TE Vfgh Erkenntnis 2008/3/5 B16/08

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Veröffentlicht am 05.03.2008
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
FremdenpolizeiG 2005 §53 Abs1, §66 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durchAusweisung von Fremden wegen unrechtmäßigen Aufenthalts aufgrundunzureichender Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Die Beschwerdeführerin, eine iranische Staatsangehörige,

reiste am 5. Februar 1994 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 7. Februar 1994 einen Asylantrag, der mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 14. Jänner 1997 - rechtskräftig seit 21. Jänner 1997 - gemäß §3 AsylG 1991 abgewiesen wurde. Während des Asylverfahrens war sie zum vorläufigen Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt.

Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 8. Februar 1994 wurde die Beschwerdeführerin ausgewiesen. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 21. März 1994 keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid mit der Maßgabe bestätigt, dass er sich auf §17 Abs2 Z6 Fremdengesetz 1992 stützt.

1.2. Die Beschwerdeführerin ist seit 24. März 1994 mit einem iranischen Staatsangehörigen verheiratet, der über eine bis 6. April 2008 gültige "Niederlassungsbewilligung - Schlüsselkraft" verfügt. Aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes am 28. Mai 1997 kehrte sie nach Abschluss des Asylverfahrens nicht sofort in den Iran zurück.

Am 4. Juni 1996 wurde die Beschwerdeführerin wegen §§15, 127 StGB zu einer Geldstrafe im Ausmaß von S 1.200,- verurteilt. In den Jahren 1997 und 1998 wurde sie dreimal wegen unrechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet bestraft.

1.3. Nach ihrer Ausreise wurde das zweite vom Ehemann stammende Kind am 25. November 1998 in Teheran geboren. Am 3. Februar 1999 beantragte die Beschwerdeführerin bei der österreichischen Botschaft in Teheran die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthaltszweck "Angehörige eines Studenten"; diese wurde ihr mit Gültigkeit bis 31. Oktober 1999 erteilt. Der am 28. Oktober 1999 gestellte Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Schlüsselkraft" wurde mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 10. März 2005 abgewiesen. Ein weiterer Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck "Familiengemeinschaft mit Ausbildung" wurde mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 21. Jänner 2005 wegen unzulässiger Inlandsantragstellung zurückgewiesen.

Nachdem die Beschwerdeführerin mit ihren Kindern erneut das Bundesgebiet verlassen hatte, reiste sie mit einem vom 17. Oktober 2005 bis 16. Februar 2006 gültigen Visum C nach Österreich ein und stellte am 18. Jänner 2006 einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Schlüsselkraft", der mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 28. März 2007 abgewiesen wurde. Seit Ablauf ihres Visums hält sich die Beschwerdeführerin (erneut) unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Am 8. September 2006 wurde ihr drittes Kind geboren.

2.1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 29. November 2006 wurde die Beschwerdeführerin gemäß §53 Abs1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.

2.2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 31. Oktober 2007 keine Folge gegeben. Darin führt die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass sich die Beschwerdeführerin seit Ablauf des zuletzt erteilten Visums unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Sie lebe seit zwei Jahren in Österreich und verfüge über familiäre Bindungen zu ihren drei Kindern - die sich ebenfalls unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten würden - sowie zu ihrem geschiedenen Ehemann, mit dem die Beschwerdeführerin ihren eigenen Angaben zufolge nach wie vor im gemeinsamen Haushalt lebe. Die Ausweisung bewirke somit einen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin iSd §66 Abs1 FPG, der aber zur Erreichung der in Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend notwendig sei.

Aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung komme der Befolgung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften ein hoher Stellenwert zu. Diese Regelungen seien von der Beschwerdeführerin aber angesichts der Tatsache, dass sie sich bereits seit mehr als eineinhalb Jahren unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, in gravierender Weise missachtet worden. Die damit bewirkte Beeinträchtigung des hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens sei daher von solchem Gewicht, dass die gegenläufigen privaten und familiären Interessen jedenfalls nicht höher zu bewerten seien, als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise der Beschwerdeführerin. Demgegenüber liefe es dem genannten öffentlichen Interesse grob zuwider, wenn ein Fremder bloß aufgrund von Tatsachen, die von ihm geschaffen wurden (Nichtausreise trotz Ablauf des Visums) den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet auf Dauer erzwingen könnte.

3. Die Beschwerde behauptet die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

Begründend wird insbesondere ausgeführt, dass die belangte Behörde im Hinblick auf den langjährigen Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich sowie ihre familiären und privaten Bindungen eine unzureichende Interessenabwägung iSd Art8 EMRK durchgeführt habe. Im Falle ihrer Ausreise wäre sie an der Führung eines Familienlebens mit ihrem Ehemann und den drei Kindern, die in Österreich aufgewachsen und integriert seien, gehindert. Eine Trennung der Familie wäre daher weder der Beschwerdeführerin noch ihren Angehörigen zumutbar. Die belangte Behörde sei zudem zu Unrecht von einem bloß zweijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet ausgegangen, obgleich sich die Beschwerdeführerin seit über zehn Jahren überwiegend rechtmäßig in Wien aufhalte. Ebenso aktenwidrig sei die Behauptung der Behörde, dass sie von ihrem Ehemann, mit dem sie in aufrechter Ehe lebe, geschieden sei.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt und beantragt, die Beschwerde abzuweisen oder ihre Behandlung abzulehnen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige -

Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§53 Abs1 und 66 Abs1 FPG wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch nicht entstanden.

2. Der belangten Behörde ist allerdings ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen.

2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 29. September 2007, B328/07, dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

2.2. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde vorgenommene - formelhafte - Abwägung iSd Art8 EMRK als unzureichend:

Vorauszuschicken ist, dass die Behörde die Ausweisung - unter Beachtung des §66 Abs1 FPG - zutreffend auf §53 Abs1 FPG gestützt hat.

Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber gestellt, jedoch keine - im Lichte der zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 29. September 2007 gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Interessenabwägung durchgeführt.

2.3. Die belangte Behörde verkennt zunächst, dass der bloße Hinweis darauf, dass sich die Beschwerdeführerin seit Ablauf des zuletzt erteilten Visums unrechtmäßig in Österreich aufhält, für sich alleine betrachtet nicht den Schutz des durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens mindert. Insbesondere geht sie zu Unrecht davon aus, dass sich die - bereits 1994 eingereiste - Beschwerdeführerin erst seit zwei Jahren (gerechnet seit ihrer letzten Einreise) im Bundesgebiet aufhält. Die belangte Behörde hat demnach nicht einmal geprüft, wie lange sich die Beschwerdeführerin insgesamt - seit ihrer erstmaligen Einreise im Jahr 1994 - rechtmäßig in Österreich aufgehalten hat. Im Übrigen vermag der Verfassungsgerichtshof die in der Gegenschrift geäußerte Auffassung der Behörde, wonach sich der - vorläufig berechtigte - Aufenthalt der Beschwerdeführerin während des Asylverfahrens infolge Abweisung des Asylantrages "nachträglich als ungerechtfertigt herausgestellt hat", ebenso nicht nachzuvollziehen, wie die Behauptung, dass der rechtmäßige Aufenthalt aufgrund eines gültigen Visums "nicht zur Untermauerung ihres Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet herangezogen werden (kann)".

Der Beschwerdeführerin wurde von der belangten Behörde angesichts ihrer persönlichen Verhältnisse zwar das Bestehen eines Familienlebens in Österreich zugestanden. Die Behörde misst allerdings der mit der Ausweisung verbundenen Trennung der Beschwerdeführerin von ihrem aufenthaltsberechtigten Ehemann und ihren drei minderjährigen Kindern - ungeachtet ihrer wechselseitigen intensiven Bindungen - keine entscheidungswesentliche Bedeutung bei. Soweit sie behauptet, dass die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann geschieden sei, ist ihr entgegenzuhalten, dass den Verwaltungsakten diesbezüglich zwar ein anonymer Hinweis und widersprüchliche Aussagen der Beschwerdeführerin zu entnehmen sind, die allerdings im Ergebnis nicht geeignet erscheinen, einen Nachweis über die angebliche Scheidung zu erbringen, zumal unbestritten ein aufrechtes Familienleben vorliegt.

2.4. Schließlich hat sich die Behörde auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob möglicherweise - aufgrund des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet - eine Bindung der Beschwerdeführerin zu Österreich entstanden ist, der ein entsprechender Verlust der Bindungen zu ihrem ursprünglichen Heimatstaat gegenübersteht.

So gelangte sie - nach einer Aneinanderreihung allgemeiner Ausführungen über ein "geordnetes Fremdenwesen" und ohne weitere Überlegungen zur Situation der Beschwerdeführerin anzustellen - zur Auffassung, dass die gegenläufigen privaten und familiären Interessen jedenfalls nicht höher zu bewerten seien, als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise der Beschwerdeführerin.

Die - für den Verfassungsgerichtshof mit Blick auf die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht nachvollziehbare - Schlussfolgerung der Behörde, dass der illegale Aufenthalt der Beschwerdeführerin eine maßgebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung bewirke, vermag eine konkrete Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Ausweisung auf ihr Privat- und Familienleben allerdings nicht zu ersetzen.

3. Dadurch, dass die Behörde auf die Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, wurde diese in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 180,- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Fremdenrecht, Fremdenpolizei, Ausweisung, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2008:B16.2008

Zuletzt aktualisiert am

18.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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