TE OGH 1988/5/31 10ObS17/87

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Veröffentlicht am 31.05.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Raimund Kabelka (Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gottfried P***, Elektromonteur, 4240 Freistadt, Kalvarienbergstraße 19, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Feber 1987, GZ 13 Rs 1002/87-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Oberösterreich in Linz vom 3. November 1986, GZ 5 C 30/86-10 (nunmehr 14 Cgs 42/87 des Landesgerichtes Linz), bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes und das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Oberösterreich in Linz werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Linz als Arbeits- und Sozialgericht verwiesen.

Text

Begründung:

Der beklagte Versicherungsträger wies den Antrag des Klägers vom 4. Oktober 1985 auf Berufsunfähigkeitspension mit Bescheid vom 10. Jänner 1986 ab, weil Berufsunfähigkeit im Sinn des § 273 Abs 1 und Abs 3 lit d ASVG nicht vorliege.

In der dagegen am 26. Februar 1986 erhobenen Klage begehrte der Kläger eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. November 1985, weil er keiner geregelten Beschäftigung mehr nachgehen könne.

Der vom Erstgericht bestellte Sachverständige für Berufskunde und Arbeitspsychologie führte in der "Vorgeschichte" seines in der mündlichen Verhandlung einverständlich verlesenen schriftlichen Gutachtens zum Berufsverlauf des Klägers ab 1955 aus, dieser habe von 1955 bis 1958 eine Elektroinstallateurlehre zurückgelegt, die er mit Gesellenprüfung abgeschlossen habe. Seither sei er zunächst als Facharbeiter, seit November 1975 als Angestellter beschäftigt gewesen, ohne daß sich dadurch in seiner Tätigkeit etwas geändert habe. Der Kläger habe nach seinen eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen während der letzten 15 Jahre vor dem 1. November 1985 immer die gleiche Tätigkeit ausgeübt. Seine Haupttätigkeit, die den weitaus größten Teil umfaßt habe, sei das Wickeln von Motoren, und zwar von Kleinmotoren bis zu großen Motoren von 200 PS gewesen. Er habe stehend gearbeitet. Die Motoren seien auf einem Arbeitstisch gewickelt worden, auf den sie der Kläger selbst habe heben müssen. Größere Motoren, die bis zu 200 kg gewogen hätten, hätten von zwei Arbeitskräften gehoben werden müssen. Nebenbei habe der Kläger gelegentlich Motoren in Betrieben installiert oder inspiziert, welche Störungen vorlagen. In seinem Gutachten kam dieser Sachverständige zum Schluß, daß der zwar nicht umschulbare, wohl aber anzulernende, zu unterweisende und einzuordnende Kläger diese Tätigkeit nicht mehr ausüben könne. Das Motorenwickeln selbst überfordere zwar seine Leistungsfähigkeit nicht, wohl aber das dabei erforderliche Heben der Motorblöcke auf die Werkbank, weil dies eine fallweise schwere Tätigkeit darstelle. Im Protokoll über die mündliche Verhandlung ist beurkundet, daß die beklagte Partei die Vernehmung der Parteien beantragte (ohne daß ein Beweisthema angegeben wäre), und daß das Schiedsgericht (ua) von dieser Beweisaufnahme "wegen Unerheblichkeit" Abstand nahm. Das Schiedsgericht gab dem Klagebegehren statt (ohne nach § 391 Abs 2 und 5 ASVG eine vorläufige Zahlung anzuordnen und deren Betrag und eine diesbezügliche Erfüllungsfrist festzusetzen). Es stellte fest, daß der am 21. November 1927 geborene Kläger infolge seines seit der Antragstellung bestehenden, in absehbarer Zeit vermutlich im wesentlichen gleichbleibenden körperlichen und geistigen Zustandes noch leichte bis mittelschwere Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen ohne unübliche Arbeitspausen verrichten, aber über 15 kg schwere Lasten auch nicht mehr fallweise heben oder tragen kann. Arbeiten mit dauerndem oder überwiegendem Bücken bis zum Boden, häufiges Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, häufige Durchnässung und Erkältung und häufiges starkes Temperaturgefälle sind zu vermeiden. Hinsichtlich der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes bestehen keine Einschränkungen. Den Berufsverlauf und die vom Kläger in den letzten 15 Jahren ausgeübte Tätigkeit stellte das Erstgericht nach dem schon dargestellten berufskundlichen Gutachten fest, insbesondere, daß der Kläger auch große Motoren wickeln und dabei schwere Lasten heben und tragen mußte, was er nicht mehr kann.

Daraus zog das Erstgericht den rechtlichen Schluß, daß der Kläger, der das 55. Lebensjahr vollendet und ab Stichtag 180 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben habe und die während der letzten 15 Jahre (vor dem Stichtag) überwiegend ausgeübte Tätigkeit infolge seines Gesundheitszustandes nicht mehr verrichten könne, als erwerbsunfähig im Sinn des § 273 Abs 3 ASVG gelte. Warum das Schiedsgericht den Antrag der Beklagten auf Vernehmung der Parteien für unerheblich ansah, ist weder dem Protokoll über die mündliche Verhandlung noch den Entscheidungsgründen des Urteils zu entnehmen.

Die beklagte Partei bekämpfte dieses Urteil wegen

Mangelhaftigkeit des Verfahrens, die sie darin erblickte, daß das Schiedsgericht die konkrete Tätigkeit des Klägers nicht selbst genauestens erhoben, den Kläger weder zur mündlichen Verhandlung geladen, noch entgegen dem Beweisantrag der beklagten Partei als Partei vernommen habe, sondern seine Befragung der (außerhalb der mündlichen Verhandlung vorgenommenen) Befundaufnahme des Sachverständigen für Berufskunde überlassen habe. Dadurch sei eine erschöpfende Erörterung der tatsächlich ausgeführten Tätigkeit des Klägers verhindert worden. Die beklagte Partei beantragte daher, das erstgerichtliche Urteil zwecks neuerlicher Verhandlung und Entscheidung durch das Erstgericht aufzuheben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.

Die Befragung des Klägers über seine bisherige Tätigkeit habe zur Befundaufnahme des Sachverständigen für Berufskunde gehört. Eine darüber hinausgehende Vernehmung des Klägers als Partei sei entbehrlich gewesen, weil der vom Sachverständigen erhobene Befund vollständig und unbedenklich erscheine. Erachte das Schiedsgericht im Rahmen der ihm allein obliegenden, auf Grund der Beschränkung der Berufsgründe durch den § 400 Abs 2 ASVG unbekämpfbaren und unüberprüfbaren Beweiswürdigung den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt durch den aufgenommenen Sachverständigenbeweis für geklärt, dürfe es ohne Verstoß gegen Verfahrensvorschriften auch von der Vernehmung des Klägers als Partei Abstand nehmen. Die Berufungswerberin zeige nicht auf, welches konkrete maßgebliche Sachverhaltsmoment durch das berufskundliche Gutachten ungeklärt geblieben sei und weshalb es der nachträglichen Vernehmung des Klägers bedurft hätte. Sie mache auch nicht geltend, daß die Angaben des Klägers bei der Befundaufnahme des berufskundlichen Sachverständigen unrichtig seien. Der Sachverständige sei zur mündlichen Verhandlung geladen worden, doch hätten die Parteien von ihrem Fragerecht nicht Gebrauch gemacht. Eine Unvollständigkeit der Sachverhaltsdarstellung oder des Gutachtens oder dessen Unschlüssigkeit würden von der Berufung in bezug auf einen konkreten Umstand nicht geltend gemacht. In ihrer Revision wegen Mangelhaftigkeit des (Berufungs-)Verfahrens beantragt die beklagte Partei, das Urteil des Berufungsgerichts, allenfalls auch das des Erstgerichts zwecks neuerlicher Verhandlung und Entscheidung durch das Berufungsgericht, allenfalls die erste Instanz aufzuheben.

Der Kläger erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Nach § 255 Abs 4 bzw. § 273 Abs 3 ASVG in der seit 1. Jänner 1984 geltenden Fassung gilt der Versicherte auch als invalid (Pensionsversicherung der Arbeiter) bzw. berufsunfähig (Pensionsversicherung der Angestellten), wenn er

a)

das 55. Lebensjahr vollendet hat,

b)

am Stichtag 180 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben hat,

c)

in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat und

d)

infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit

(lit c) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu

erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Nach der Literatur (Albert, Judikatur des OLG Wien zum Invaliditätsbegriff gemäß § 255 Abs 4 ASVG idF der 35. ASVG-Novelle DRdA 1982, 335; Schmidt, Kommentar zur E OLG Wien 14. September 1982 33 R 180/82 ZAS 1983, 113; Müller, Kommentar zur E OLG Wien 4. Mai 1982 31 R 73/82 ZAS 1983, 194; Schrammel, Zur Problematik der Verweisung in der PV und UV ZAS 1984, 83; Teschner in Tomandl, SV-System 3. ErgLfg. 364; MGA ASVG 44. ErgLfg. 1316/1) und nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als bis 31. Dezember 1986 letzte Instanz in Leistungsstreitsachen (zB SSV 21/123, 22/18, 24/78) sind gleichartige Tätigkeiten iS des § 255 Abs 4 lit c und des § 273 Abs 3 lit c ASVG solche, die im wesentlichen ähnliche psychische und physische Anforderungen ua an die Handfertigkeit, Intelligenz, Kenntnisse für die überwiegend ausgeübte Tätigkeit, Umsicht, Verantwortungsbewußtsein, Körperhaltung, Durchhaltevermögen, Schwere der Arbeit und schließlich auch an die Konzentration stellen. Hingegen wurde als nicht maßgebend angesehen, ob der Versicherte nur beim selben Dienstgeber oder in der selben Branche beschäftigt war und wie diese Tätigkeit vom Dienstgeber bzw. Dienstnehmer bezeichnet wurde. Diese überwiegend ausgeübte Tätigkeit bildet nach der zitierten Literatur und Judikatur auch den Rahmen, innerhalb dessen der Versicherte verwiesen werden darf. Die überwiegend ausgeübte Tätigkeit dürfe nämlich nicht die Grundlage für ähnliche Verweisungstätigkeiten sein. Der erkennende Senat hält diese Auslegung der zitierten Gesetzesstellen für richtig, möchte aber folgendes betonen:

Die Gleichartigkeit der während des Beobachtungszeitraumes ausgeübten Tätigkeit wird nicht erst dann zu bejahen sein, wenn sie hinsichtlich aller oben genannten Parameter gegeben ist. Es kommt diesbezüglich vielmehr auf den Kernbereich der Tätigkeit, also auf jene Umstände an, die ihr Wesen ausmachen und sie von anderen Tätigkeiten unterscheiden. Übereinstimmungen im Randbereich werden daher ebensowenig zur Bejahung der Gleichartigkeit führen, wie unterschiedliche Anforderungen im letztgenannten Bereich der Annahme der Gleichartigkeit entgegenstehen können. Je nach Bedeutung für die Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit wird die Beantwortung der Gleichartigkeit einmal mehr von dem einen, ein anderes Mal von einem anderen der oben zitierten Parameter und schließlich von ihrem Zusammenwirken im Einzelfall abhängig sein, so daß die isolierte Betrachtung nur eines Tätigkeitskriteriums regelmäßig nicht ausreichen wird (so auch Müller aaO).

Diese Überlegungen müssen allerdings auch für die Prüfung gelten, ob der Versicherte die im Beobachtungszeitraum der lit c der zitierten Gesetzesstellen überwiegend ausgeübte Tätigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes im Sinne der lit d dieser Gesetzesstellen weiterhin ausüben kann, ohne daß dies eine Verweisung auf eine bisher nicht ausgeübte Tätigkeit, also eine diesen Gesetzesstellen widersprechende Verweisung auf der überwiegend ausgeübten Tätigkeit ähnliche Erwerbstätigkeiten bedeuten würde. Die Unfähigkeit, eine mit oder neben der Haupttätigkeit verrichtete Nebentätigkeit auszuüben, wird in diesem Zusammenhang nur dann zur Invalidität oder Berufsunfähigkeit führen, wenn die Nebentätigkeit mit der Haupttätigkeit typischerweise so verbunden ist, daß beide nur gemeinsam auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind (Müller aaO 195).

Es bedarf daher genauer Feststellungen ua darüber, welche konkreten Arbeitstätigkeiten der Kläger in den Beitragsmonaten nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem 1. November 1985 ausgeübt hat.

Erst dann kann gründlich beurteilt werden, ob er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat, bejahendenfalls, ob er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes noch imstande ist, durch diese gleiche oder gleichartige Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein gesunder Versicherter regelmäßig dadurch zu erzielen pflegt.

Daß diese genauen Feststellungen vom Erstgericht nicht getroffen wurden, wurde von der Beklagten schon in der Berufung geltend gemacht und damit auch der Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache ausgeführt, wobei es nach § 84 Abs 2 ZPO unerheblich ist, daß dieser Berufungsgrund nicht richtig benannt wurde (Fasching, Zivilprozeßrecht Rz 1774). Aus dem selben Grund ist davon auszugehen, daß die Revision ebenfalls mit Recht auch deshalb begehrt wird, weil das Urteil des Berufungsgerichtes auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache beruht (§ 503 Abs 1 Z 4 ZPO).

Nach § 510 Abs 1 ZPO waren die Urteile des Berufungsgerichtes und des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Oberösterreich in Linz aufzuheben und die Sozialrechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Linz als Arbeits- und Sozialgericht zu verweisen.

Das nunmehrige Gericht erster Instanz wird die Sozialrechtssache nach dem ASGG zu verhandeln und zu entscheiden und nach dessen § 87 Abs 1 sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen haben.

Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß der Sachverständige im Zuge seiner Befundaufnahme die Parteien und allenfalls Dritte zwar über für sein Gutachten wesentliche Umstände befragen darf, daß eine solche Befragung aber keine nur dem Gericht vorbehaltene Parteien- oder Zeugenvernehmung darstellt, für welche Beweisaufnahmen besondere Vorschriften bestehen, die insbesondere durch die Verfahrensgrundsätze der Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und freien Beweiswürdigung ein richtiges Beweisergebnis gewährleisten sollen. Dabei wird es sich oft als zweckmäßig erweisen, den Sachverständigen solchen gerichtlichen Vernehmungen beizuziehen, damit er aus seiner Sachkunde ergänzende Fragen anregen und dadurch zu einer richtigen und vollständigen Klärung des Beweisthemas beitragen kann.

Anmerkung

E14284

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00017.87.0531.000

Dokumentnummer

JJT_19880531_OGH0002_010OBS00017_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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