TE OGH 1990/3/13 10ObS20/90

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Veröffentlicht am 13.03.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (AG) und Norbert Kunc (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hermine K***, Angestellte, 2292 Loimersdorf 164, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Oktober 1989, GZ 32 Rs 117/89-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 25. Jänner 1989, GZ 17 Cgs 1325/87-28, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab 1. Juli 1987 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, ab. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die am 10. Juni 1949 geborene Klägerin leidet seit 1980 an multipler Sklerose. Sie befand sich seither fünfmal im Krankenstand, wobei es jedesmal zu einer Verschlechterung der Krankheit kam. Solche Schübe im Krankheitsverlauf traten 1980, 1981, 1984, 1987 und 1988 auf. Die wechselhafte Frequenz (der Schübe) ist als leicht bis mittelstark einzustufen. Ein Krankenstand konnte bis zu zwei Monaten dauern.

Die Klägerin ist in der Lage, leichte Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen zu verrichten. Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck sind zu vermeiden, Arbeiten in Nässe und Kälte nicht durchführbar. Die Klägerin ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Das Zurücklegen der Anmarschwege ist gewährleistet. Eine einmalige Übersiedlung ist nicht ausgeschlossen. Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß das Klagebegehren abzuweisen sei, weil bei einem Krankenstand von zwei Monaten im Jahr noch nicht von einem vermehrten Krankenstand, der die Berufsunfähigkeit zur Folge habe, gesprochen werden könne. Das Berufungsgericht gab dem Klagebegehren infolge der Berufung der Klägerin statt. Krankenstände in der voraussichtlichen Dauer von zwei Monaten im Jahr hätten den Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt zur Folge. Die Klägerin dürfe den Arbeitgeber nicht über ihren Gesundheitszustand täuschen und müsse damit rechnen, daß sie spätestens innerhalb von sechs Monaten ab Beginn des Arbeitsverhältnisses unanfechtbar gekündigt werde. Ein genau kalkulierender Arbeitgeber werde wegen der ihn gemäß § 8 Abs 1 AngG treffenden Entgeltfortzahlungspflicht das Arbeitsverhältnis beenden. Auf Grund der Möglichkeit zu bloß kurzfristigen Arbeitsverhältnissen könne die Verweisbarkeit im Sinn des § 273 ASVG nicht mehr bejaht werden. Der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 10 Ob S 101/89 (= SSV-NF 3/45) könne nicht gefolgt werden, weil darin die unterschiedliche Position, die ein Angestellter gegenüber einem Arbeiter in der Frage der Entgeltfortzahlung und die ein Stellenwerber gegenüber einem mehr als sechs Monate beschäftigten Arbeitnehmer habe, nicht berücksichtigt werde. Die durchschnittliche Krankenstandsdauer könne daher nicht zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn eines Aufhebungsbegehrens, das im Revisionsantrag enthalten ist (SZ 48/1; SZ 48/19 ua), berechtigt. Der Einwand des Berufungsgerichtes gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 3/45 geht insofern fehl, als darin von Krankenständen mit einer durchschnittlichen Dauer von sechs Wochen im Jahr ausgegangen wurde. Für den Fall, daß die infolge des vorhandenen Leidens zu erwartenden Krankenstände acht Wochen erreichen, hat auch der Oberste Gerichtshof in seiner - allerdings erst nach dem Berufungsurteil ergangenen - Entscheidung vom 5. Dezember 1989, 10 Ob S 385/89 (= SSV-NF 3/152 - in Druck) den Ausschluß vom Arbeitsmarkt bejaht.

Der Oberste Gerichtshof hält in diesem Zusammenhang an seiner Ansicht fest, daß für die Lösung der Frage, welche Krankenstände von Arbeitgebern im allgemeinen ohne besonderes Entgegenkommen hingenommen werden, die vom Österreichischen Statistischen Zentralamt ermittelten durchschnittlichen Krankenstände einen geeigneten Anhaltspunkt bilden können, weil sich daraus ableiten läßt, mit welchen Krankenständen der Arbeitgeber bei jedem Arbeitnehmer rechnen muß. Weicht die Dauer der beim Versicherten zu erwartenden Krankenstände hievon nicht allzusehr ab, so kann ein Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vorliegen. Die vom Berufungsgericht ins Treffen geführte, im Hinblick auf § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG bestehende Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis vor Ablauf von sechs Monaten leichter zu kündigen, ist hiebei ohne Bedeutung, zumal für viele Betriebe Betriebsräte gemäß § 40 ArbVG nicht zu bilden sind. Ebenso wenig ist es gerechtfertigt, zwischen Arbeitern und Angestellten zu unterscheiden. Der Umstand, daß bei Angestellten, die unter das AngG oder das GutsangG fallen, § 8 EFZG nicht anzuwenden ist und der Arbeitgeber daher keinen Anspruch auf Erstattung des während des Krankenstandes fortgezahlten Entgelts hat, wird dadurch ausgeglichen, daß die Bindung zum Arbeitgeber bei Angestellten gewöhnlich enger als bei Arbeitern ist. Dazu kommt noch, daß bei Angestellten für die Kündigung des Arbeitsvertrages in der Regel längere Fristen als bei Arbeitern gelten. Der Arbeitgeber wird bei Angestellten die Kündigung auch aus diesem Grund weniger leicht als bei Arbeitern in Betracht ziehen. Wegen dieser Umstände fällt in dem hier zu erörternden Zusammenhang auch nicht entscheidend ins Gewicht, daß die Krankenstände der Angestellten im Durchschnitt beträchtlich kürzer als jede der Arbeiter sind (vgl InfAS 1990, 23). Krankenstände schließen in erster Linie nämlich nicht deshalb vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus, weil der Versicherte einen Arbeitsplatz nicht findet, sondern vor allem deshalb, weil die Gefahr einer Kündigung besteht. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung SSV-NF 3/45 schließlich auch hervorgehoben, daß es sich bei den Werten, von denen er ausgegangen ist, um Durchschnittswerte aller Altersgruppen handelt. Dies bedeutet, daß bei älteren Arbeitnehmern im allgemeinen auch im Durchschnitt mit längeren Krankenständen zu rechnen sein wird (vgl InfAS 1990, 23). Das Berufungsgericht hat bei der rechtlichen Beurteilung der Sache zu Unrecht angenommen, daß bei der Klägerin mit jährlichen Krankenständen in der Dauer von zwei Monaten zu rechnen ist; dies wurde vom Erstgericht nicht festgestellt. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes sind die Krankenstände vielmehr nicht jährlich, sondern im Durchschnitt nur in Abständen von zwei Jahren aufgetreten, wobei zweimal sogar zwei aufeinanderfolgende Jahre frei von Krankenständen waren, die auf das vorhandene Leiden der Klägerin zurückzuführen sind.

In Sozialrechtssachen gelten unbeschadet der Sonderregelung des § 87 Abs 4 ASGG ebenfalls die allgemeinen Regeln über die (objektive) Beweislast, weshalb jeder, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die rechtsbegründenden Tatsachen beweisen muß (Fasching in Tomandl, System 4. ErgLfg 728/13 ff und ZPR2 Rz 2315/2 iVm Rz 882; SSV-NF 1/48). Dies bedeutet für die Frage des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt infolge von Krankenständen, daß im allgemeinen vom bisherigen Krankheitsverlauf ausgegangen werden kann und daß es Sache des Versicherten ist, eine Verschlechterung für die Zukunft zu beweisen, wofür allerdings ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit genügt (10 Ob S 274/89 = SSV-NF 3/120 - im Druck). Demnach ist hier davon auszugehen, daß im Durchschnitt nur alle zwei Jahre mit "Schüben" zu rechnen ist. Unter dieser Annahme ist aber entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes infolge der zu erwartenden Krankenstände ein Ausschluß vom Arbeitsmarkt nicht gegeben, weil die Krankenstände, die auf das vorhandene Leiden der Klägerin zurückgehen, im Jahresdurchschnitt nur etwa ein Monat betragen (ebenso für einen solchen Fall schon 10 Ob S 128/89). Dabei ist ohne Bedeutung, daß bei der Klägerin die Krankenstände bisher zwar nicht jährlich auftraten, nach den Feststellungen des Erstgerichtes aber "bis zu zwei Monaten" dauern konnten. Zwar ist es möglich, daß besonders lange Krankenstände den Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt auch dann zur Folge haben, wenn sie nur in Abständen von mehreren Jahren zu erwarten sind; dies trifft aber bei Krankenständen in der Dauer von zwei Monaten bei weitem nicht zu. Die Klägerin hat in ihrer Berufung die Feststellungen des Erstgerichtes über die Dauer der Krankenstände bekämpft und die Feststellung gefordert, daß jährlich Krankenstände in der Dauer von drei Monaten zu erwarten sind. Das Berufungsgericht hat sich mit dieser Beweisrüge nicht auseinandergesetzt, weshalb sein Urteil an einem Mangel leidet. Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil die von der Klägerin geforderte Feststellung zur Folge hätte, daß sie vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen und daher berufsunfähig im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG wäre. Die Rechtssache muß deshalb an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung zurückverwiesen werden. Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommen, daß die Klägerin im Sinn der vorstehenden Ausführungen nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, wo wäre zu beachten, daß bisher Feststellungen über den Inhalt der von ihr zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit und über die ihr zumutbaren Verweisungsberufe fehlen.

Anmerkung

E21280

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00020.9.0313.000

Dokumentnummer

JJT_19900313_OGH0002_010OBS00020_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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