TE OGH 1989/6/20 2Ob74/89

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Veröffentlicht am 20.06.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Waltraud H***, Telefonistin, Moosengasse 5, 6020 Innsbruck, vertreten durch Dr. Hans Heißl, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagten Parteien 1. Manfred P***, Kraftfahrer, Gärberbach 41, 6020 Innsbruck, 2. Wilhelm R***, Kaufmann, Rauthweg 4, 6175 Kematen,

3. A*** E*** Versicherungs-Aktiengesellschaft, Bösendorferstraße 13, 1050 Wien, alle vertreten durch Dr. Günther Kolar, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 695.000 s.A. und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 21. Februar 1989, GZ 1 R 362/88-48, womit infolge Berufung beider Parteien das Endurteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 20. Juli 1988, GZ 11 Cg 454/85-41, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der Klägerin die mit S 14.218,82 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin S 2.369,80 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 2. April 1965 geborene Klägerin hatte aufgrund eines im Jahre 1971 erlittenen Unfalls nur mehr ein Auge und auf diesem ein so geringes Sehvermögen (1/24), daß sie ein Objekt von der Größe eines Autobusses maximal auf 10 m Entfernung und auch dann nur, wenn es sich in Bewegung befand, wahrnehmen konnte. Sie war als Telefonistin berufstätig. Am 24.Mai 1984 wollte sie im Ortsgebiet von Innsbruck, nachdem sie aus einem Linienbus ausgestiegen war, die Technikerstraße überqueren. Sie trug am rechten Oberarm eine Blindenbinde, überquerte die nördliche Richtungsfahrbahn und blieb am südlichen Rand der Verkehrsinsel stehen. Der Erstbeklagte lenkte den vom Zweitbeklagten gehaltenen, bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten Omnibus auf der südlichen Richtungsfahrbahn der Technikerstraße und hielt eine Geschwindigkeit von 55 km/h ein. Seine Sicht auf die Klägerin war nicht behindert, er sah die Klägerin auch tatsächlich und nahm die Blindenbinde wahr. In der Meinung, die Klägerin würde warten, bis er an ihr vorbeigefahren sei, verringerte er die Geschwindigkeit nicht. Die Klägerin hörte den Bus nicht und begann die südliche Richtungsfahrbahn zu überqueren. Der Erstbeklagte leitete nach einer Reaktionszeit von 1 Sekunde eine Vollbremsung ein. Als die Klägerin die Bremsgeräusche hörte, begann sie zu laufen. Der Bus erfaßte mit einer Geschwindigkeit von 34 km/h die Klägerin. Bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h hätte die Kollisionsgeschwindigkeit 21 km/h betragen.

Die Klägerin erlitt beim Unfall einen Schädelbasisbruch mit Pyramidenbruch, eine Contusio Cerebri, ein subdurales Hämatom, eine offene otobasale Fraktur links, einen Bruch des linken Schlüsselbeins sowie einen Bruch des rechten Beckenringes, eine Nierenprellung mit Microhämaturie und Hautabschürfungen an beiden Händen. Die Klägerin war vom 25.Mai bis 27.September 1984 durchgehend in stationärer Behandlung. Sie verfügt über ein praktisch normales Hörvermögen beiderseits, links besteht eine kleine Mittelohrkomponente und Ohrgeräusche. Diese bedingen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 %. Das Sehvermögen wurde durch den Unfall auf Lichtempfindlichkeit reduziert, da durch die Contusio capitis die Linse verlagert wurde. Damit ist die Klägerin vollblind. Durch die beim Unfall erlittenen Kopfverletzungen treten auch unter Berücksichtigung der vorbestehenden Kopfschmerzneigung häufigere Kopfschmerzen auf, darüberhinaus kam es zu einer geringen psychoorganischen Veränderung (Konzentrationsschwäche, Affektlabilität), weiters ist neurologisch eine leichte frontale cerebrale Symptomatik feststellbar, die eine Teilinvalidität von 15 % bedingt. Unter Berücksichtigung der Verletzungen im Beckenbereich, die langes Sitzen nur schwer ertragen lassen, ist die Arbeitsfähigkeit der Klägerin als blinde Telefonistin um 40 % gemindert. Die Klägerin erlitt bedingt durch die unfallskausalen Verletzungen 10 bis 12 Tage starke, 4 Wochen mittlere und 18 Wochen leichte Schmerzen jeweils als dauernde und wird zeitlebens jährlich zwei Wochen komprimiert Schmerzen leichten Grades haben. Der Erstbeklagte wurde vom Strafgericht schuldig erkannt, durch mangelnde Aufmerksamkeit die am rechten Arm eine gelbe Binde tragende Fußgängerin niedergestoßen zu haben; er wurde wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 4 erster Fall StGB rechtskräftig verurteilt.

Die Klägerin begehrt ein restliches Schmerzengeld von S 695.000 (S 775.000 abzüglich einer Teilzahlung von S 80.000) samt Zinsen, sowie die Feststellung der solidarischen Haftung der beklagten Parteien für künftige Unfallsfolgen.

Die Beklagten wendeten ein, die Klägerin treffe ein Mitverschulden von einem Drittel, als Schmerzengeld sei ein Betrag von lediglich S 120.000 angemessen.

Das Erstgericht erkannte im Sinne des Feststellungsbegehrens, sprach der Klägerin einen Betrag von S 420.000 samt Zinsen zu und wies das Leistungsmehrbegehren von S 275.000 s.A. ab. Das Gericht erster Instanz führte aus, aufgrund der Bindungswirkung des Strafurteils sei von einem Verschulden des Erstbeklagten auszugehen. Der sehbehinderten Klägerin, die eine gelbe Armbinde getragen habe und gemäß § 3 StVO besonders geschützt gewesen sei, könne nicht vorgeworfen werden, den von rechts kommenden Verkehr falsch eingeschätzt zu haben. Der Erstbeklagte hätte bei Annäherung an die Klägerin die Verkehrslage in bedenklichem Sinne auslegen, mit einem für die Sehbehinderte selbstgefährdenden Verhalten rechnen und durch Abgabe eines Warnsignals und einer Verringerung seiner Geschwindigkeit reagieren müssen. Im Verhalten der Klägerin könne kein Verschulden erblickt werden. Ein Schmerzengeld von S 500.000 sei angemessen, unter Berücksichtigung der Teilzahlung ergäbe sich ein Anspruch von S 420.000.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es führte aus, der Omnibus sei, als die Klägerin die südliche Fahrbahnhälfte betreten habe, noch etwa 46 m von der Unfallstelle entfernt gewesen, die Klägerin habe dieses Fahrzeug daher auch bei Anwendung aller Aufmerksamkeit nicht sehen können. Die Klägerin habe den Omnibus nicht gehört. Daß dieser Bus, insbesondere auch seine Fahrtrichtung, Fahrgeschwindigkeit und Entfernung, bei Betreten der südlichen Fahrbahnhälfte bereits mit ausreichender Deutlichkeit hörbar, damit also wahrnehmbar gewesen wäre, hätten die Beklagten behaupten und beweisen müssen. Es bestünden zwar keine Bedenken gegen die Überlegungen in der Berufung, daß auch für behinderte Personen die Vorschriften des § 76 StVO gelten. Dies könne aber nur so zu verstehen sein, daß diese Personen zur Einhaltung der Verkehrsvorschriften verpflichtet seien, soweit es ihnen möglich sei. Das Überqueren der Fahrbahn auch ohne Begleitperson sei Blinden und sehr schwer Sehbehinderten nicht verboten. Selbst wenn der Klägerin ein geringer Aufmerksamkeitsfehler durch Überhören oder Fehleinschätzung der (überhöhten) Geschwindigkeit des sich nähernden Omnibusses unterlaufen wäre, erscheine ein allenfalls vorliegendes Mitverschulden einer schwer Sehbehinderten, als solche gekennzeichneten Fußgängerin als zu vernachlässigen gegenüber dem Verschulden des Omnibuslenkers, der im Ortsgebiet zu schnell und wohl grob unvorsichtig gefahren sei. Auch die vom Erstgericht vorgenommene Schmerzengeldbemessung sei zutreffend. Die Beklagten bekämpfen das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision, machen den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragen, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das S 120.000 übersteigende Leistungsbegehren und das über die Haftung für 2/3 der Unfallsfolgen hinausgehende Feststellungsbegehren abgewiesen werden.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

1. Zum Verschulden:

Der Revisionswerberin ist zuzugeben, daß auch behinderte Personen die Verkehrsvorschriften, so auch jene des § 76 StVO, beachten müssen. Gemäß § 76 Abs 2 lit b StVO dürfen Fußgänger, wenn ein Schutzweg nicht vorhanden ist, die Fahrbahn erst betreten, wenn sie sich vergewissert haben, daß sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden. Eine schuldhafte Verletzung dieser Vorschrift könnte der Klägerin nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, den Omnibus wahrzunehmen. Dies war nach den Feststellungen jedoch nicht der Fall. Die Revisionswerberin vertritt die Ansicht, die Klägerin hätte zunächst einen Schritt auf die Fahrbahn machen und dann stehenbleiben müssen, hätte sodann den Arm heben müssen und nur langsam über die Fahrbahn gehen dürfen. Eine derartige Verhaltensweise schreibt das Gesetz jedoch nicht vor. Ein langsames Gehen würde sogar der Bestimmung des § 76 Abs 5 StVO widersprechen, wonach Fußgeher die Fahrbahn in angemessener Eile zu überqueren haben. Eine schuldhafte Verletzung von Verkehrsvorschriften kann der Klägerin daher nicht angelastet werden. Sie trug am rechten Arm eine gelbe Binde, die vom Erstbeklagten auch gesehen wurde, sie konnte daher erwarten, daß die Lenker von Fahrzeugen, die sie nicht wahrnehmen konnte, auf sie Rücksicht nehmen werden. Selbst wenn man davon ausgeht, daß sich die Klägerin - auch wenn sie keine Verkehrsvorschriften schuldhaft übertreten hat - doch hätte vorsichtiger verhalten können, dann wäre damit für die beklagten Parteien nichts gewonnen. Bei Beurteilung des Verschuldens des Erstbeklagten ist davon auszugehen, daß er die Klägerin auf der Verkehrsinsel stehen sah und auch die gelbe Armbinde wahrnahm. Es mußte ihm klar sein, daß die Klägerin die Fahrbahn überqueren werde, er mußte auch damit rechnen, daß die Klägerin wegen ihrer durch die gelbe Armbinde erkennbaren Behinderung ein herannahendes Fahrzeug nicht wahrnehmen konnte. Trotzdem fuhr er mit der eingehaltenen absolut überhöhten Geschwindigkeit weiter. Dem Erstbeklagten ist daher ein gravierendes Verschulden anzulasten, gegenüber welchem die Unterlassung von Vorsichtsmaßnahmen, die das Gesetz gar nicht vorschreibt, kein ins Gewicht fallendes Mitverschulden begründet.

Zutreffend gingen die Vorinstanzen daher vom Alleinverschulden des Erstbeklagten aus.

2. Zum Schmerzengeld:

Bei Bemessung des Schmerzengeldes sind die Art und Schwere der Körperverletzung, die Art, Intensität und Dauer der Schmerzen sowie die Dauer der Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Verletzten überhaupt und ferner die damit verbundenen Unlustgefühle zu berücksichtigen (Jarosch-Müller-Piegler, Das Schmerzengeld5 176). Im vorliegenden Fall ist daher insbesondere zu beachten, daß die Klägerin mehrfache schwere Verletzungen, darunter einen Schädelbasisbruch und einen Bruch des rechten Beckenringes erlitt, weiters fällt wesentlich ins Gewicht, daß schwerwiegende Dauerfolgen zurückblieben. Wenn auch das Sehvermögen schon vor dem Unfall stark eingeschränkt war, ist eine wesentliche Verschlechterung insofern eingetreten, als die Klägerin nun vollblind ist. Dazu kommt, daß sie wegen der Beckenverletzung langes Sitzen schwer ertragen kann und auch in Zukunft immer wieder Schmerzen auftreten werden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände kann in der Bemessung des Schmerzengeldes mit S 500.000 kein Rechtsirrtum erblickt werden. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

Anmerkung

E18048

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:0020OB00074.89.0620.000

Dokumentnummer

JJT_19890620_OGH0002_0020OB00074_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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