TE OGH 1988/6/14 10ObS23/88

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Veröffentlicht am 14.06.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Walter Darmstädter (AN) und Dr. Rudolf Pokorny (AG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna S***, Pensionistin, 1150 Wien, Schwendergasse 21-23/II/4/5, vertreten durch Dr. Hannes Füreder, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U*** (Landesstelle Wien), 1200 Wien, Adalbert

Stifter-Straße 65, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Hinterbliebenenleistungen infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. November 1987, GZ 32 Rs 190/87-24, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9. März 1987, GZ 2 a Cgs 189/86-15, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung:

Am 6. September 1984 zeigte das Pulmologische Zentrum der Stadt Wien der beklagten Partei nach § 363 Abs. 2 ASVG an, daß es bei dem dort vom 4. August bis 7. Oktober 1983 und seit 30. August 1984 behandelten Franz S***, geboren am 28. Jänner 1911, (dem Ehegatten der Klägerin), Krankheitserscheinungen festgestellt habe, die den begründeten Verdacht auf ein "Mesotheliom der Pleura re" (LfdNr. 27 b der Liste der Berufskrankheiten, Anlage 1 zu § 177 ASVG) rechtfertigten. Der Patient sei von 1947 bis 1971 als Elektrotechniker "weichen" Asbestplatten ausgesetzt gewesen. Franz S*** ist am 21. Oktober 1984 im genannten Zentrum gestorben. Mit seiner Witwe, der Klägerin zugestelltem Bescheid vom 23. Juli 1986 lehnte die beklagte Partei die Gewährung von Leistungen nach Franz S*** gemäß den §§ 214, 215 und 218 ASVG ab, weil keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit vorliege und der Tod die Folge anlagebedingter Leiden sei.

Die dagegen rechtzeitig erhobene Klage stützt sich darauf, daß Franz S*** während seiner 16jährigen Tätigkeit als Elektromonteur bei der E*** AG viel mit Asbest zu tun gehabt habe, und ist auf die Anerkennung des Todes als Folge einer Berufskrankheit und auf die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen gerichtet.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht sprach aus, daß der am 21. Oktober 1984 eingetretene Tod Franz S***s Folge einer Berufskrankheit sei, und erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin "die Hinterbliebenenleistungen gemäß §§ 214 und 215 ASVG in der gesetzlichen Höhe zu gewähren, dies mit Bescheid binnen 14 Tagen". Aufgrund des Aktes der beklagten Partei, der Zeugenaussage eines Arbeitskollegen des Verstorbenen und des Gutachtens eines Sachverständigen für Lungenheilkunde stellte es im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Franz S*** war vom 3. April 1956 bis 31. August 1971 bei der E***-U*** AG beschäftigt, und zwar ein Jahr als Wickler, eineinhalb Jahre als Anreisser, zweieinhalb Jahre als Statorwickler und zehn Jahre als Prüffeldmonteur. Dabei wurde er auch zum Spulenwickeln eingesetzt, wobei mit Asbest umwickelte Drähte derart zum Verlöten vorbereitet werden mußten, daß der die Drähte umhüllende Asbest solange mit Bürste und Schaber entfernt wurde, bis der Draht blank war. Dies mußte Franz S*** mehrmals am Tag ohne Atemschutz machen. Nach Beendigung dieser Arbeiten wurde der Arbeitsplatz mit Preßluft vom Asbeststaub gereinigt. Geräte zum Absaugen desselben waren nicht vorhanden. Während der Arbeit liefen die Prüffeldmaschinen, wodurch Zugluft entstand, die den Staub aufwirbelte. Es fielen große Mengen von Asbeststaub am Arbeitsplatz an.

1983 erkrankte Franz S*** an einem malignen Pleuramesotheliom, das am 21. Oktober 1984 zum Tode führte.

Die Einwirkung von Asbeststaubfasern ist generell geeignet, eine solche Erkrankung hervorzurufen, wenn sie eine gewisse Konzentration erreicht. Zur Auslösung eines Mesothelioms können bereits geringere Mengen von Asbest führen als zur Auslösung einer Lungenkrebserkrankung. Statistische Untersuchungen über die Asbestmengen, die zum Mesotheliom führen können, gibt es nicht. Unter den Umständen, unter denen Franz S*** gearbeitet hat, ist es vom medizinischen Standpunkt aus wahrscheinlich, daß das Mesotheliom durch Asbeststaub entstanden ist. Die bei derselben Firma beschäftigt gewesene Wicklerin Margarete L*** ist am 23. Mai 1974 auch an einem solchen malignen Pleuramesotheliom gestorben. Zur Rechtsfrage führte das Erstgericht im wesentlichen aus, daß der Klägerin der Beweis der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Berufstätigkeit ihres Ehegatten und seiner zum Tod führenden Erkrankung gelungen sei. Die beklagte Partei hätte daher mit Rücksicht auf den besonders stark ausgeprägten Schutznormcharakter des Sozialversicherungsrechtes den atypischen Verlauf beweisen müssen, was ihr jedoch nicht gelungen sei. Es sei daher davon auszugehen, daß der Tod Franz S***s die Folge einer Berufskrankheit im Sinne der Nr. 27 a des Berufskrankheitenkataloges zu § 177 ASVG sei.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge, hob das angefochtene Urteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

Es erachtete die Beweislastverteilung des Erstgerichtes als unrichtig, ohne zu negieren, daß in besonders gelagerten Einzelfällen statt des strengen Kausalitätsbeweises bei einer typischen Gefährdungslage (nach Art eines Prima-facie-Beweises) der Beweis eines sehr hohen Grades der Wahrscheinlichkeit ausreichen könnte. Das Erstgericht werde daher im fortzusetzenden Verfahren Feststellungen zur Kausalität des Todes des Versicherten zu treffen bzw. den Versuch zu unternehmen haben, die Wahrscheinlichkeit einer Kausalität im Vergleich zu einem anlagebedingten Leiden zu bewerten. Dabei würden auch Feststellungen über das Ausmaß, in dem der Versicherte Asbesteinwirkungen ausgesetzt gewesen sei, zu treffen sein. Zur Prüfung der Wahrscheinlichkeit werde eine Auseinandersetzung mit dem Ergebnis des Gutachtens geboten sein, wonach das Mesotheliom anlagebedingt gewesen sei.

Gegen diesen Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, den angefochtenen Beschluß "aufzuheben und in der Sache selbst im Sinne des Ersturteils (zu)erkennen bzw. dem Berufungsgericht die Sachentscheidung aufzutragen".

Die beklagte Partei erstattete keine Rekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Der nach § 519 Abs. 1 Z 3 ZPO zulässige Rekurs - der Rechtskraftvorbehalt wäre nach § 45 Abs. 5 ASGG auch ohne die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 dieses Gesetzes zulässig gewesen - ist nicht berechtigt.

Die Rekurswerberin meint, es handle sich nicht um eine Beweislastumkehr, sondern nur um eine Beweislastverschiebung. Der Versicherungsträger müsse daher nicht die Nichtberechtigung des Anspruches beweisen. Es sei nur, wenn die Beweislage nicht eindeutig geklärt werden könne, zugunsten des Versicherten zu entscheiden. Da das Erstgericht bereits festgestellt habe, daß die Entstehung des Mesothelioms durch Asbeststaub vom medizinischen Standpunkt aus wahrscheinlich sei, wäre die Streitsache im klagestattgebenden Sinne spruchreif.

Das Mesotheliom, das zum Tod des Ehegatten der Rekurswerberin führte, gilt nicht schon dann als Berufskrankheit, wenn der Versicherte bei der Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung Asbesteinwirkungen ausgesetzt war, sondern erst dann, wenn diese bösartigen Neubildungen der Lunge durch diese Asbesteinwirkungen verursacht wurden (§ 177 Abs. 1 ASVG iVm LfdNr. 27 lit. b der Berufskrankheitenliste Anlage 1 zum ASVG; die vom Erstgericht zitierte lit. a dieser Nummer betrifft die Asbeststaublungenerkrankung-Asbestose).

Zur Neufassung der LfdNr. 27 lit. b durch Art. V Z 50 der

32. ASVGNov. BGBl. 1976/704 wurde in der Regierungsvorlage (181 BlgNR 14.GP 84 f) ausgeführt:

"Nach den arbeitsmedizinischen Erkenntnissen der letzten Jahre werden bösartige Neubildungen der Lunge zufolge Asbeststaubeinwirkungen häufig auch dann beobachtet, wenn Asbeststaublungenveränderungen (Asbestose) fehlen. Die Enstehung bösartiger Neubildungen in der Lunge nach entsprechender Asbestexposition setzt nicht eine röntgenologisch nachweisbare Veränderung in der Lunge iS der für die Asbestose charakteristischen bindegewebigen Umgestaltung des Lungengewebes voraus; ein direkter kausaler Zusammenhang der Krebsentwicklung mit einer Asbeststaubeinwirkung gilt heute als wissenschaftlich gesichert. Darüber hinaus werden ferner Pleura-Mesotheliome, worunter bösartige Neubildungen verstanden werden, die vom Lungen-, Rippen- oder Zwerchfell ihren Ausgang nehmen, in zunehmendem Maß als Folge einer Asbeststaubeinwirkung beobachtet. Auch in solchen Fällen sind in der Lunge selbst zumeist keine Veränderungen entsprechend einer Asbestose nachweisbar. Diese Neubildungen stellen ebenfalls isolierte Reaktionen auf die Asbesteinwirkung dar ..."

Die Klägerin hat also nach den auch in Sozialrechtssachen, die keine Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs. 1 Z 2 und Z 5 ASGG sind (§ 87 Abs. 4 leg.cit.), geltenden allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung (3. November 1987 10 Ob S 73/87 SSV-NF 1/48) zu beweisen, daß das Mesotheliom der Lunge durch die Asbesteinwirkungen bei der Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung ihres verstorbenen Ehemannes verursacht wurde.

An diesen Kausalitätsbeweis dürfen allerdings keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden, weshalb - ähnlich wie für die Haftungsbegründung in Schadenersatzfällen - der Beweis eines (sehr) hohen Wahrscheinlichkeitsgrades genügt (vgl. Koziol, österreichisches Haftpflichtrecht2 I 327; Reischauer in Rummel, ABGB Rz 3 zu § 1295; Harrer in Schwimann, ABGB Rz 30 zu § 1295; SZ 36/45; RZ 1983/14; 11. November 1987 3 Ob 623/86 ua). In diesem Sinn reicht es für den sogenannten Anscheinsbeweis aus, daß der Beweisbelastete bestimmte Tatsachen beweist, aus denen sich nach der Lebenserfahrung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auf andere Tatsachen schließen läßt (Reischauer aaO Rz 4 zu § 1296). Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete des Anscheinsbeweises liegt dort, wo formelhafte, typische Kausalabläufe bestehen, also beim Beweis des Kausalzusammenhanges. Um Härten eines unzumutbaren Beweisnotstandes für den Versicherten zu vermeiden, wie sie besonders bei Ansprüchen aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten auftreten, muß die Regel des Anscheinsbeweises ... umso mehr auch hier (modifiziert) angewendet werden (Fasching in Tomandl, SV-System 3. ErgLfg. 728/15). Die Entkräftung des Anscheinsbeweises, der nur eine auflösend bedingte Verschiebung des Beweisthemas von der tatbestandsmäßig geforderten Tatsache auf eine leichter erweisliche, mit ihr in einem typischen Erfahrungszusammenhang stehende Tatsache ist, geschieht durch den Beweis, daß der typische formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern daß die ernstliche Möglichkeit eines atypischen Ablaufs besteht. Hat der Gegner diese Möglichkeit dargetan, dann fällt die Beweisthemenverschiebung weg und der Beweisführer muß die gesetzlich geforderten Tatbestandsmerkmale streng beweisen (Fasching, Lehrbuch Rz 894 f; SZ 50/136; ZVR 1984/246; 11. November 1987 3 Ob 623/86 ua). Ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist, ob also die Voraussetzungen dafür vorliegen, daß anstelle eines vom Gesetz geforderten Tatbestandsmerkmales (zunächst) ein anderes bewiesen werden darf, kann als Frage der rechtlichen Beurteilung auch vom Obersten Gerichtshof geprüft werden. Ob der Anscheinsbeweis erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Beweiswürdigungsfrage (Fasching Komm. III 236 f; ders. ZPR Rz 897; Reischauer aaO Rz 6 zu § 1296; JBl. 1972, 426; 11. November 1987 3 Ob 623/86 ua).

Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht daraus, daß Franz S*** während eines Teiles seiner die Versicherung begründenden Beschäftigung Asbeststaubeinwirkungen ausgesetzt war, daß die Einwirkungen von Asbeststaubfasern generell geeignet sind, ein Pleuramesotheliom hervorzurufen und daß eine Arbeitskollegin im Mai 1974 auch an einem solchen Pleuramesotheliom gestorben ist, auf einen Kausalzusammenhang zwischen der Asbeststaubeinwirkung und der erwähnten Krebserkrankung geschlossen. Es hat daher den Anscheinsbeweis als hergestellt und durch die beklagte Partei nicht entkräftet erachtet.

Das Berufungsgericht konnte sich dieser Beweiswürdigung noch nicht anschließen, weil es für die Herstellung bzw. Entkräftung des Anscheinsbeweises noch genauere Feststellungen für erforderlich hielt.

Dabei handelt es sich - wie schon erwähnt - nicht um eine Frage der rechtlichen Beurteilung, sondern um eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Frage der Beweiswürdigung. Dem Rekurs war daher nicht Folge zu geben.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht die Klägerin zu einem hinreichend bestimmten Klagebegehren anzuleiten, bei der neuerlichen Urteilsfällung allenfalls § 89 Abs. 2 ASGG zu beachten haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG.

Anmerkung

E14764

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:010OBS00023.88.0614.000

Dokumentnummer

JJT_19880614_OGH0002_010OBS00023_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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