TE OGH 1989/1/24 10ObS301/88

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Veröffentlicht am 24.01.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Reinhard Drössler (Arbeitgeber) und Eduard Giffinger (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Albert K***, Am Eichbühel 14, 6840 Götzis, vertreten durch Dr.Gerold Hirn, Rechtsanwalt in Feldkirch, wider die beklagte Partei P*** DER A***, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Juni 1988, GZ 5 Rs 105/88-40, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 24.Februar 1988, GZ 33 Cgs 140/87-35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 20.März 1942 geborene Kläger, der bisher als Hilfsarbeiter beschäftigt war, leidet an den Folgen einer bei einem Arbeitsunfall im Jahr 1980 erlittenen Verletzung beider Kniegelenke. Seit Mai 1987 ist der Kläger nur mehr in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen ohne längere als die üblichen Unterbrechungen zu verrichten, wobei die mittelschweren Tätigkeiten das Ausmaß von 10 Minuten pro Stunde nicht überschreiten sollten. Die Arbeiten sollten hauptsächlich im Sitzen verrichtet werden, wobei eine Stehdauer von 10 Minuten pro Stunde sowie eine Gehdauer von 5 Minuten pro Stunde zugemutet werden kann. Kniende Tätigkeiten sind dem Kläger nicht mehr zumutbar, ebenso nicht Stiegensteigen und das Aufheben und Tragen von Lasten über 10 kg. Arbeiten in Nässe und Kälte sind zu vermeiden. Der Kläger kann maximal noch eine Wegstrecke von 500 m zu Fuß zurücklegen. Wenn er nach 500 m die Möglichkeit hat, eine Pause in Sitzhaltung für ca. 10 bis 15 Minuten einzulegen, wäre ihm im Anschluß daran eine weitere Gehstrecke in etwa demselben Ausmaß möglich und zumutbar. Bei Benützung öffentlicher Verkehrsmittel hat der Kläger keine Schwierigkeiten.

Das Erstgericht gab dem auf Gewährung auf Invaliditätspension ab 1. Mai 1987 gerichteten Begehren statt. Ein Versicherter, der nicht mehr in der Lage sei, mehr als 500 m je Wegstrecke zurückzulegen, sei von der Vermittelbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Der Tatsache, daß der Kläger nach einer Wegstrecke von 500 m ein öffentliches Verkehrsmittel benützen könne, komme keine Bedeutung zu, da nicht gewährleistet sei, daß im Umkreis von 500 m ab der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels Arbeitsplätze zu finden seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln, billigte die Beweiswürdigung des Erstgerichtes und trat dessen rechtlicher Beurteilung bei. Bei einer abstrakten Beurteilung könne nicht davon ausgegangen werden, daß üblicherweise im Umkreis von 500 m vom Wohnort bzw. einer Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel erreicht werden können. Das Einlegen von Pausen im Ausmaß von 10 bis 15 Minuten während des Anmarschweges zum bzw. vom öffentlichen Verkehrsmittel könne nicht zugemutet werden, zumal während der Pausen Sitzhaltung erforderlich sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag es im Sinne einer Klageabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Kläger beantragt der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Eventualantrages berechtigt. Das österreichische Institut für Raumplanung führte in den letzten Jahren eine Untersuchung über die Erreichbarkeitsverhältnisse in Österreich durch, deren Ergebnisse in einer Schrift mit dem Titel "Erreichbarkeitsverhältnisse im Individual- und im öffentlichen Verkehr in Österreich" zusammengefaßt sind. Daraus geht hervor, daß in Österreich 73 % der Berufstätigen innerhalb einer Entfernung von 500 m zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels wohnen und daher bis dorthin höchstens einen Weg von 500 m zurücklegen müssen. Berücksichtigt man ferner die Werte für Städte mit über 100.000 Einwohnern (Linz 91,2 %; Salzburg 89,6 %; Graz 89,9 %; Innsbruck 91,2 %; Wien 94,1 %) so zeigt sich, daß in großstädtischen Verhältnissen in denen immerhin etwa 30 % der Berufstätigen leben, im Durchschnitt etwa 91 % der Berufstätigen von ihrer Wohnung höchstens 500 m bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zurücklegen müssen. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der angeführten Untersuchung für den Weg von der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bis zum Arbeitsplatz und zurück. Er übersteigt in den angeführten Großstädten im Durchschnitt bei etwa 95 % der Arbeitsplätze 500 m nicht (Linz 89,7 %; Salzburg 93,6 %; Graz 95,4 %; Innsbruck 96,7 %; Wien 98,2 %). Der Oberste Gerichtshof ist unter Berücksichtigung der Ergebnisse der angeführten Untersuchung der Auffassung, daß ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung solange vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen ist, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen und mit angemessener Geschwindigkeit eine Wegstrecke von jeweils zumindest 500 m zu Fuß zurücklegen kann. Es werden an ihn dabei keine höheren Anforderungen als an den überwiegenden Teil der Berufstätigen Österreichs gestellt. Ist der Versicherte hingegen nicht mehr imstande eine Wegstrecke von 500 m auf die angeführte Art zu bewältigen, so sind seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten soweit eingeschränkt, daß er schon nach allgemeiner Anschauung, die dem Gesetzgeber unterstellt werden muß, nicht mehr arbeitsfähig ist. Die davon abweichende Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligem Höchstgericht, der das Berufungsgericht im vorliegenden Fall folgte und nach der der Versicherte schon bei einer Einschränkung der Gehleistung auf unter 1 km vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen war, entspricht nicht den bestehenden Verhältnissen; der Oberste Gerichtshof schließt sich ihr daher nicht an (10 Ob S 182/88).

Auch der Umstand, daß der Kläger nach Zurücklegung eines Weges von 500 m eine Pause in Sitzhaltung einlegen muß, führt zu keinem anderen Ergebnis, zumal für die Bereitstellung von Sitzplätzen für Behinderte in öffentlichen Verkehrsmitteln Vorsorge getroffen ist. Gemäß 16.5 des österreichischen Eisenbahn-, Personen- und Reisegepäcktarifes kann etwa die Bahn für bestimmte Reisende mit kleinen Kindern oder Körperbehinderte Plätze bereithalten. Andere Reisende dürften diese Plätze nur einnehmen, sofern sie von Reisenden, für die sie bereitgehalten werden, nicht beansprucht werden. Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Eisenbahnunternehmungen im Rahmen dieser Ermächtigung in allen Zuggarnituren Sitzplätze entsprechend gekennzeichnet haben. Gemäß Punkt 694 der Dienstvorschrift der österreichischen Bundesbahnen für die Abfertigung und Beförderung von Personen, K 1 in der ab 1. Jänner 1974 in Geltung gestandenen Fassung, haben die Schaffner in Personenzügen schwer Körperbehinderten, gebrechlichen Personen und schwangeren Frauen vor anderen Reisenden Sitzplätze anzuweisen. Gemäß dem ab 1.Jänner 1989 in Geltung stehenden Verkaufshandbuch Personen- und Gepäckverkehr der österreichischen Bundesbahnen, DV K 1 2.1 und 9.2.3 sind im Rahmen des Kundendienstes schwer (Kriegs-)Beschädigte, hilfsbedürftige und gebrechliche Personen bei Beratung, Verkauf und Betreuung sowie bei Anweisung der Sitzplätze bevorzugt zu behandeln.

Gemäß Punkt 2.2.3 der vom Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr, Generaldirektion für Post- und Telegraphenverwaltung erlassenen Dienstvorschrift für den Post-, Postauto- und Fernmeldedienst, Gruppe A, 9. Band, Postautodienst (PAD) I (Vollzugsbestimmungen) ist der Lenker eines Autobusses berechtigt und auf Verlangen verpflichtet, den Fahrgästen die Plätze zuzuweisen. Besonders gekennzeichnete Plätze sind Körperbehinderten oder gebrechlichen Personen, werdenden Müttern oder Fahrgästen mit Kleinkindern zu überlassen. Diese Plätze dürfen von anderen Fahrgästen nur dann und nur solange eingenommen werden, als sie von den Fahrgästen, für die diese Plätze reserviert sind, nicht in Anspruch genommen werden. Die Anordnung zur entsprechenden Kennzeichnung von Sitzplätzen in den Omnibussen erging mit Erlaß des Bundesministeriums für Verkehr, Generaldirektion für die Post- und Telegraphenverwaltung, BM Zl 22374-14/74 vom 17.April 1974. Nach den Erläuterungen zur Dienstvorschrift für den Fahrdienst der Straßenbahnen (DV S*** herausgegeben vom Fachverband der Schienenbahnen, genehmigt vom Bundesministerium für Verkehr mit Bescheid vom 26.Juli 1977, Zl 23.009/4-II/4-1977, Erläuterungen:

Anlage 1 zur DV S*** herausgegeben von den Wiener Stadtwerken, Verkehrsbetriebe in Zusammenarbeit mit dem Fachverband der Schienenbahnen) Erläuterung zu § 49 der DV 2.1 hat das Zugpersonal zugestiegenen Körperbehinderten, vor allem Krückenträgern sowie älteren gebrechlichen Personen (dazu gehören auch schwangere Frauen), denen das Stehen sichtlich schwer fällt und Fahrgästen mit Kleinkindern, die hiefür eigens gekennzeichneten Sitzplätze freizumachen.

Gemäß den vom Bundesministerium für Verkehr- und Elektrizitätswirtschaft, Zl 23.039-I/6-64, vom 29.Oktober 1964, genehmigten Beförderungsbedingungen der Linzer Verkehrsbetriebe sind die Bediensteten des Verkehrsunternehmens berechtigt, erforderlichenfalls Fahrgästen Plätze anzuweisen. In Zusammenarbeit aller innerstädtischen Nahverkehrsunternehmungen Österreichs erstellte Beförderungsbedingungen, die beim Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr zur Genehmigung eingereicht wurden und künftig einheitlich Gültigkeit erlangen sollen, sehen in Punkt L 2. vor, daß über Aufforderung eines einschreitenden Bediensteten des Verkehrsunternehmens die Fahrgäste verpflichtet sind, ihren Sitzplatz älteren oder gebrechlichen Personen, schwangeren Frauen oder Fahrgästen mit Kindern zu überlassen. Die Tarifbestimmungen und Beförderungsbedingungen der Grazer Stadtwerke AG Verkehrsbetriebe vom 5.Juli 1988 sehen vor (III 9. lit k)), daß die Bediensteten des Verkehrsunternehmens berechtigt sind, den Fahrgästen Plätze anzuweisen. Über ihr Ersuchen sind Sitzplätze für ältere und gebrechliche Personen und für Fahrgäste mit kleinen Kindern freizugeben. Eine gleichartige Regelung findet sich in Punkt 10 lit k) der mit Bescheid des Bundesministeriums für Verkehr Zl EB 4225/1-II/4-1979 genehmigten Allgemeinen Beförderungsbedingungen der Innsbrucker Verkehrsbetriebe AG, wobei davon auszugehen ist, daß der jeweils normierten Berechtigung der Bediensteten eine Verpflichtung des Fahrpersonals entspricht, im Bedarfsfall zur Freimachung von Sitzplätzen für die in den Beförderungsbedingungen bezeichneten Personen einzuschreiten. Diese nur beispielsweise Übersicht zeigt, daß allgemein in öffentlichen Verkehrsmitteln in ausreichender Weise dafür vorgesorgt ist, daß Personen, die aus gesundheitlichen Gründen während der Fahrt nicht stehen können, Sitzplätze zur Verfügung stehen. Es ist damit gewährleistet, daß der Kläger, der mit Rücksicht auf seinen Leidenszustand die Begünstigung zur Erlangung eines Sitzplatzes geltend machen kann, während der Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel sitzen kann, wobei im Hinblick auf die durchschnittliche Fahrzeit davon ausgegangen werden kann, daß auf diese Weise die Erholungspause von 10 bis 15 Minuten in Sitzhaltung gesichert ist.

Die Tatsache, daß der Kläger nur eine Wegstrecke von 500 m zum bzw. vom Massenbeförderungsmittel zurücklegen kann, schließt ihn damit auch unter Berücksichtigung der zwischen den Wegen erforderlichen Erholungspause nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Ausgehend von der vom Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsansicht, daß bereits die festgestellte Anmarschwegbeschränkung einen Ausschluß vom Arbeitsmarkt bedingt, haben die Vorinstanzen ungeprüft gelassen ob auf dem Arbeitsmarkt Tätigkeiten zur Verfügung stehen, die der Kläger, ausgehend von den festgestellten Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit, auszuüben in der Lage ist. In dieser Richtung erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E16961

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00301.88.0124.000

Dokumentnummer

JJT_19890124_OGH0002_010OBS00301_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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