TE OGH 1988/9/13 4Ob578/88

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Veröffentlicht am 13.09.1988
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof. Dr. Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith, Dr. Angst, Dr. Kodek und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am 7. Juli 1980 geborenen mj. Thomas S***, Schüler, Sieghartskirchen, Wassergasse 5, infolge Revisionsrekurses der Mutter Renate S***, Hausfrau, ebendort, vertreten durch Dr. Eduard Pranz, Dr. Oswin Lukesch und Dr. Anton Hintermeier, Rechtsanwälte in St. Pölten, gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten als Rekursgerichtes vom 16. März 1988, GZ R 147/88-45, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Neulengbach vom 15. Jänner 1988, GZ P 55/85-40, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Eltern des am 7. Juli 1980 geborenen Thomas leben seit etwa drei Jahren nicht bloß vorübergehend (§ 177 Abs 1 ABGB) getrennt. Der mj. Thomas blieb nach dem Ausziehen des Vaters aus der Ehewohnung bei der Mutter. Eine Vereinbarung iS des § 177 ABGB haben die Eltern nicht getroffen.

Am 4. November 1986 stellte der Vater den Antrag, "ihm die Pflege und Erziehung des mj. Thomas zuzusprechen", weil die Mutter für das Kind nur unzulänglich sorge. Die Mutter bestritt dies und beantragte, den Antrag des Vaters abzuweisen.

Das Erstgericht sprach aus, daß alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj. Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten hinsichtlich des mj. Thomas dem Vater allein zustehen.

Es nahm irrtümlich an, daß die Eltern bereits geschieden seien, und stellte fest, daß die Mutter mit dem Kind, ihrer Cousine Ingrid T*** und deren Bruder Leopold T*** (zunächst) in Neulengbach, Ulmenhofstraße 151, gewohnt hatte. Dort kam es mehrmals zum Einschreiten der Gendarmerie, weil es in der Wohnung der Mutter oft sehr laut zuging und sie Besuche von verschiedenen Männern hatte. Seit Oktober 1986 wohnte die Mutter mit dem mj. Thomas und den Geschwistern T*** in Neulengbach, Hauptstraße 10. Bei Hausbesuchen durch die zuständige Sozialarbeiterin wurde die Mutter häufig im Bett liegend oder in Nachtbekleidung angetroffen. Auch dort gab es Beschwerden (von Nachbarn), weil die Mutter und ihre Cousine in der Nacht nach Hause gehende Männer einluden, zu ihnen auf einen Kaffee zu kommen, und sie dann in die Wohnung hineinließen; die Gendarmerie vermochte allerdings den Verdacht der Geheimprostitution der beiden Frauen nicht zu erhärten. Der mj. Thomas kam einmal zum Vater und berichtete ihm, daß er nicht in die von der Mutter versperrte Wohnung hineinkönne. Er war unbeaufsichtigt und machte einen ungepflegten Eindruck. Der Vater ist berufstätig und wohnt unmittelbar neben den väterlichen Großeltern in einem neuen Eigenheim in Neulengbach, Weiding 1. Die häuslichen Verhältnisse sind nett und geordnet, das Zusammenleben mit den väterlichen Großeltern ist problemlos. Der Kontakt des Vaters und der väterlichen Großeltern zum mj. Thomas ist gut. Die Großeltern sind bereit und geeignet, den mj. Thomas während der Berufstätigkeit des Vaters zu versorgen und zu betreuen. Auf Grund dieser Feststellungen war das Erstgericht der Ansicht, daß die (damalige) Umgebung der Kindesmutter eine gedeihliche Entwicklung des mj. Thomas in geistiger, seelischer und körperlicher Hinsicht nicht erwarten lasse. Das Wohl des Kindes spreche daher für die Zuteilung der Elternrechte an den Vater.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluß auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht mit dem Auftrag zurück, Feststellungen darüber zu treffen, ob die Ehe der Eltern geschieden sei. Sei dies nicht der Fall, dann könne auch auf Entziehung einzelner in § 144 ABGB genannter Elternrechte erkannt werden (§ 176 ABGB). Auch die Mitbewohner der Kindesmutter seien als Auskunftspersonen zu vernehmen; allenfalls sei ein kinderpsychologisches Gutachten einzuholen.

Das Erstgericht kam diesen Aufträgen nach und sprach sodann auch im zweiten Rechtsgang aus, daß alle Elternrechte dem Vater zustehen. Es stellte fest, daß die Eltern des mj. Thomas in aufrechter Ehe verheiratet sind und daß keine Vereinbarung nach § 177 Abs 1 ABGB besteht. Die Mutter ist jetzt zu ihrem Lebensgefährten Johann S*** nach Sieghartskirchen übersiedelt; dort besucht der mj. Thomas jetzt die Volksschule. Auf Grund des eingeholten fachpsychologischen Gutachtens nahm das Erstgericht als erwiesen an, daß der mj. Thomas ein grenzbegabtes, sozial geschädigtes, leicht manipulierbares und in seiner Entwicklung gefährdetes Kind und daher auf besondere Förderung und Sicherung angewiesen ist. Die Mutter kann dem Kind in dieser Hinsicht wenig bieten. Sie hatte bisher große Schwierigkeiten, ihr eigenes Leben zu gestalten und zu bewältigen; sie verkennt die damit zusammenhängenden Probleme bis zum heutigen Tag. Im Vergleich dazu bietet die Familie des Vaters, über lange Zeit gesehen, wesentlich günstigere Erziehungsaussichten. Thomas kann zu seinem Vater und dessen nunmehriger Lebensgefährtin sowie zu seiner Stiefschwester (Tochter der Lebensgefährtin aus erster Ehe) eine positive Beziehung unterhalten. Ob Thomas eine normale Schullaufbahn absolvieren können wird, wird vom Erkennen und von der Anwendung der richtigen Förderungsmittel abhängen. Dafür bietet die väterliche Familie größere Gewehr als die mütterliche. Für die Unterbringung des Kindes beim Vater spreche daher wesentlich mehr als für die Unterbringung bei der Mutter. Es sei zwar problematisch, daß der mj. Thomas innerhalb eines Jahres zum dritten Mal einen Wechsel in der Erziehung durchmachen müsse (- ab 14. Mai 1987 war er vorübergehend beim Vater -); trotzdem sollte langfristig geplant und der Unterbringungswechsel durchgesetzt werden.

Auf Grund dieser Feststellungen und Gutachtensergebnisse war das Erstgericht der Ansicht, daß die Unterbringung des Kindes beim Vater dessen Wohl besser entspreche.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Daß sich die Mutter aus der bisherigen ungünstigen Umgebung gelöst und ihre Wohnverhältnisse geordnet habe, sei vom Erstgericht beim Vergleich der Pflegeverhältnisse bei beiden Elternteile ohnehin berücksichtigt worden. Da sich das Kind im vergangenen Jahr an drei verschiedenen Orten aufgehalten habe und auch mehrere Monate beim Vater gewesen sei, könne noch nicht von einer konsolidierten Situation und einer eingelebten Regelung gesprochen werden. Der derzeitige Aufenthalt des Kindes bei der Mutter schließe eine Zuteilung der Elternrechte an den Vater nicht aus, zumal dieser bereits auf eine gewisse Alleinerziehungstätigkeit zurückblicken könne. Selbst eine Festigung der Lage der Mutter könne an der Entscheidung nichts ändern, weil das Kind beim Vater eine wesentliche Verbesserung seiner Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten zu erwarten habe. Bei Buben im Alter von 10 bis 13 Jahren erlange der Vater als Hauptbezugsperson für ihre weitere Entwicklung im Sinne einer Eingliederung und für die soziale Ordnung entscheidende Bedeutung. Unter diesem Aspekt scheine die Zuteilung des Kindes an den Vater langfristig günstiger zu sein als eine Belassung bei der Mutter. Im väterlichen Bereich seien beide erwachsene Bezugspersonen des Kindes positiv zu beurteilen, während die Mutter "beträchtliche Defizite aufweise".

Die Mutter erhebt gegen den Beschluß des Rekursgerichtes Revisionsrekurs wegen offenbarer Gesetzwidrigkeit und Nichtigkeit. Sie beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß ihr die Elternrechte zugesprochen werden; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist unzulässig.

Die Revisionswerberin macht als offenbare Gesetzwidrigkeit geltend, daß nach dreijährigem Aufenthalt des Kinder bei der Mutter ein Wechsel in den Erziehungsverhältnissen und eine Übertragung der Elternrechte an den Vater "nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen" nur in Ausnahmefällen erfolgen dürfe. Die Verhältnisse seien auch beim Vater nicht günstig. Bei aufrechter Ehe dürfe über die endgültige Zuteilung der Elternrechte nicht entschieden werden. In jedem Fall hätte aber das Kind nur unter entsprechenden Auflagen dem Vater zugewiesen werden dürfen.

Mit diesen Argumenten führt die Revisionsrekurswerberin den Rechtsmittelgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit - der nach ständiger Rechtsprechung nur vorliegt, wenn ein Fall im Gesetz ausdrücklich und so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann, und trotzdem eine damit im Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wurde - nicht gesetzmäßig aus. Welchem Elternteil die in § 144 ABGB aufgezählten Elternrechte nach Scheidung oder nicht nur vorübergehender Trennung der Ehe allein zustehen sollen, hat das Gericht gemäß § 177 Abs 2 ABGB ausschließlich unter Beachtung des Wohles des Kindes nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden. Diese Ermessensentscheidung ist nur dann offenbar gesetzwidrig, wenn sie ganz willkürlich oder mißbräuchlich ist oder gegen Grundprinzipien des Kindeswohls verstößt. Im Rahmen der Ausübung dieses Ermessens hat zwar der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen, daß der mütterlichen Erziehung, vor allem bei Kleinkindern, bei Gleichwertigkeit der Verhältnisse bei beiden Elternteilen der Vorzug zu geben ist; dieser Leitsatz ist aber im Gesetz selbst nicht verankert, sondern nur ein regelmäßig zutreffender Erfahrungssatz zur Wahrung des Kindeswohls. Ein Verstoß gegen Grundprinzipien des Kindeswohls liegt schon deshalb nicht vor, weil die Vorinstanzen keine Gleichwertigkeit der Verhältnisse bei den Elternteilen angenommen haben, sondern nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände, insbesondere nach Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens, zu dem Ergebnis gelangt sind, daß für die Unterbringung des Kindes beim Vater wesentlich mehr spricht als für eine Pflege und Erziehung durch die Mutter, mögen sich auch deren Verhältnisse - nach den Feststellungen des Erstgerichtes im ersten Rechtsgang war das Wohl des Kindes durch die mütterliche Erziehung beträchtlich gefährdet - gefestigt und gebessert haben.

Das Gesetz stellt in § 177 Abs 1 und 2 ABGB die Scheidung (Aufhebung, Nichtigerklärung) der Ehe und die nicht bloß vorübergehende Trennung der Eltern als Anlaß für die Entscheidung darüber, welchem Elternteil die Rechte und Pflichten nach § 144 ABGB allein zustehen sollen, gleich; es differenziert lediglich dahin, daß im Fall nicht bloß vorübergehender Trennung der Eltern nur auf Antrag eines Elternteiles zu entscheiden ist (§ 177 Abs 2 ABGB). Es ist daher auch schon vor Scheidung der Eltern im Fall nicht bloß vorübergehender Trennung eine "endgültige" - künftigen wesentlichen Sachverhaltsänderungen allerdings trotz des Grundsatzes der Kontinuität der Erziehung nicht immer standhaltende - Entscheidung zu treffen. Da die Vorinstanzen die Erziehungsverhältnisse beim Vater als deutlich besser erkannt haben, kann von einer offenbaren Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Entscheidung keine Rede sein. Eine Pflicht der Vorinstanzen, "Erziehungsrechte der Mutter unter Setzung entsprechender Auflagen zu wahren", bestand nicht. Eine Änderung der Regelung, welchem Elternteil die Elternrechte allein zustehen sollen - die im übrigen auch nicht unzulässig wäre (vgl. SZ 53/142) -, ist nicht erfolgt; aus der - im übrigen im letzten Jahr unterbrochenen - faktischen Kontinuität der Erziehung kann die Revisionsrekurswerberin keine Erziehungsrechte für sich ableiten. Die Vorinstanzen haben sich mit dieser Frage unter dem Blickwinkel des Kindeswohles auseinandergesetzt.

Als Nullitäts- (Nichtigkeits-)Grund iS des § 16 AußStrG macht die Revisionsrekurswerberin geltend, daß ihr keine Möglichkeit gegeben worden sei, zum Sachverständigengutachten im einzelnen Stellung zu nehmen. Die anwaltlich vertretene Revisionsrekurswerberin hatte jedoch die Möglichkeit, ihre Einwände gegen das Sachverständigengutachten im Rekurs vorzubringen. Sie hat dies auch getan, und das Rekursgericht hat sich mit diesen Einwänden ausführlich auseinandergesetzt, so daß nicht einmal ein Verfahrensmangel, geschweige denn ein solcher vom Gewicht einer Nullität vorliegt. Das Rekursgericht hat auch berücksichtigt, daß sich die schulischen Leistungen des Kindes verbessert haben. Das Unterbleiben der - im übrigen gar nicht beantragten - Vernehmung der Lehrerin des Kindes (in Sieghartskirchen) bildet keinen Nichtigkeitsgrund. Auf die im Revisionsrekurs vorgebrachten Neuerungen und auf die Bekämpfung der Beweiswürdigung der Vorinstanzen ist nicht einzugehen.

Mangels Vorliegens eines Anfechtungsgrundes iS des § 16 AußStrG ist der Revisionsrekurs zurückzuweisen.

Anmerkung

E15195

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1988:0040OB00578.88.0913.000

Dokumentnummer

JJT_19880913_OGH0002_0040OB00578_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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