Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Verlassenschaftssache nach Johann D*****, vertreten durch Dr. Franz Hager und Dr. Dieter Hager, Rechtsanwälte in Krems, wider die beklagte Partei Rudolf G*****, vertreten durch Dr. Frank Riel, Rechtsanwalt in Krems, wegen 134.920,-- S sA (Revisionsstreitwert: 130.000,-- S), infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 14. März 1984, GZ 18 R 35/84-31, womit das Endurteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau vom 21. September 1983, GZ 3 Cg 274/82-18, teilweise aufgehoben wurde, folgenden
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Am 2. 12. 1982 verschuldete der Beklagte mit seinem PKW Golf GTI (N 870.241) einen Verkehrsunfall, bei dem Johann D***** als Fußgänger tödliche Verletzungen erlitt, welchen er am 12. 5. 1983 erlag (vgl AS 60, 71, 73). Mit Teilanerkenntnisurteil des Erstgerichtes vom 7. 3. 1983 (ON 9 dA) wurde die Haftung des Beklagten für alle künftigen Unfallsfolgen Johann D***** aus diesem Verkehrsunfall festgestellt. Mit der am 10. 12. 1982 bei Gericht eingebrachten Klage begehrte Johann D***** - abgesehen von der Feststellung der Schadenersatzpflicht des Beklagten - die Bezahlung eines Schmerzengeldes von 40.000,-- S sA. In der Tagsatzung vom 21. 9. 1983 wurde das Schmerzengeldbegehren auf 130.000,-- S und das Leistungsbegehren um weitere 4.920,-- S für Begräbniskosten auf 134.920,-- S sA ausgedehnt.
Der Beklagte beantragte die Abweisung des Leistungsbegehrens. Schmerzengeld stehe dem Kläger nicht zu, weil er seit dem Unfall bewusstlos sei und daher keine Schmerzempfindungen haben könne. Mit Endurteil vom 21. September 1983 (ON 18 dA) sprach das Erstgericht der klagenden Verlassenschaft den Betrag von 4.920,-- S sA zu; das Mehrbegehren auf Zuspruch des begehrten Schmerzengeldes wies es ab. Es traf dabei über den bereits wiedergegebenen Sachverhalt hinaus im Wesentlichen folgende - für den allein strittig gebliebenen Schmerzengeldanspruch maßgebliche - Feststellungen:
Johann D***** erlitt bei dem Unfall am 2. 12. 1982 eine Schädelfraktur im Bereich des rechten Schläfenscheitelbeins mit Gehirnverletzung und Gehirnquetschung, Brüche beider Unterschenkel mit ausgedehnten Weichteilverletzungen, Rippenbrüche, eine rechtsseitige Schlüsselbeinfraktur und eine linksseitige Radiusfraktur. Nach dem Unfall kam es zu einem Herzstillstand. Johann D***** wurde in die Intensivstation des Krankenhauses Krems gebracht und einer Reanimationsbehandlung unterzogen. Bis 10. 3. 1983 verblieb er in der Intensivstation. Es kam zu keiner völligen Aufhellung der Bewusstseinslage, es bildete sich vielmehr ein apallisches Syndrom aus. Am 11. 3. 1983 wurde er in die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses Krems verlegt. Eine wesentliche Änderung des Zustandbildes ab diesem Zeitpunkt trat jedoch nicht ein. Bei dem apallischen Syndrom handelt es sich um einen Störungsmechanismus, zwischen Hirnrinde und der netzförmigen Struktur des Hirnstammes. Es kommt dabei zu einer Störung der Bewusstseinstätigkeit und der Bewusstseinsinhalte, während die Bewusstseinshelligkeit erhalten bleibt. Dass die Bewusstseinshelligkeit erhalten ist, kommt darin zum Ausdruck, dass die Augen geöffnet sind. Nach außen hin sind keine Zeichen von einer Bewusstseinstätigkeit und von einem Bewusstseinsinhalt wahrnehmbar. Was tatsächlich im Bewusstsein des Patienten vorgeht und hier bei Johann D***** vorging, kann die medizinische Wissenschaft nicht beurteilen, weil bei diesen Patienten kein Erinnerungsvermögen an jenen Zustand vorhanden war. Die Bewusstseinshelligkeit, die bei Johann D***** seit dem Unfall vorhanden war, erweckt bei einem Betrachter den Eindruck, dass der Patient wach ist, dh er hat die Augen geöffnet, die Augen reagieren aber nicht. Bei Johann D***** war dieser Zustand (coma vigile) so tief, dass er keine Blickzuwendung zeigte, dh trotz offener Augen sein Blick einem Objekt nicht folgte. Die Schmerzleitung über die Schmerzbahnen funktionierte bei ihm auch während dieses Zustandes; das führte dazu, dass Schmerzreize, die bei ihm appliziert wurden, durch Beuge- oder Streckbewegungen sowie durch mehr oder weniger heftige Reaktionen (Tachycardie, Schweißausbrüche) beantwortet wurden. Eine bewusste Verarbeitung des Schmerzerlebnisses war bei ihm sicher nicht vorhanden; ob emotionale, affektive Reaktionen auf Schmerzreaktionen vorhanden waren, zum Beispiel Gefühlsreaktionen, Angstgefühle und dergleichen, kann nicht festgestellt werden, weil keine beobachtbaren Äußerungen emotionaler Reaktionen vorhanden sind. Bis zu seinem Tod ist Johann D***** nicht mehr zum Bewusstsein gekommen.
Bei der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhaltes ging das Erstgericht davon aus, dass Johann D***** nur physiologische Schmerzreaktionen gehabt habe, der klagenden Partei sei aber der Beweis nicht gelungen, dass Johann D***** Schmerzen zum Bewusstsein gekommen seien. Dies sei aber Voraussetzung für die Zuerkennung eines Schmerzengeldes.
Das Gericht zweiter Instanz gab der von der klagenden Partei gegen den abweisenden Teil dieses Urteiles erhobenen Berufung Folge; es hob das Endurteil des Erstgerichtes im abweisenden Teil und im Kostenpunkt auf und verwies die Rechtssache in diesem Umfang - unter Beisetzung eines Rechtskraftvorbehaltes - zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.
Rechtlich führte das Berufungsgericht aus, der Oberste Gerichtshof habe sich schon mehrfach mit der Frage beschäftigt, ob bei einem apallischen Syndrom Schmerzengeld zustehe (SZ 44/150; ZVR 1972/195; 2 Ob 266/82). Er sei dabei aber zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen. Zuletzt habe er in der Entscheidung 2 Ob 266/82 aber betont, dass Schmerzengeld nur dann nicht zustehe, wenn dem Verletzten jede Schmerzempfindung fehle. Dies sei hier aber nach den Feststellungen des Erstgerichtes nicht der Fall. Der Verletzte empfinde auch dann Schmerzen, wenn er hierauf bloß vegetativ, also etwa durch Schweißausbrüche oder Beschleunigung der Herzfrequenz reagiere. In einem solchen Fall könne nicht mehr gesagt werden, dass nur mehr die Schmerzbahnen funktionsfähig seien. Der Umstand, ob die Schmerzen Gefühlsreaktionen auslösten oder ob sie vom Verletzten bewusst verarbeitet würden, sei allein für die Frage der Abgeltung seelischer Schmerzen von Bedeutung. Nur wenn der Verletzte auf Schmerzen auch keine vegetative Reaktion zeige, könnte gesagt werden, dass er keine Schmerzen empfinde und daher keinen Anspruch auf Schmerzengeld haben könne. Es sei in der Rechtsprechung daher auch allgemein anerkannt, dass Schmerzengeld zustehe, obwohl der Verletzte die Schmerzen nicht bei klarem Bewusstsein erlebe und nicht rational verarbeite (ZVR 1978/180 und ZVR 1979/101). Das Erstgericht habe daher zu Unrecht verlangt, dass die Schmerzen dem Verletzten bewusst sein müssten. In Übereinstimmung mit der einen vergleichbaren Fall betreffenden Entscheidung 2 Ob 266/82 müsse daher gesagt werden, dass die klagende Partei Anspruch auf Schmerzengeld habe, weil Johann D***** die erlittenen Schmerzen habe empfinden können. Der Umstand, dass der Verletzte die Schmerzen nur auf sehr niedriger Stufe habe empfinden können, werde allerdings bei der Bemessung der Höhe des Schmerzengeldes zu berücksichtigen sein. Da das Erstgericht keine Feststellungen über die Schwere und Dauer der Schmerzen getroffen habe, sei die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich. Im Hinblick darauf, dass die Rechtsprechung zur Frage, ob bei einem apallischen Syndrom Schmerzengeld zugesprochen werden könne, nicht einheitlich sei, lägen die Voraussetzungen für einen Rechtskraftvorbehalt nach § 519 Abs 2 ZPO in Verbindung mit § 502 Abs 4 Z 1 ZPO vor.
Gegen diesen Aufhebungsbeschluss richtet sich der Rekurs des Beklagten.
Die Klägerin hat sich am Rekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist unzulässig.
Gemäß § 519 Abs 2 ZPO darf das Berufungsgericht einen Rechtskraftvorbehalt nach Abs 1 Z 3 dieser Bestimmung nur aussprechen, wenn es - abgesehen von der Unzulässigkeit des Rekurses nach § 528 Abs 1 ZPO - die Voraussetzungen des § 502 Abs 4 ZPO für gegeben erachtet. Der ordentliche Rekurs gegen einen Aufhebungsbeschluss ist daher nur bei Übersteigen der Wertgrenze von 300.000,-- S oder wegen erheblicher Rechtsfragen zulässig. Im letzteren Fall ist der Oberste Gerichtshof allerdings an die Zulässigerklärung des Berufungsgerichtes nicht gebunden; er kann vielmehr den ordentlichen Rekurs mangels der gesetzlichen Voraussetzungen zurückweisen (§ 526 Abs 2 Satz 2 ZPO, Petrasch, Das neue Revisions-(Rekurs-)Recht, ÖJZ 1983, 203). Die Voraussetzung des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO erblickt das Berufungsgericht erfüllt, weil die Rechtsprechung zur Frage, ob bei einem apallischen Syndrom Schmerzengeld zugesprochen werden könne, nicht einheitlich sei. Dies trifft aber nicht zu.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist es für den Schmerzengeldanspruch nicht erforderlich, dass der Verletzte seine Schmerzen mit klarem Bewusstsein erlebt und rational verarbeitet (SZ 44/150; ZVR 1978/180; ZVR 1979/101; 2 Ob 19/83 uva). Voraussetzung für den Schmerzengeldanspruch ist vielmehr nur, dass der Verletzte Schmerzempfindungen hatte. War dies der Fall, so wurde ihm vom Obersten Gerichtshof - soweit dies überblickbar ist - Schmerzengeld auch zuerkannt (SZ 44/150; 2 Ob 273/75; ZVR 1978/180; ZVR 1979/101; 2 Ob 19/83; 2 Ob 266/82; 3 Ob 509/84). Diese Unterscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof auch bei Vorliegen eines apallischen Syndroms beachtet, weshalb von einer nicht einheitlichen Rechtsprechung keine Rede sein kann.
In seinem Rekurs versucht der Beklagte darzulegen, dass bei Johann D***** wegen der Unfallsfolgen ein Zustand gegeben gewesen sei, bei dem Schmerzempfindungen nicht anzunehmen seien. Damit entfernt er sich aber von der für die rechtliche Beurteilung des Anspruches auf Schmerzengeld allein maßgeblichen Sachverhaltsgrundlage. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen lag bei Johann D***** ein apallisches Syndrom in Form einer Störung der Bewusstseinstätigkeit und der Bewusstseinsinhalte bei erhaltener Bewusstseinshelligkeit vor, bei der die Schmerzleitung über die Schmerzbahnen funktionierte; dies hatte zur Folge, dass Schmerzreize durch verschiedene Reaktionen, wie Beuge- und Streckbewegungen sowie mehr oder weniger heftige vegetative Reaktionen, nämlich Tachycardie und Schweißausbrüche beantwortet wurden. Es steht daher fest, dass bei Johann D***** Schmerzreize mit Abwehrreaktionen vorhanden waren. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall von jenem der in ZVR 1972/195 veröffentlichten Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, bei dem der Verunglückten nicht nur keine Schmerzen bewusst wurden, die Verletzte vielmehr gar keine Schmerzen empfinden konnte. Hingegen gleicht der hier zur Entscheidung stehende Sachverhalt dem in der Entscheidung SZ 44/150 zu beurteilenden insofern, als auch dort trotz Bestehens eines apallischen Syndroms Schmerzreize mit Abwehrreaktionen verbunden mit Ausdrucksbewegungen aufgetreten waren. Bei Johann D***** war allerdings (ebenso wie im Falle der Entscheidung SZ 44/150) eine bewusste Verarbeitung der Schmerzempfindungen nicht möglich. Dies ist aber für den Schmerzengeldanspruch - wie bereits dargetan - nicht erforderlich. Dem Umstand, dass das Erstgericht eine Feststellung darüber, ob bei Johann D***** emotionale, affektive Reaktionen in Form von Gefühlsreaktionen, Angstgefühlen und ähnlichem vorhanden waren, nicht treffen konnte, steht somit der Annahme des Bestehens des Schmerzengeldanspruches nicht entgegen, weil die Feststellung solcher Reaktionen wohl eine rationelle Verarbeitung der Schmerzempfindungen zur Voraussetzung hätte, was aber für den Schmerzengeldanspruch nicht erforderlich ist.
Das Berufungsgericht ist daher frei von Rechtsirrtum zur Annahme gelangt, dass Johann D***** dem Grunde nach Schmerzengeld zusteht. Da das Erstgericht von einer nicht zu billigenden Rechtsansicht ausgehend es unterlassen hat, Feststellungen über Art, Intensität und Dauer der Schmerzen zu treffen, ist die Streitsache zur Entscheidung noch nicht reif. Der Aufhebungsbeschluss entspricht daher der Sach- und Rechtslage, weshalb eine Sachentscheidung im Sinne des § 519 Abs 2 Satz 2 ZPO nicht möglich ist.
Der Rekurs musste daher zurückgewiesen werden.
Anmerkung
E74031 8Ob46.84European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1984:0080OB00046.84.0620.000Dokumentnummer
JJT_19840620_OGH0002_0080OB00046_8400000_000