TE OGH 1990/1/23 10ObS367/89

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Veröffentlicht am 23.01.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Rudda (AG), Dr.Göstl (AG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Annemarie N***, 2435 Ebergassing, Johannesbachweg 2A, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei S*** DER G*** W***, 1051 Wien,

Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr.Michael Graff, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10.März 1989, GZ 32 Rs 272/88-49, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 19.Mai 1988, GZ 11 Cgs 137/85-46, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Der im Berufungsurteil enthaltene Ausspruch, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab 19.Mai 1988 eine vorläufige Zahlung gemäß § 89 Abs. 2 ASGG in Höhe von S 5.000 monatlich zu bezahlen, wird behoben. Im übrigen werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben; die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1.Februar 1988 eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Es stellte im wesentlichen fest, daß die am 3.Juli 1944 geborene Klägerin in Ebergassing das Friseur- und Perückenmachergewerbe betrieben hat. Die Gewerbeberechtigung wurde zum 31.Jänner 1988 zurückgelegt.

Die Klägerin leidet seit ihrer Kindheit an einer labilen Diabetes. Sie muß die Möglichkeit zu regelmäßiger Nahrungsaufnahme, wenn notwendig auch zu kurzen Zwischenmahlzeiten habe. Um eine optimale Behandlung der Diabetes zu gewährleisten, muß sie folgenden Tabesablauf einhalten: Erste Blutzuckermessung um 6.45 Uhr, 7.00 Uhr Insulinspritze, 7.45 Uhr Frühstück, 9.15 Uhr Blutzuckermessung, 12.00 Uhr Mittagessen, 15.00 Uhr Blutzuckermessung, 15.15 Uhr Jause, 18.00 Uhr zweite Insulininjektion, 18.30 Uhr Abendessen. Bei Änderung dieser Zeiten müssen die entsprechenden Zeitabstände zwischen den Nahrungsaufnahmen eingehalten werden.

Die Klägerin ist für leichte Arbeiten im Gehen und Sitzen in der normalen Arbeitszeit geeignet, die Fingerfertigkeit ist außer für Feinstmanipulationen erhalten. Die Anmarschwege sind auf einen Kilometer eingeschränkt. Eine Umstellung kommt als Anlernung oder Unterweisung in Frage. Während der Arbeitszeit muß die Klägerin die Möglichkeit haben, kürzere Pausen zur Bestimmung des Blutzuckers und zur Einnahme kleiner Mahlzeiten zu machen. Bei den für die Klägerin an sich in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten Tisch- und Kontroll- oder Verpackungsarbeiten ist üblicherweise um 7.00 Uhr Dienstbeginn, bei Einhaltung der üblichen Pausen um 12.00 Uhr mittags könnten die von der Klägerin aus medizinischen Gründen notwendigen und erforderlichen Pausen für die Nahrungsaufnahme nicht eingehalten werden, die notwendige Nachmittagspause nur dann, wenn dies vom Arbeitgeber toleriert wird. Da es sich dabei um Fabriksarbeiten handelt, wird dies nicht möglich sein. Eine Tätigkeit als Kassiererin ist wegen der ülicherweise fixierten Gleiteinteilung nicht möglich. Einfache Büroarbeiten sind primär Schreibarbeiten, Arbeiten, bei welchen ausschließlich Karteiarbeiten oder die Ablage von Fakturen anfallen, gibt es nicht bzw. nicht in ausreichender Anzahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Rechtlich kam das Erstgericht zu dem Ergebnis, die Klägerin sei erwerbsunfähig im Sinne des § 133 Abs. 1 GSVG, weil sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr verweisbar sei. Die Klägerin benötige am Vormittag eine 20minütige Pause zur Blutzuckerbestimmung und zur Einnahme einer Jause, nochmals eine 20minütig Pause am Nachmittag. Auf Grund der labilen Erkrankung der Klägerin könnten kurzzeitige fünfminütige Pausen für Zwischenmahlzeiten erforderlich sein. Die zusätzlichen Unterbrechungen bei der Arbeit, vor allem im Fabriksmilieu würden den Arbeitsfortgang empfindlich stören, es sei daher davon auszugehen, daß sie im Regelfall von den Dienstgebern nicht geduldet würden. Die Klägerin sei nicht in der Lage, einen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommenden Arbeitsplätze auszufüllen und daher erwerbsunfähig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, daß es die beklagte Partei zusätzlich schuldig erkannte, der Klägerin ab 19.Mai 1988 eine vorläufige Zahlung gemäß § 89 Abs. 2 ASGG in Höhe von S 5.000 monatlich zu erbringen.

Wenn die beklagte Partei in ihrer Berufung auf weitere, von der berufskundlichen Sachverständigen nicht berücksichtigte, der Klägerin aber mögliche Verweisungstätigkeiten hinweise, müsse ihr entgegengehalten werden, daß es Aufgabe des berufskundlichen Sachverständigen sei, die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten nach ihrer Art, Schwere und den körperlichen und geistigen Erfordernissen so zu beschreiben, daß das Gericht eine Gegenüberstellung mit dem medizinischen Leistungskalkül vornehmen könne. Die an der Grenze der medizinischen Leistungsfähigkeit des Versicherten liegenden Tätigkeitsgruppen müßten schrittweise eingeengt werden. Dies sei im vorliegenden Fall geschehen. Es sei leicht einsehbar, daß wegen der fortschreitenden Rationalisierung keine ausreichende Zahl an Arbeitsplätzen für einfache Büroarbeiten mehr gegeben sei, die sich ausschließlich in Kanzleiarbeiten erschöpften. Die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes sei daher zutreffend.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist berechtigt.

Die vom Berufungsgericht übernommenen, zum Teil in der rechtlichen Beurteilung enthaltenen Feststellungen des Erstgerichtes sind einerseits widersprüchlich, andererseits unvollständig. Aus den Feststellungen ist zunächst zu entnehmen, daß bei entsprechender Einteilung in die Arbeitszeit nur eine Insulininjektion sowie je eine Blutzuckermessung und je eine kleine Zwischenmahlzeit am Vormittag und am Nachmittag fallen, ohne daß hiefür der erforderliche Zeitaufwand festgestellt wird. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aber führt das Erstgericht aus, die Klägerin benötige "wie festgestellt" am Vormittag und am Nachmittag eine 20minütige Pause für Blutzuckerbestimmung und erforderliche Jause. Es könnten auf Grund der labilen Erkrankung kurze fünfminütige Pausen für Zwischenmahlzeiten (noch über jene von 20 Minuten hinaus?) erforderlich sein. Die tatsächliche Dauer und Häufigkeit der notwendigen Arbeitsunterbrechungen wird daher nach ergänzender Befragung des internistischen Sachverständigen zu klären sein. Warum Tischarbeiten in der Büromittelerzeugung und in der Lederwarenindustrie sowie Verpackungsarbeiten ausschließlich dem Fabriksmilieu zugeordnet werden, läßt sich weder dem berufskundlichen Sachverständigengutachten noch dem Ersturteil entnehmen.

Die beklagte Partei hat bereits in ihrer Berufung darauf hingewiesen, die Feststellung des Erstgerichtes, daß es einfache Büroarbeiten "nicht bzw. nicht in ausreichender Anzahl" gebe, nicht eindeutig sei. Zu Recht macht die beklagte Partei geltend, daß diese Feststellung nicht genügt. Es ist zwar richtig, daß als Verweisungstätigkeiten nur solche Arbeiten in Betracht kommen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl, also nicht so eingeschränkt vorkommen, daß von einem Arbeitsmarkt nicht mehr gesprochen werden kann (SSV-NF 2/20 ua). Die Beurteilung der Frage, ob dies zutrifft, gehört aber zur rechtlichen Beurteilung und kann, vom Fall der Offenkundigkeit abgesehen (vgl. SSV-NF 2/20 ua) nur auf Grund ausreichender Feststellungen über die tatsächliche Anzahl der auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Arbeitsplätze gelöst werden (10 Ob S 134/89 = SSV-NF 3/70 - in Druck). Berücksichtigt man - ohne Einbeziehung der einfachen Büroarbeiten im öffentlichen Dienst - allein die im Kollektivvertrag der Handelsangestellten in Beschäftigungsgruppe 2 im Büro und Rechnungswesen in der Datenverarbeitung und im technischen Dienst enthaltenen einfachen Büroarbeiten, dann reicht eine Feststellung, daß solche Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt "nicht bzw. nicht in ausreichender Anzahl" vorkommen nicht aus; vielmehr muß die Anzahl solcher Arbeitsplätze zumindest näherungsweise und der Größenordnung nach festgestellt werden, um eine Beurteilung zuzulassen, ob deren Zahl für eine Verweisung ausreicht oder nicht.

Wollte aber das Erstgericht - dies könnte zwar nicht den Feststellungen, wohl aber dem berufskundlichen Gutachten entnommen werden - zum Ausdruck bringen, daß nur keine genügende Anzahl solcher Arbeitsplätze vorhanden sei, bei denen auf die Nachsicht des Dienstgebers bei der Inanspruchnahme zusätzlicher Arbeitspausen gerechnet werden kann, wäre auch hier neben der eindeutigen Festlegung über Dauer und Häufigkeit der Pausen eine nähere Eingrenzung erforderlich; denn es ist gerichtsbekannt, daß eine große Zahl Diabeteskranker, die täglich Blutzuckermessungen, allenfalls Insulinspritzen und zusätzlich kleine Mahlzeiten benötigen (nach dem ärztlichen Gutachten genügt vielfach schon ein Stück Traubenzucker) voll im Arbeitsleben stehen und daß es bei einfachen Bürotätigkeiten, die keinen besonderen Streßsituationen oder stoßweisem Kundenverkehr unterliegen, geradezu üblich ist, daß ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers eine kurze Arbeitspause am Vormittag und am Nachmittag sogar mit Einrechnung in die Arbeitszeit eingehalten wird. Ohne Anrechnung auf die Arbeitszeit können solche geringfügigen Pausen aber jedenfalls vor oder nach der üblichen Arbeitszeit eingebracht werden (10 Ob S 292/89, vgl. auch SSV-NF 2/145).

Zu Recht bekämpft die beklagte Partei auch die vom Berufungsgericht im Wege einer Maßgabebestätigung auferlegte vorläufige Zahlung. Gemäß § 89 Abs. 2 ASGG kann das Gericht, wenn sich in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs. 1 Z 1, 6 oder 8, in der das Klagebegehren auf eine Geldleistung gerichtet und dem Grunde und der Höhe nach bestritten ist, ergibt, daß das Klagebegehren in einer zahlenmäßig noch nicht bestimmten Höhe gerechtfertigt ist, die Rechtsstreitigkeit dadurch erledigen, daß es das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkennt und dem Versicherungsträger auftträgt, dem Kläger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides, eine vorläufige Zahlung zu erbringen; deren Ausmaß hat das Gericht unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs. 1 ZPO festzusetzen. Diese Entscheidung hat im Urteil zu ergehen und bildet einen Teil der Sachentscheidung des Gerichtes.

Die Klägerin hat das ihr die Leistung dem Grunde nach zuerkennende, eine vorläufige Zahlung jedoch nicht auferlegende Urteil des Errstgerichtes unbekämpft gelassen, eine Berufung wurde nur von der beklagten Partei erhoben. Als Grundlage für die vom Berufungsgericht ohne entsprechenden Parteiantrag der beklagten Partei auferlegte vorläufige Zahlung könnte § 91 Abs. 1 ASGG in Frage kommen. Dies allerdings nur, wenn man diese Bestimmung dahin auslegte, daß hiemit eine der durch § 89 Abs. 2 ASGG für die Entscheidung des Erstgerichtes getroffenen Anordnung entsprechende eigenständige Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Auferlegung einer vorläufigen Zahlung statuiert wird, das Berufungsgericht also in jedem Fall, in dem dem Klagebegehren vom Erstgericht stattgegeben wurde, ohne Rücksicht auf eine entsprechende Entscheidung des Erstgerichtes eine vorläufige Zahlung aufzuerlegen hat. Hiefür bietet aber diese Bestimmung keine Grundlage. § 91 Abs. 1 ASVG bestimmt, daß der Versicherungsträger, soweit ein Urteil des Berufungsgerichtes in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs. 1 Z 1, 4, 6 oder 8 dem Leistungsbegehren eines Versicherten stattgibt, diesem diese Leistung bis zur rechtskräftigen Beendigung der Rechtsstreitigkeit zu gewähren hat; ergeht im Verfahren ein neuerliches Berufungsurteil, so richtet sich die vom Versicherungsträger an den Versicherten weiterzugewährende Leistung nach diesem Berufungsurteil. Diese Leistungspflicht ist dem Versicherungsträger mit dem jeweiligen Berufungsurteil aufzuerlegen; der § 89 Abs. 2 ist hiebei anzuwenden. Der erste Satz der Bestimmung bezieht sich nur auf Fälle, in denen dem Leistungsbegehren dem Grunde und der Höhe nach stattgegeben wird. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut (arg. "hat ihm der Versicherungsträger diese Leistung" - also die im Leistungsbegehren, dem stattgegeben wurde, begehrte Leistung und nicht eine erst auf Grund dieser Bestimmung festzusetzende Leistung - zu gewähren). Deutlich sprechen dafür auch die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des ASGG (7 BlgNR 16.GP, 61 f). Darin wird darauf hingewiesen, daß die angeführte Regelung mit dem § 82 Z 3 (nunmehr § 90 Z 2) ASGG im engen Zusammenhang steht, daß nach dem Abs. 1 dem Versicherten die ihm vom Berufungsgericht zugesprochene Leistung auch dann weiterzugewähren ist, wenn das Urteil des Berufungsgerichtes aufgehoben wird, wobei sich dann der Leistungsanspruch nach dem Inhalt des zweiten Berufungsurteiles richtet (weshalb keine Leistung mehr zu gewähren ist, wenn damit im zweiten Rechtsgang das das Klagebegehren abweisende Ersturteil bestätigt wird) und schließlich auch darauf, daß für die vorgeschlagene gesetzmäßige Leistungspflicht mit Beziehung auf ein aufgehobenes Urteil im Grundsatz auch § 373 EO Vorbild war. Ein Hinweis darauf, daß die nach § 91 Abs. 1 erster Satz ASSG zu erbringende Leistung nicht dieselbe, wie jene nach § 89 Abs. 2 ASGG ist bildet ferner der Umstand, daß - anders als in der zuletzt angeführten Gesetzesstelle - das Wort "vorläufig" nicht verwendet wird. Daraus muß geschlossen werden, daß der Gesetzgeber an eine Leistung gedacht hat, die nicht erst später durch einen neuen Bescheid (endgültig) festzusetzen ist, sondern die schon (endgültig, wenn auch nicht rechtskräftig) festgesetzt wurde. All dies spricht dafür, daß § 91 Abs. 1 erster Satz ASVG nur jene Fälle regelt, in denen (in erster oder zweiter Instanz) eine Leistung dem Grunde und der Höhe nach zugesprochen wurde. Für diese Fälle wird festgelegt, daß die zugesprochene Leistung unter Berücksichtigung eines Berufungsurteiles, das im zweiten (oder einem weiteren) Rechtsgang erging, bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens zu bezahlen ist.

Unter Berücksichtigung dieses Umstandes ist allerdings der nachfolgende zweite Satz nicht ganz verständlich. Die Worte "diese Leistungspflicht" beziehen sich auf die im ersten Satz festgelegte, eben dargelegte Pflicht des Versicherungsträgers, die dem Versicherten zugesprochene Leistung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens zu erbringen. Es ist daher an sich überflüssig, dem Versicherungsträger die Leistungspflicht mit dem Berufungsurteil aufzuerlegen, weil sie sich dem Grunde nach schon aus dem Gesetz und der Höhe nach schon aus dem Ersturteil oder - im Falle der Änderung des Ersturteiles im Sinne des Klagebegehrens - aus anderen Teilen des Berufungsurteiles ergibt. Diese Regelung könnte aber noch die Bedeutung einer Ordnungsvorschrift haben, der die Exekutionsbewilligung nach § 373 EO als Vorbild gedient haben könnte. Sie könnte ferner auch im Licht des § 91 Abs. 6 ASGG gesehen werden. Diese Bestimmung setzt bei wörtlicher Auslegung voraus, daß das Berufungsurteil einen Leistungszuspruch enthält. Der im ersten Halbsatz des § 91 Abs. 1 zweiter Satz enthaltene Auftrag, dem Versicherungsträger die Leistungspflicht aufzuerlegen, könnte daher die Bedeutung haben, daß dadurch gemäß dem nachfolgenden Absatz 6 die Behandlung der Zeiten des Bezuges der Leistung als neutrale Zeiten sichergestellt wird. Kann also dem ersten Halbsatz des § 91 Abs. 1 zweiter Satz ASGG noch ein Sinn gegeben werden, ist der zweite Halbsatz, wonach § 89 Abs. 2 "hiebei" also bei der im ersten Halbsatz angeordneten Auferlegung der Leistungspflicht anzuwenden ist, unverständlich. Da sich "diese Leistungspflicht", um deren Auferlegung es geht, auf die Leistungen des ersten Satzes des § 91 Abs. 1 ASGG bezieht und da diese der Höhe nach schon feststehen müssen, ist für die Anwendung des § 89 Abs. 2 ASGG kein Raum. Als Anordnung für Fälle, in denen das Berufungsgericht einem vom Erstgericht abgewiesenen Leistungsbegehren stattgibt, wäre die Bestimmung überflüssig, da sich die Verpflichtung des Berufungsgerichtes zu Auferlegung einer vorläufigen Zahlung in diesem Fall bereits aus § 2 Abs. 1 ASGG iVm § 463 Abs. 1 ZPO und § 89 Abs. 2 ASGG ergibt.

Einen Sinn könnte diese Bestimmung nur dann ergeben, wenn man die Reihenfolge der zwei Halbsätze des § 91 Abs.1 letzter Satz ASGG umkehrte. Würde man sie so lesen, daß sie lauten "§ 89 Abs. 2 ASGG ist anzuwenden; diese Leistungspflicht ist dem Versicherungsträger mit dem Berufungsurteil aufzulergen" so könnte dies dafür sprechen, daß mit der Bestimmung eine eigenständige, originäre, von der Entscheidung des Erstgerichtes unabhängige Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Auferlegung einer vorläufigen Zahlung begründet werden sollte. Nur bei einem solchen Verständnis könnte der von Kuderna (FS Schnorr 399 f) vertretenen Ansicht beigetreten werden, daß das Berufungsgericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 89 Abs. 2 sowohl im Falle einer Abänderung eines klageabweisenden Urteiles erster Instanz oder auch, falls das Erstgericht (zu Unrecht) der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung nicht auferlegt hat, eine solche Zahlung unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs. 1 ZPO in seinem Berufungsurteil festzusetzen hat, ohne daß eine Bekämpfung der Unterlassung der Auferlegung der vorläufigen Zahlung durch den Kläger notwendig wäre. Der beklagten Partei wäre nach dieser Ansicht eine vorläufige Zahlung durch das Berufungsgericht im Falle der Unterlassung eines solchen Ausspruches durch das Erstgericht auch dann aufzuerlegen, wenn die Entscheidung des Erstgerichtes nur von ihr angefochten wird. Dieses Ergebnis würde ein Abgehen vom Grundprinzip des Verbotes der reformatio in peius im Zivilprozeß bedeuten. Eine Auslegung in diesem Sinn hätte zur Voraussetzung, daß sich aus der Gesetzesbestimmung selbst oder im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen und den Gesetzesmaterialien eindeutige Hinweise auf einen solchen Regelungsinhalt ergeben. Für ein solches Verständnis des § 91 Abs. 1 ASGG, zu dem man nur nach entscheidender Modifikation des Gesetzestextes - Umstellung der Reihenfolge der gesetzlichen Anordnung - gelangen könnte, besteht jedoch keine Grundlage, zumal nicht einmal die Gesetzesmaterialien einen solchen Regelungszweck erwähnen. Dies führt zwar zum Ergebnis, daß dem letzten Halbsatz des § 91 Abs. 1 ASGG - diese Bestimmung ist auch in anderen Punkten nicht widerspruchsfrei ausformuliert, da etwa die Erwähnung des § 65 Abs. 1 Z 4 ASGG im ersten Satz keinerlei Sinn ergibt, zumal eine vorläufige Zahlung in diesem Fall überhauptn nicht in Frage kommen kann - kein Regelungsinhalt zugewiesen werden kann, ändert jedoch nichts daran, daß für eine Auslegung in dem zuvor dargestellten Sinn die Grundlagen fehlen (10 Ob S 150/89). Es ergibt sich daher, daß die Unterlassung des Ausspruches über die Festsetzung einer vorläufigen Zahlung durch das Erstgericht in den Fällen, in denen ein Anspruch als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannt wird, vom Berufungsgericht nur dann wahrgenommen werden kann, wenn dieser Verstoß von der klagenden Partei in einem Rechtsmittel geltend gemacht wird. Es handelt sich dabei um einen Verfahrensmangel (§ 496 Abs. 1 Z 1 ZPO), der nur über Rüge durch die verletzte Partei aufgegriffen werden kann. Im vorliegenden Fall hat lediglich die beklagte Partei Berufung gegen das Urteil des Erstgerichtes ergriffen, sodaß dem Berufungsgericht die Möglichkeit verwehrt war, die Unterlassung der Auferlegung einer vorläufigen Zahlung durch das Erstgericht zum Gegenstand seiner Entscheidung zu machen. Die Festsetzung einer vorläufigen Zahlung durch das Berufungsgericht konnte zufolge Unterlassung der Anfechtung des Urteiles des Erstgerichtes, das eine vorläufige Zahlung nicht festsetzte, durch die klagende Partei nicht in Frage kommen. Der Revision der beklagten Partei kommt daher hinsichtlich der vorläufigen Zahlung schon aus diesem Grund Berechtigung zu, sodaß es entbehrlich ist, auf die ebenfalls bekämpfte Höhe der auferlegten Zahlung einzugehen.

Es war daher insgesamt wie im Spruch zu entscheiden.

Anmerkung

E19878

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00367.89.0123.000

Dokumentnummer

JJT_19900123_OGH0002_010OBS00367_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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