TE OGH 1988/8/18 12Os92/88

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Veröffentlicht am 18.08.1988
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 18.August 1988 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Melnizky als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Walenta, Dr. Hörburger und Dr. Felzmann als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Manquet als Schriftführer in der Strafsache gegen Johann Ernst L*** wegen des Vergehens nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB über die von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes gegen die Vorgangsweise des Landesgerichtes Klagenfurt als Berufungsgericht, AZ 4 Bl 251/87, von einer neuerlichen Vernehmung des dem erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Sachverständigen Ing. Martin R*** in der mündlichen Berufungsverhandlung trotz angeordneter Beweiswiederholung Abstand zu nehmen, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Tschulik, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Johann Ernst L*** wegen § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB, AZ 4 U 1297/86 des Bezirksgerichtes Villach verletzt die Vorgangsweise des Landesgerichtes Klagenfurt, von einer neuerlichen Vernehmung des dem erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Sachverständigen Ing. Martin R*** in der mündlichen Berufungsverhandlung trotz angeordneter Beweiswiederholung Abstand zu nehmen, das Gesetz in der Bestimmung des § 473 Abs. 2 StPO. Das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 21.September 1987, AZ 4 Bl 251/87, mit welchem der Berufung der Staatsanwaltschaft Klagenfurt gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Villach vom 3. Juni 1987, GZ 4 U 1297/86-13, Folge gegeben, das freisprechende Urteil aufgehoben und der Angeklagte des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, sowie alle darauf beruhenden Beschlüsse und Verfügungen werden aufgehoben, und es wird dem Landesgericht Klagenfurt aufgetragen, über die Berufung neuerlich zu verhandeln und zu entscheiden.

Text

Gründe:

I./ Aus dem Akt 4 U 1297/86 des Bezirksgerichtes Villach ergibt sich folgender Sachverhalt:

Auf Grund einer Anzeige des Gendarmeriepostenkommandos Bad Bleiberg beantragte der Bezirksanwalt beim Bezirksgericht Villach am 9. Dezember 1986 die Bestrafung des am 12.März 1936 geborenen technischen Angestellten Johann Ernst L*** wegen Vergehens nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB. Dem Beschuldigten lag zur Last, am 5.Juli 1986 in Bad Bleiberg als Lenker eines PKWs durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr gebotenen Vorsicht und Aufmerksamkeit, insbesondere durch Einhalten einer für die Sicht-, Straßen- und Verkehrsverhältnisse überhöhten Geschwindigkeit fahrlässig einen Verkehrsunfall verschuldet zu haben, bei welchem Klaus E*** so schwere Verletzungen des rechten Beines erlitt, daß dessen Amputation unterhalb des Knies nötig wurde; zur Kollision war es gekommen als Klaus E*** mit seinem Moped vor dem PKW des L*** nach links in eine Gemeindestraße einbiegen wollte. Das Bezirksgericht Villach erließ am 11.Dezember 1986 eine Strafverfügung, mit der Johann Ernst L*** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen a 250 S, im Fall der Uneinbringlichkeit zu 20 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt wurde. Gegen diese Strafverfügung erhob die Staatsanwaltschaft jedoch Einspruch. Nach Durchführung einer Hauptverhandlung, bei der ein Ortsaugenschein vorgenommen wurde und Johann Ernst L*** als Beschuldigter, Georg S***, Herbert S*** und Klaus E*** als Zeugen, sowie Ing. Martin R*** als Sachverständiger vernommen wurden, fällte das Bezirksgericht mit Urteil vom 3.Juni 1987, GZ 4 U 1297/86-13, einen Freispruch. Dieser wurde von der Staatsanwaltschaft mit Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld angefochten.

In der am Unfallsort durchgeführten mündlichen Berufungsverhandlung wurde "Beweiswiederholung durch Vernehmung der Zeugen Georg S***, Herbert S*** und Klaus E***, sowie Beweisergänzung durch Einvernahme des Sachverständigen Ing. Ferdinand S***" angeordnet. Ein Antrag des Verteidigers, im Hinblick darauf, daß die Sachverständigengutachten des Ing. Ferdinand S*** und des Ing. Martin R*** in wesentlichen Punkten im Widerspruch stünden, das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten mit dem im erstinstanzlichen Verfahren vernommenen Sachverständigen zu erörtern und einen weiteren Sachverständigen aus dem Verkehrswesen beizuziehen, wurde vom Berufungsgericht abgewiesen, weil - laut der im Urteil nachgeholten Begründung - der Sachverständige Ing. Ferdinand S*** alle an ihn gerichteten Fragen schlüssig und widerspruchsfrei beantwortet und auch der Sachverständige Ing. Martin R*** in seinem schriftlichen Gutachten eine die durch Verkehrszeichen vorgeschriebene zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h wesentlich überschreitende Geschwindigkeit des Angeklagten von etwa 80 km/h errechnet habe (vgl. S 123 des Bezugsaktes). Mit Entscheidung des Landesgerichtes Klagenfurt vom 21.September 1987, AZ 4 Bl 251/87, wurde sodann der Berufung der Staatanwaltschaft Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und der Angeklagte Johann Ernst L*** im Sinne des Strafantrages des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und Abs. 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen a 300 S, im Falle der Uneinbringlichkeit zu 30 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, sowie zur Bezahlung eines Teilschmerzengeldbetrages von 1.000 S an den Privatbeteiligten verurteilt.

Rechtliche Beurteilung

II./ Das Urteil des Berufungsgerichtes steht mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Nach § 473 Abs. 2 StPO sind im Verfahren über Berufungen gegen bezirksgerichtliche Urteile Zeugen und Sachverständige, die bereits in der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht vernommen wurden, nochmals abzuhören, wenn der Gerichtshof gegen die Richtigkeit der auf ihre Aussagen gegründeten, im Urteil erster Instanz enthaltenen Feststellungen Bedenken hegt oder die Vernehmung neuer Zeugen oder Sachverständigen über dieselben Tatsachen notwendig findet. Ein Berufungsgericht verstößt daher gegen die zwingende Vorschrift des § 473 Abs. 2 StPO, wenn es nicht alle Zeugen und Sachverständigen, die in der Hauptverhandlung in erster Instanz gehört worden waren, noch einmal vernimmt, obwohl es Bedenken gegen die Feststellungen des Erstgerichtes hat oder die Vernehmung neuer Zeugen und Sachverständigen für erforderlich hält (vgl. Mayerhofer-Rieder, StPO2, ENr. 9, 10 und 14 zu § 474). Demgemäß war das Landesgericht Klagenfurt nicht berechtigt, sich über das vom Bezirksgericht Villach als Feststellungsgrundlage herangezogene Gutachten des im Verfahren erster Instanz vernommenen kraftfahrtechnischen Sachverständigen Ing. Martin R*** hinwegzusetzen und von dessen neuerlicher Vernehmung in der mündlichen Berufungsverhandlung Abstand zu nehmen. Diese Vorgangsweise war nicht zuletzt deshalb unstatthaft, weil das Erstgericht seinen Freispruch ua damit begründete, daß vom Sachverständigen Ing. Martin R***, der unter Zugrundelegung einer mittleren Bremsverzögerung von 3 bis 3,5 m pro sec2 eine Ausgangsgeschwindigkeit von 70 bis 80 km/h errechnet hatte, die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (70 km/h) nicht habe ausgeschlossen werden können (vgl. S 78, 86 des Bezugsaktes), wogegen nach dem Gutachten des Sachverständigen Ing. Ferdinand S***, dem das Berufungsgericht gefolgt ist, die Ausgangsgeschwindigkeit des Angeklagten unter Annahme einer mittleren Bremsverzögerung von 4 m pro sec2 mindestens 91,2 km/h betragen hat. Bei einem solchen Abweichen zweier Sachverständiger in wesentlichen Punkten ihrer Gutachten wäre das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, sich daraus ergebende Bedenken durch nochmalige Vernehmung der Sachverständigen zu beseitigen (§§ 125, 126 StPO).

Durch das Unterbleiben der Vernehmung des Sachverständigen Ing. Martin R*** in der mündlichen Berufungsverhandlung wurde sohin das Gesetz zum Nachteil des Angeklagten verletzt.

Anmerkung

E15103

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:0120OS00092.88.0818.000

Dokumentnummer

JJT_19880818_OGH0002_0120OS00092_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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