TE OGH 1986/9/23 11Os47/86

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Veröffentlicht am 23.09.1986
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 23.September 1986 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral, Dr. Walenta, Dr. Felzmann und Dr. Brustbauer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Hinger als Schriftführers, in der Strafsache gegen Wolf L*** wegen des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach dem § 94 Abs. 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Jugendschöffengerichts vom 28. Jänner 1986, GZ 11 Vr 1924/85-21, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Generalanwalts Dr. Hauptmann als Vertreters der Generalprokuratur, des Angeklagten, seines gesetzlichen Vertreters Dr. Stefan L*** und des Verteidigers Dr. Glatternig zu Recht erkannt:

Spruch

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise Folge gegeben, das angefochtene Urteil, das im übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch zu Punkt 2 wegen des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach dem § 94 Abs. 1 StGB und demgemäß auch im Strafausspruch aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am 11.März 1969 geborene Mittelschüler Wolf L*** schuldig erkannt, er habe am 27.Mai 1985 in Klagenfurt 1) durch unachtsame Fahrweise als Lenker eines Motorfahrrades die eine Straße überquerende Fußgängerin Karin I*** zu spät bemerkt, angefahren, zu Boden gestoßen und somit fahrlässig am Körper verletzt, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung, nämlich eine Fraktur der linken Kniescheibe, sowie eine Rißquetschwunde am Hinterkopf und Hautabschürfungen an der rechten Handoberfläche, zur Folge hatte, sowie 2) es unterlassen, der Karin I***, deren Verletzungen am Körper er (widerrechtlich) verursacht hatte, die erforderliche Hilfe zu leisten, und hiedurch

1) das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 und 4 (erster Fall) StGB sowie 2) das Vergehen des Imstichlassens eines Verletzten nach dem § 94 Abs. 1 StGB begangen. Gegen diese Verurteilung richtet sich die ausdrücklich auf die Nichtigkeitsgründe der Z 5 und 9 lit. b des § 281 Abs. 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Wolf L***.

Zum Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung:

Rechtliche Beurteilung

Der einleitenden Mängelrüge (§ 281 Abs. 1 Z 5 StPO) zuwider entbehrt die Urteilsannahme einer unachtsamen Fahrweise des Angeklagten vor dem Unfall keineswegs einer auf den Akteninhalt gestützten Begründung:

Diese Annahme ist eine Folgerung aus der auf Grund des Ortsaugenscheines getroffenen Feststellung einer bereits aus 50 m Entfernung gegebenen Sichtmöglichkeit auf den Unfallsbereich (S 95 Mitte in Verbindung mit S 84) und aus der auf der Verantwortung des Angeklagten und dem verkehrstechnischen Sachverständigen-Gutachten beruhenden Konstatierung eines nur 22 m vor der Unfallsstelle gelegenen Punktes der Gefahrenerkennung (S 96 oben, 98 unten in Verbindung mit S 84 f und 89). Sie steht auch - der Beschwerdeargumentation zuwider - nicht in logischem Widerspruch zur weiteren (in der Urteilsbegründung nur als zusätzliche Fahrlässigkeitskomponente erwähnten) Annahme, der Angeklagte habe ungeachtet der späten Gefahrenerkennung noch die - allerdings nicht genützte - Möglichkeit gehabt, den Unfall durch ein Bremsmanöver zu vermeiden (S 96 vorletzter Absatz); macht doch nicht jeder Aufmerksamkeitsfehler eine unfallsverhütende Reaktion schlechthin unmöglich.

Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist aber auch die Feststellung des Erstgerichtes, derzufolge sich die Fußgängerin Karin I*** zum erwähnten Zeitpunkt ihrer erstmaligen Wahrnehmung durch den Angeklagten bereits in der Mitte der 5 m breiten (Richtungs-)Fahrbahn befand, mit dem verkehrstechnischen Sachverständigengutachten vereinbar, laut welchem Karin I*** bei normalem Schrittempo von 5 km/h die der Entfernung der "Fahrstreifen"mitte von der Schutzinsel entsprechende Distanz von 2,5 m in 1,8 Sekunden zurückgelegt hätte (AS 90), wogegen der Angeklagte für die 22 m vom Gefahrenerkennungs- zum Kollisionspunkt bei 25 km/h 3,1 Sekunden (nicht - wie der Beschwerdeführer aktenwidrig behauptet - 3,5 Sekunden) benötigte (AS 89). Der vom Beschwerdeführer aus diesem Gutachten gezogene Schluß, daß es bei den vom Erstgericht angenommenen Ausgangspositionen und Durchschnittsgeschwindigkeiten zu keiner Kollision gekommen wäre, weil das Tatopfer noch vor Annäherung des Mopeds die Schutzinsel erreicht hätte, setzt voraus, daß auch die Fußgängerin bis zuletzt eine gleichförmige Geschwindigkeit beibehielt. Gerade hievon ging das Erstgericht jedoch nicht aus; stellte es doch fest, daß Karin I*** nach Erreichen der Mitte der (Richtungs-)Fahrbahn die Annäherung der Mopeds des Angeklagten und des Zeugen N*** bemerkte, unsicher wurde und zögerte, die Fahrbahn weiter zu überqueren (S 96, zweiter Absatz). Soweit der Angeklagte vorbringt, auf Grund seiner eigenen Angaben und der Ausführungen des Sachverständigen wäre die Feststellung zu treffen gewesen, er habe aus 22 m Entfernung bereits das Betreten des südlichen Fahrbahnrandes durch die Fußgängerin wahrgenommen und auf Grund ihres Verhaltens zu diesem Zeitpunkt darauf vertrauen dürfen, auch von ihr bemerkt worden zu sein, unternimmt er - sich über den Inhalt der eigenen Verantwortung (S 85 oben; vgl. S 65) hinwegsetzend - den (prozeßordnungswidrigen) Versuch einer Bekämpfung der Beweiswürdigung des Schöffensenats, indem er auf die Möglichkeit verweist, es hätten sich aus den Verfahrensergebnissen für ihn günstigere Schlußfolgerungen tatsächlicher Natur ziehen lassen. Die Zeugin I*** legte auch keineswegs die ihr vom Beschwerdeführer unterstellte Aussage des Inhaltes ab, auf die Wahrnehmung der Mopeds zunächst mit einem Schritt zurück reagiert zu haben, sondern glaubte im Gegenteil, sich daran erinnern zu können, daß sie aus Unsicherheit nach Erkennen der Gefahr einen Schritt vor und (erst) dann einen Schritt zurück tat (S 87 oben; im gleichen Sinn ihre Angaben S 18, die insoweit mit jenen des Angeklagten vor der Polizei AS 14 - allerdings nicht mit dessen Verantwortung vor Gericht S 66 - übereinstimmen). Mag auch im Urteilssachverhalt dieses Zurücktreten der Zeugin als weiteres Teilverhalten, in welchem Unentschlossenheit zum Ausdruck kam, nicht ausdrücklich erwähnt sein, so sind doch die bezüglichen Urteilsfeststellungen in ihrem hier allein maßgeblichen Kern, nämlich über das Unterbleiben einer primären Reaktion der Karin I***, auf Grund welcher der Angeklagte darauf vertrauen hätte dürfen, die Fußgängerin werde vor Überquerung der Fahrbahn seine Vorbeifahrt abwarten (§ 3 StVO), durch den Akteninhalt gedeckt.

Daß das Erstgericht dem Angeklagten im Urteilsspruch nur eine unachtsame Fahrweise, in der Urteilsbegründung jedoch zusätzlich die Unterlassung einer ungeachtet dieser Unaufmerksamkeit zur Zeit der Gefahrenerkennung noch möglich gewesenen Unfallsverhinderung durch eine Bremsreaktion zur Last legt (S 96, vorl. Abs., S 98, letzter Abs., S 99 oben, S 100 f), stellt keinen inneren Widerspruch im Sinn der Z 5 des § 281 Abs. 1 StPO dar; insoweit wurde der Urteilstenor durch die mit ihm eine Einheit bildende Begründung ergänzt. Die logische Vereinbarkeit der Annahme einer Unaufmerksamkeit mit der Konstatierung eines später - nach Gefahrenerkennung - unterlaufenen Reaktionsfehlers wurde bereits dargelegt.

Inwiefern die nach Ansicht der Beschwerde mangelhaft begründete Feststellung, die Unterlassung der Bremsreaktion durch den Angeklagten sei auf eine Fehleinschätzung der gegebenen Verkehrslage, auf Mangel an Fahrpraxis und auf Unkenntnis der einschlägigen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung zurückzuführen (S 96, vorl. Abs.), eine entscheidende - dh für die rechtliche Subsumtion oder die Anwendung eines bestimmten Strafsatzes maßgebliche - Tatsache betreffen könnte, geht weder aus dem Beschwerdevorbringen noch aus dem Sachzusammenhang hervor: Die Beurteilung des Verhaltens eines Verkehrsteilnehmers als fahrlässig hängt nicht primär davon ab, ob es gerade auf den erwähnten Umständen beruht oder auf andere Ursachen (etwa erhöhte Risikobereitschaft) zurückzuführen ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die Handlung (Unterlassung) objektiv und subjektiv sorgfaltswidrig ist und ob sich dem Täter eine zumutbare unfallvermeidende Alternative angeboten hätte (§ 6 StGB). Daß die Lösung dieser entscheidenden Fragen bei mangelnder Nachweisbarkeit der vom Erstgericht angenommenen Ursachen der Fehlreaktion in einem für den Angeklagten günstigeren Sinn ausgefallen wäre, ist aus dem Akteninhalt nicht zu entnehmen und wird nicht einmal in der Beschwerdeschrift behauptet. Schon deshalb erübrigt es sich, in diesem Zusammenhang näher auf die weitwendigen Beschwerdeausführungen einzugehen, in welchen ua erneut der unzulässige Versuch unternommen wird, die Verfahrensergebnisse - insbesondere zur Position der Unfallsbeteiligten im Augenblick der Gefahrenerkennung - in einem vom Urteil abweichenden Sinn zu würdigen, und worin der Angeklagte auf die Unterstellung seiner Rechtsunkenntnis in polemischer Form mit dem Hinweis auf die seiner Ansicht nach vom Erstgericht zu Unrecht nicht beachtete Vorschrift des § 4 Abs. 1 StVO erwidert. (Deren Gebot, am Unfallsort die zur Vermeidung von Folgeschäden erforderlichen Maßnahmen zu treffen, vermag allerdings die vom Angeklagten als vorrangig angesehene Verbringung des Unfallsmopeds über eine Entfernung von rund 100 m - s.S 98 oben - nicht zu rechtfertigen.)

Abschließend wird in der Mängelrüge zur Urteilstat 1, abgesehen von einer Wiederholung der bereits erörterten Behauptung innerer Widersprüchlichkeit und aktenwidriger Begründung der urteilsmäßigen Feststellung eines der Fehlreaktion vorangegangenen Aufmerksamkeitsfehlers, vorgebracht, der Angeklagte habe nicht nur rechtzeitig, sondern - im Vertrauen auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Karin I*** (§ 3 StVO) - auch richtig (mit einer "Ausweichbewegung") reagiert. Mit diesem Vorbringen bekämpft der Beschwerdeführer aber nicht die Begründung von Tatsachenfeststellungen (§ 281 Abs. 1 Z 5 StPO), sondern die rechtliche Beurteilung seines Verhaltens (§ 281 Abs. 1 Z 9 lit. a StPO). Eine prozeßordnungsgemäße Ausführung der Rechtsrüge hätte jedoch von der vollständigen Tatsachengrundlage des angefochtenen Urteils auszugehen. Dies ist hier nicht der Fall; denn der Angeklagte nimmt ausdrücklich Bezug auf seine früheren, vom Urteilssachverhalt (insbesondere in der Frage der Position der Fußgängerin I*** zum Zeitpunkt der Wahrnehmung durch ihn) abweichenden Ausführungen. Wird aber, wie erforderlich, von den Urteilsfeststellungen ausgegangen, dann stellt sich der (in der Beschwerde als Ausweichbewegung bezeichnete) Versuch des Angeklagten, an der Fußgängerin - in seiner Fahrtrichtung gesehen - links vorbeizufahren, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern oder ein Warnsignal abzugeben, als objektiv (und mangels jeglichen Anhaltspunktes für eine Beeinträchtigung seiner Fähigkeit zur Aufwendung der gebotenen Sorgfalt auch subjektiv) sorgfaltswidrige (vorwerfbare Fehl-)Reaktion auf die Wahrnehmung einer unklaren Verkehrssituation dar, wie sie in Anbetracht des unschlüssigen Verhaltens der in der Mitte der Richtungsfahrbahn befindlichen Fußgängerin gegeben war.

Angesichts der ihm schon insofern zu Recht vorgeworfenen Fahrlässigkeitskomponente erübrigt sich die Prüfung, ob dem Angeklagten auch noch die Herbeiführung des schweren Verletzungserfolges durch ein weiteres fahrlässiges Verhalten, nämlich durch den einleitenden Mangel an Aufmerksamkeit, zu Recht angelastet wurde (Mayerhofer-Rieder 2 , § 282 StPO, EGr. 19, 20).

Zum Vergehen des Imstichlassens eines Verletzten:

In dieser Hinsicht erweist sich die Nichtigkeitsbeschwerde schon insoweit berechtigt, als sie Begründungs- und Feststellungsmängel im Zusammenhang mit der Konstatierung behauptet, daß der Angeklagte mit der Hilfsbedürftigkeit des Tatopfers "rechnen mußte" und sich dennoch mit dolus eventualis entschlossen habe, der Fußgängerin die erforderliche Hilfe zu versagen.

Abgesehen davon, daß Redewendungen wie, der Angeklagte "hätte rechnen müssen" bzw. "mußte rechnen" (vgl. S 99, 102), keine ausreichende Begründung für die Annahme bedingten Vorsatzes abzugeben vermögen (vgl. Leukauf-Steininger 2 § 5 StGB RN 18), erweist sich auch der ua aus dem Unterbleiben der Anzeige des Unfalls bei der nächsten Polizeidienststelle zu Lasten des Beschwerdeführers gezogene Schluß auf das "Kennenmüssen" der Verletzungen der Karin I*** und die bedingt vorsätzliche Unterlassung der Hilfeleistung mangels Angabe eines nachvollziehbaren Konnexes als nicht tragfähig. Dies umsoweniger, als nach dem Urteilsinhalt sogar fraglich ist, ob sich die vom Tatort ohne jede Hilfe entfernende und den Weg zu ihrer Freundin Ruth T*** fortsetzende Karin I*** damals bereits selbst ihrer Verletzungen und damit ihrer Hilfsbedürftigkeit bewußt war. In diesem Zusammenhang entbehrt die angefochtene Entscheidung auch jeglicher Feststellungen darüber (§ 281 Abs. 1 Z 9 lit. a StPO), in welcher zeitlichen Abfolge die Unfallsbeteiligten, nachdem I*** die Frage des Angeklagten nach einer allfälligen Verletzung unbeantwortet gelassen hatte, den Tatort verließen. Im Hinblick auf das - zumindest - nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht auszuschließende Weggehen der Verletzten zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Angeklagte noch an der Unfallstelle aufhielt, erweisen sich demnach auch eindeutige und eingehende Konstatierungen im Zusammenhang mit der Frage eines vorsatzausschließenden Tatbildirrtums als erforderlich. Läge nämlich ein Tatbildirrtum vor und wäre dieser Irrtum bloß auf Fahrlässigkeit zurückzuführen, käme eine Bestrafung nach dem § 94 StGB nicht in Frage (vgl. Leukauf-Steininger 2 , RN 13 zu § 7 und RN 16 zu § 94 StGB). Da sich somit erweist, daß im aufgezeigten Umfang die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung nicht zu vermeiden ist, war das angefochtene Urteil im Schuldspruch wegen Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach dem § 94 Abs. 1 StGB aufzuheben, wobei auf das übrige Beschwerdevorbringen zu diesem Anfechtungspunkt nicht mehr eingegangen zu werden brauchte. Im übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde zu verwerfen. Mit seiner durch die Aufhebung des Urteils im Strafausspruch gegenstandslos gewordenen Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Anmerkung

E09468

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0110OS00047.86.0923.000

Dokumentnummer

JJT_19860923_OGH0002_0110OS00047_8600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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