger aus dem Unfall steht außer Streit.

Der Kläger begehrte u. a. eine monatliche Verdienstentgangsrente in der Höhe von 2654.60 S ab dem Klagstag folgenden Monatsersten.

Das Erstgericht sprach dem Kläger u. a. ab 1. Jänner 1973 eine Verdienstentgangsrente von 2509.47 S netto monatlich bis zur Erreichung des gesetzlichen Pensionsalters des Klägers zu. Hingegen wurde das Begehren auf Zahlung einer weiteren Verdienstentgangsrente in der Höhe von 400 S für April 1972 und von 145.13 S monatlich ab 1. Jänner 1973 abgewiesen.

Das Berufungsgericht bestätigte insoweit das Ersturteil.

Beide Untergerichte gingen von folgenden Feststellungen aus:

Der am 10. Juni 1942 geborene Kläger erlitt bei dem Unfall ein schweres Schädelhirntrauma mit einem offenen Schädelbruch im Bereiche der Stirne und der vorderen Schädelbasis, einer Zerreißung der harten Hirnhaut im Bereiche der gebrochenen vorderen Schädelbasis, ausgedehnten Zerquetschungen an der Basis des Stirnhirnes, Knochenbrüchen im Bereiche der Nasennebenhöhlen und beider Augenhöhlen, einer starken Prellung des linken Augapfels und Eröffnung desselben durch einen Knochensplitter am Augenhintergrund. Die Verletzungen wurden zunächst auf der Hals-Nasen-Ohrenabteilung der Landeskrankenanstalten Salzburg versorgt. Der Trümmerbruch im Bereiche der Stirn wurde operativ freigelegt; dabei wurden Knochensplitter entfernt und weit in das Schädelinnere reichende Risse der harten Hirnhaut vernäht. Nach der Operation entwickelte der Kläger ausgeprägte psychiatrische Auffälligkeiten, die der Verletzung des basalen Stirnhirnes entsprachen. Er wurde daher in die Landesnervenklinik Salzburg verlegt, wo er sich bis zum 8. Oktober 1970 in stationärer Behandlung befand. Der gesamte unfallskausale Krankenhausaufenthalt betrug demnach 60 Tage. In der Landesnervenklinik wurde zunächst eine schwere Antriebsstörung mit hochgradig vermehrtem Schlafbedürfnis festgestellt. Die Verletzung des linken Auges wurde erst in der Landesnervenklinik diagnostiziert, es konnte jedoch keine Möglichkeit einer wirkungsvollen Behandlung und einer Rettung des Sehvermögens des linken Auges gefunden werden. Bis zu seiner Entlassung war der Kläger psychisch wegen Enthemmungszuständen auffällig. Die psychiatrischen Folgen der schweren Unfallverletzungen blieben bei ihm auch nach der Krankenhausentlassung bestehen. Anläßlich der Untersuchung des Klägers im Zuge des Verfahrens konnte bei einem medizinisch-psychologischen Test ein leichter Intelligenzabbau nachgewiesen werden; eine eigentliche Geistesschwäche liegt jedoch nicht vor. Es besteht allerdings eine mittelschwere Hirnleistungsschwäche mit einer Senkung der Leistungsfähigkeit um ungefähr 2/3 unter der Norm. Diese Hirnleistungsschwäche resultiert aus einem Mangel an Konzentrationsfähigkeit und an Arbeitsschwung sowie aus einer Anpassungsstörung an die gestellte Arbeit. Ausgeprägter als die Hirnleistungsschwäche ist indessen beim Kläger die Wesensveränderung, die charakteristisch für eine Stirn-Hirnverletzung (frontales psychoorganisches Syndrom) ist. Diese hirnorganische Wesensveränderung besteht vor allem in einer Versandung des Gefühllebens, Enthemmung, Antriebsstörung, raschen Erschöpfung bzw. Ermüdung und Verlangsamung des psychischen Tempos. Dieser völlige Mangel an psychischer Energie hat zur Folge, daß der Kläger stumpf, gleichgültig und apathisch wirkt. Dahinter steht eine schwer gestörte Impulsivität mit einer Neigung zur Labilität, zu ungebremster Gereiztheit, Wutausbrüchen und überhaupt zu Affekt- und Kurzschlußreaktionen. Es ist damit zwangsläufig eine verminderte Kontaktfähigkeit verbunden.

Beim Kläger bestehen derzeit ausgedehnte Narben im Bereiche der Stirne, Augenbrauen und Nasenwurzel sowie ein tiefer und breiter Knochendefekt im Bereiche der Stirne und Nasenwurzel. Durch diesen kosmetischen Defekt ist das Gesicht des Klägers schwer entstellt. Diese Entstellung ist durch eine plastische Operation weitgehend behebbar, wobei aber eine Gewähr für eine komplikationslose Einheilung der einzusetzenden Plastikplatte derzeit nicht gegeben werden kann. Bei einer derartigen Operation besteht ohne weiteres die Möglichkeit, daß die Plastikplatte wieder entfernt werden muß, wenn der Kläger infolge der eingesetzten Platte an zu starken Kopfschmerzen leidet oder wenn die Platte nicht komplikationslos einheilt. Es sind daher bei der geplanten plastischen Operation, die nicht nur als kosmetische Wiederherstellung des Klägers, sondern auch als Maßnahme zur Herbeiführung seiner Arbeitsfähigkeit anzusehen wäre und deren Kosten daher von der Sozialversicherung getragen werden, Komplikationen und ein längerer Wundheilungsverlauf nicht auszuschließen. Es ist aus diesem Gründe derzeit weder eine Abschätzung der mit dieser Operation verbundenen Schmerzen möglich, noch ist vorauszusehen, ob die Operation überhaupt eine Besserung des seelischen Wohlbefindens des Klägers herbeizuführen vermag.

Außer dem kosmetischen Defekt an der Stirne und den neurologischpsychiatrischen Verletzungsfolgen (mittelschwere Gehirnleistungsschwäche und schwere Wesenveränderung) bestehen beim Kläger noch als wesentliche Dauerfolgen eine praktische Erblindung des linken Auges und der Verlust des Geruchsvermögens. Außerdem kann die Möglichkeit des Auftretens von epileptischen Anfällen nicht völlig ausgeschlossen werden, wenngleich die Wahrscheinlichkeit hiefür auf Grund des bisherigen Krankheitsverlaufes und der EEG-Kontrollen nur als gering zu bezeichnen ist. Auch Gehirnabszesse können nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden. Die derzeitige Erwerbsunfähigkeit des Klägers ist allein auf die neurologisch-psychiatrischen Unfallsfolgen zurückzuführen, die den Kläger hindern, sich in die Gesellschaft, an seine Familie oder an Bekannte anzupassen, und die infolge der hirnorganischen Wesensveränderung, insbesondere durch die gestörte Bremsung der Affektivität, zur Folge haben werden, daß es vor allem bei Belastungen jeglicher Art immer wieder zu explosiven Wutausbrüchen kommen wird Gerade die Berufe des kaufmännischen Rechnungswesens, darunter auch die Tätigkeit des Buchhalters, zählen zu den gehobenen, besonders verantwortungsvollen Aufgabengebieten im Bürowesen, die neben umfassenden kaufmännischen Kenntnissen und der Fähigkeit zu logisch-exaktem Denken, Konzentrationsgabe, Sorgfalt, rasches Auffassungsvermögen, Reaktionsfähigkeit, Verantwortungsbewußtsein und die Fähigkeit erfordern, selbständig Entscheidungen treffen zu können. Derartige Arbeiten bringen daher körperlich mittelschwere, jedoch geistig überdurchschnittliche bis schwere Belastungen mit sich. Mit Rücksicht auf das festgestellte neurologisch-psychiatrische Zustandsbild wäre daher der Kläger den Aufgaben des zuletzt ausgeübten Berufes als Buchhalter zur Zeit bei weitem nicht gewachsen. Somit wird es zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers gezielter und gut durchdachter Maßnahmen bedürfen, wozu vor allem eine vorrangige Durchführung der plastischen Gesichtsoperation gehört, gegen deren Vornahme zum jetzigen Zeitpunkt vom neurologisch-psychiatrischen Standpunkt aus keine Bedenken bestehen. Da die Wahrscheinlichkeit einer komplikationslosen Einheilung des plastischen Materials mit der Zeit nach der Verletzung zunimmt, ist die Durchführung einer derartigen Operation ein bis zwei Jahre nach der Verletzung durchaus üblich, so daß es für den Kläger nicht ratsam wäre, den Eingriff länger hinauszuschieben. Erst nach Durchführung dieser Operation wird es zweckmäßig und sinnvoll sein, Hand in Hand mit Rehabilitationsmaßnahmen durch die hiefür vorgesehenen Institutionen der öffentlichen Arbeitsmarktververwaltung einen Arbeitsversuch vorzunehmen, weil jeder übereiltes erfolgloser Arbeitsversuch die soziale Prognose drücken würde. Auch wird erst nach der Vornahme eines derartigen Arbeitsversuches mit Sicherheit gesagt werden können, ob und in welchem Umfange der Kläger in seinem bisherigen Berufe oder in einem seinen Kenntnissen entsprechenden Komplementärberuf wieder einem Erwerbe nachgehen kann.

Das Berufungsgericht führte aus, daß dem Kläger die Durchführung der erwähnten plastischen Operation nicht zugemutet werden könne. Nach den Feststellungen sei nämlich Gewähr für eine komplikationslose Einheilung der einzusetzenden Plastikplatte nicht gegeben und es sei nicht voraussehbar, ob die Operation überhaupt eine Besserung des seelischen Wohlbefindens des Klägers herbeizuführen imstande sei. Schließlich mangle es an Behauptung und Beweis der Beklagten dafür, daß der Kläger einer ihm nach den Umständen zumutbaren Ersatzbeschäftigung nachgehen könne, die konkrete Behauptung eines für den Kläger in Betracht kommenden Ersatzarbeitsplatzes sei nicht aufgestellt worden. Zu Recht sei daher das Erstgericht zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger weiterhin arbeitsunfähig sei.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Breiten Raum widmet die Rechtsrüge der Verdienstentgangsrente, die nach Meinung der Beklagten deshalb nicht hätte zugesprochen werden dürfen, weil bereits seit wenigstens Mitte 1972 objektiv die Möglichkeit der Vornahme einer plastischen Operation bestanden habe und schon etwa drei bis vier Wochen später ein Arbeitsversuch hätte vorgenommen werden können. In Befolgung seiner Schadensminderungspflicht hätte sich der Kläger der ihm zumutbaren Operation unterziehen müssen; sein Anspruch auf Verdienstentgangsrente sei daher solange nicht fällig, als er diesen Verbesserungsversuch nicht unternommen habe, weshalb der Zuspruch einer Rente ab 1. Jänner 1973 zu Unrecht erfolgt sei.

In der Tat haben die Beklagten den Nachweis einer konkreten Erwerbsmöglichkeit für den Kläger unter den gegebenen Umständen nicht erbracht. Die Beklagten übersehen auch, daß eine Verletzung der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht nur vorliegt, wenn es der Geschädigte schuldhaft unterläßt, einem ihm nach den Umständen zumutbaren Erwerbe nachzugehen. Um dies feststellen zu können, muß vom Schädiger der Nachweis der Ausschlagung einer konkreten Erwerbsmöglichkeit erbracht werden. Der Nachweis der abstrakten Möglichkeit, durch eine anderweitige Beschäftigung den Verdienstausfall verringern oder wettmachen zu können, genügt nicht (EvBl. 1965/127; EvBl. 1974/16; zuletzt 8 Ob 52/74). Den Schädiger trifft auch die Behauptungs- und Beweislast dafür, daß der Geschädigte schuldhaft gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen habe (ZVR 1973/196; 2 Ob 152/73; zuletzt 8 Ob 247/73). Wohl ist richtig, daß sich der Verletzte im Rahmen seiner Rettungspflicht Operationen, so auch einer plastischen Operation, dann unterziehen muß, wenn ihm deren Vornahme zumutbar ist (SZ 36/37; zuletzt 2 Ob 57/71). Was aber dem Geschädigten im Rahmen der Schadensminderungspflicht zumutbar ist, bestimmt sich nach den Interessen beider Teile und den Grundsätzen des redlichen Verkehrs. Es kommt dabei immer auf die Umstände des Einzelfalles an (EvBl 1972/318, ZVR 1973/110; zuletzt 1 Ob 173/73). Ist der Erfolg einer Operation schon an sich zweifelhaft, handelt es sich darüberhinaus um einen schweren, unter Umständen lebensgefährlichen Eingriff und ist die körperliche und geistig-seelische Verfassung des Geschädigten durch die Unfallsfolgen bereits reduziert, so kann ein Hinausschieben oder auch eine Weigerung, sich der hinsichtlich ihres Erfolges nicht sicher zu beurteilenden Operation zu unterziehen, nicht als Verletzung der Schadensminderungspflicht angesehen werden.

Da im vorliegenden Fall nach den Feststellungen ein Mißerfolg der Operation nicht ausgeschlossen werden konnte, hat das Berufungsgericht das bisherige Verhalten des Klägers zu Recht nicht als Verletzung der Schadensminderungspflicht gewürdigt und demnach zutreffend den Zuspruch der Verdienstentgangsrente bestätigt

Anmerkung

Z47069

Schlagworte

Operation, keine Verletzung der Schadensminderungspflicht bei, zweifelhaftem Erfolg einer -, Schadensminderungspflicht, keine Verletzung der - bei zweifelhaftem, Erfolg einer Operation, Verletzung, keine - der Schadensminderungspflicht bei zweifelhaftem, Erfolg einer Operation

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1974:0020OB00115.74.0530.000

Dokumentnummer

JJT_19740530_OGH0002_0020OB00115_7400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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