TE OGH 1986/1/15 1Ob513/86

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Veröffentlicht am 15.01.1986
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schubert, Dr.Gamerith, Dr.Hofmann und Dr.Schlosser als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei minderjährige Alexandra A, Schülerin, Brückenweg 7, 5400 Hallein, vertreten durch den Vater Matthias A, Angestellter, ebendort, dieser vertreten durch Dr.Ägidius Horvatits, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagten Partei Liselotte B, Dentistin, Schöndorferplatz 4, 5400 Hallein, vertreten durch Dr.Karl Friedrich Strobl, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen restlicher S 20.000,-- samt Anhang und Feststellung infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 6. August 1985, GZ.3 a R 99/85-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 13. Mai 1985, GZ.2 Cg 588/82-19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die Beklagte ist schuldig, der Klägerin die mit S 6.550,10 bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (davon S 491,60 Umsatzsteuer und S 1.362,50 Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 21.Dezember 1981 war die damals acht Jahre alte Klägerin bei der beklagten Dentistin in Zahnbehandlung. Diese besaß einen 18 Monate alten Rauhhaardackel, der sich im Ordinationsraum aufhielt. Das Tier war allgemein und besonders bei Kindern sehr beliebt, ging jedem zu und ließ sich immer streicheln. Auch die Klägerin hatte bei früheren Besuchen bei der Beklagten den Hund gestreichelt. Als die Behandlung der Klägerin am 21.Dezember 1981 beendet war, näherte sich die Klägerin dem Hund, der schlafend unter der Heizung lag, um ihn zu begrüßen und wiederum zu streicheln. Sie beugte sich zum Hund hinunter und sprach ihn an. Dadurch wurde der Hund aus dem Schlaf geschreckt und biß die Klägerin in die Unterlippe. Bis dahin hatte es mit dem Rauhhaardackel nicht die geringsten Zwischenfälle gegeben.

Die Klägerin begehrte die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 25.000,-- samt Anhang und die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden und brachte vor, die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, den Hund von Behandlungsräumen, in denen naturgemäß oft eine nervöse Stimmung herrsche, fernzuhalten. Auch aus hygienischen Gründen habe ein Tier in einem Zahnbehandlungsraum nichts zu suchen.

Die Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens und behauptete, den völlig harmlosen Hund ausreichend verwahrt zu haben. Die Klägerin treffe ein Mitverschulden, weil sie das Tier aus dem Schlaf aufgeschreckt habe.

Das Erstgericht sprach der Klägerin ein Schmerzengeld von S 20.000,-- samt Anhang zu und gab dem Feststellungsbegehren statt. Das Mehrbegehren von S 5.000,-- samt Anhang wies es - insoweit rechtskräftig - ab.

Der in der Ordination der Beklagten frei gehaltene Hund habe ungeachtet seiner Gutmütigkeit zumindest für Kinder eine potentielle Gefahr dargestellt. Die Beklagte habe diese Gefahrenquelle geschaffen und aufrechterhalten. Da der Hund in einem Ordinationsraum, also in einem für Kinder frei zugänglichen Raum, gehalten worden sei, in dem naturgemäß eine nervöse Stimmung herrsche, trage die Beklagte das volle Risiko für das triebhafte, unberrschbare Verhalten ihres Hundes. Ein Mitverschulden der Klägerin liege nicht vor, da sie in ihrem Alter nicht einzusehen vermocht habe, daß ein schlafender Hund eine erhebliche Gefahrenquelle darstelle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, wies das Klagebegehren ab und sprach aus, daß der von der Abänderung des Ersturteils betroffene Wert des Streitgegenstandes S 15.000,--, nicht aber S 300.000,-- übersteigt und die Revision nach § 502 Abs.4 Z.1 ZPO nicht zulässig sei.

Der Tierhalter sei für einen durch das Tier zugefügten Schaden nur dann nicht verantwortlich, wenn er beweise, daß er für die erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung gesorgt habe. Insofern ergebe sich für die Klägerin auch aus der Beweislastumkehr des § 1298 ABGB (wegen Vorliegens eines Behandlungsvertrages) keine günstigere Ausgangsposition als nach § 1320 ABGB. Das Maß der erforderlichen Beaufsichtigung und Verwahrung richte sich vor allem nach der Gefährlichkeit des Tieres - je nach seiner Art und Individualität - und der Möglichkeit der Schädigung durch das spezifische Tierverhalten, wobei auch die Abwägung der beiderseitigen Interessen eine Rolle spiele. Ein 18 Monate alter schlafender Rauhhaardackel sei keineswegs so gefährlich wie eine zweieinhalb Jahre alte, unbeaufsichtigt herumlaufende Deutsche Dogge. Die Möglichkeit einer Schädigung von Personen sei bis zum gegenständlichen Vorfall ausgeschlossen erschienen. Der Dackel sei in seiner vertrauten Umgebung gewesen und habe geschlafen, so daß er keine besondere Gefahrenquelle gebildet habe. Der Biß sei völlig unvorhersehbar gewesen. Die Beklagte habe ihre Pflicht zur zumutbaren Beaufsichtigung ihres Dackels nicht verletzt, zumal sie den Hund in ihrer Ordination in unmittelbarer Aufsicht gehabt habe. Die Möglichkeit der Haltung von Haustieren dürfe nicht durch überspannte Forderungen an den Halter geradezu ausgeschlossen werden. Es sei auch nicht erforderlich, von vornherein jede Kontaktmöglichkeit zwischen Kindern und erkennbar harmlosen Hunden zu verhindern. Die Beklagte habe den Beweis objektiv hinreichender Verwahrung und Beaufsichtigung des Hundes erbracht. Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes erhobene Revision der Klägerin ist zulässig, weil die Rechtsprechung über das Maß der Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht von (Haus-)Tieren nur aus beispielhaften Einzelfällen gebildet werden kann.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 1320 ABGB ist der Tierhalter (für den durch das Tier angerichteten Schaden) verantwortlich, wenn er nicht beweist, daß er für die erforderliche Verwahrung oder Beaufsichtigung gesorgt hat. Die Bestimmung des Maßes der erforderlichen Verwahrung und Beaufsichtigung hat, wie schon die zweite Instanz zutreffend hervorhob, in elastischer und den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragender Weise zu erfolgen. Maßgebend ist insbesondere die Gefährlichkeit des Tieres nach seiner Art und Individualität, die Wahrscheinlichkeit der Schädigung durch das spezifische Tierverhalten, sowie die Abwägung der beiderseitigen Interessen (JBl.1982, 150; SZ 55/62 u.a.). Je größer die Schadensmöglichkeit ist, umso strengere Anforderungen müssen gestellt werden. Dabei spielt es eine wesentliche Rolle, in welchen besonderen Verhältnissen sich das Tier befindet, insbesondere etwa, ob es mit vielen Menschen in Kontakt kommt oder kommen kann und ob sich darunter auch Kinder befinden, die durch ihre eigene Unberechenbarkeit und mangelnde Einsicht die von einem Tier ausgehende typische Gefahr noch zusätzlich vergrößern können (JBl.1982, 150; 5 Ob 648/83). Die besondere Tiergefahr, die zur Normierung der strengeren Haftung Anlaß gab, liegt darin, daß - auch gutmütige - Tiere durch ihre von Trieben und Instinkten gelenkten Bewegungen, die nicht durch Vernunft kontrolliert werden, Schaden stiften können (5 Ob 559/85; ähnlich ZVR 1984/234; 7 Ob 592/82; 8 Ob 571/84; Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht 2 II 405). Es ist richtig, daß der Hund der Beklagten, was seine Gefährlichkeit und den Umfang der zu befürchtenden Verletzungsfolgen betrifft, mit einer Deutschen Dogge - ein Hund dieser Rasse hatte in dem der Entscheidung JBl.1982, 150 zugrundeliegenden Fall ein vier-jähriges Kind gebissen - nicht verglichen werden kann. Die aus der Größe und Kraft eines Hundes entspringende Gefährlichkeit ist aber nicht das einzige Kriterium für die erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung. Allein darin, daß einem Hunde im Hause volle Bewegungsfreiheit gewährt wird, kann zwar noch keine Vernachlässigung der erforderlichen Verwahrung erblickt werden, wenn irgendeine bösartige Eigenschaft des Hundes nicht festgestellt ist (SZ 25/278 u.a.; zuletzt 6 Ob 562/83); im vorliegenden Fall war aber die Situation insofern eine andere, als die Beklagte ihren Hund in dem von Patienten und deren Begleitpersonen besuchten Ordinationsraum hielt und dadurch die Möglichkeit schuf, daß das Tier mit vielen Menschen und insbesondere auch mit Kindern in Kontakt kommen konnte. Das Tier war allgemein und besonders bei Kindern sehr beliebt. Es lag daher nahe, daß Kinder, die, sei es als Patienten, sei es in Begleitung von Angehörigen, die sich bei der Beklagten einer Zahnbehandlung unterzogen, in den Behandlungsraum der Beklagten kamen, mit dem Hund Kontakt aufnahmen, um ihn zu streicheln oder mit ihm zu spielen. Die Beklagte hat durch die Ermöglichung dieser Kontakte zwischen ihrem Hund und Kindern - ungeachtet der bisherigen Gutmütigkeit des Tieres - eine ernstzunehmende Gefahr herbeigeführt, die sie auch voraussehen konnte: Infolge der Unberechenbarkeit von Kindern und ihrer mangelnden Einsicht in die Unberechenbarkeit des triebhaften Verhaltens von Tieren konnte es leicht zu gefährdenden Reaktionen des Hundes kommen. Die Beklagte konnte bedenken, daß sich Kinder in der ihnen ungewohnten Umgebung eines Zahnbehandlungsraumes insbesondere vor oder nach einer Zahnbehandlung in einem etwas erregten Gemütszustand befinden können. Die Beklagte konnte neben ihrer naturgemäß volle Konzentration erfordernden Tätigkeit als Dentistin Kontaktnahmen zwischen Kindern und ihrem Hund nicht ständig beaufsichtigen und lenken, zumal solche auch stattfinden konnten, während sie noch mit der Begleitperson des Kindes beschäftigt war oder andere Arbeiten, die neben der eigentlichen Behandlung der Patienten anfallen, durchzuführen hatte. Die Beklagte konnte somit unter den besonderen Umständen der Hundehaltung nicht beweisen, für die erforderliche Beaufsichtigung des Hundes gesorgt zu haben. Auf Grund der bei der Beklagten vorauszusetzenden Einsicht (§§ 1297, 1299 ABGB) in die besondere Eigenart ihrer Tätigkeit und in die Gefahren einer damit verbundenen Hundehaltung im Behandlungsraum ist der Beklagten das Unterlassen erforderlicher Maßnahmen auch subjektiv vorzuwerfen, so daß es keiner Klärung der Frage bedarf, ob der Halter eines Tieres auch dann haftet, wenn die erforderlichen Maßnahmen schuldlos unterbleiben (vgl. dazu insbesondere JBl.1982, 150 und Koziol-Welser 7 I 421 m.w.N. in FN 198; ferner RZ 1983/27).

Nach ständiger Rechtsprechung darf das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Verwahrung eines Tieres nicht in einem solchen Maße überspannt werden, daß dadurch das Halten von an und für sich ungefährlichen Haustieren unmöglich gemacht wird

(RZ 1985/28 m.w.N.). Das bedeutet aber nicht, daß die Hundehaltung neben jeder Berufstätigkeit ermöglicht werden sollte, obwohl die Berufsausübung besonders gefährdende Situationen für Dritte herbeiführt und eine gleichzeitige Kontrolle, durch die solche Gefährdungen vermieden werden, ausschließt. Es ist unter diesen Umständen ohne Bedeutung, daß die Verletzung der Klägerin erfolgte, weil der aus dem Schlaf gerissene Hund irritiert war; sein Verhalten war keineswegs, wie die Revisionsbeantwortung meint, atypisch. Ein Mitverschulden der Klägerin liegt nicht vor, weil sie sich zu dem schlafenden Hund nur hinuntergebeugt und ihn angesprochen, nicht aber durch plötzliche Berührungen aufgeschreckt hat. Dies ist ein typisch kindliches Verhalten, dessen Folgen einzusehen, von der achtjährigen Klägerin nicht erwartet werden kann. Selbst der Beklagten fehlt diese Einsicht.

Da die Höhe des zugesprochenen Schmerzengeldes schon im Berufungsverfahren unbekämpft blieb, ist die Sache im Sinne der Wiederherstellung des Ersturteils spruchreif.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 41, 50, 54 ZPO sowie § 19 Abs.1 Z.4 lit.a und b und Abs.5 und 6 GJGebG.

Anmerkung

E07220

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0010OB00513.86.0115.000

Dokumentnummer

JJT_19860115_OGH0002_0010OB00513_8600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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