TE OGH 1990/6/7 7Ob21/90

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Veröffentlicht am 07.06.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta, Dr.Egermann, Dr.Niederreiter und Dr.Schalich als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DER A*** Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft, Wien 1., Hoher Markt 10-12, vertreten durch Dr.Thomas Pittner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Martin P***, Installateur, Purgstall, Feichsenstraße 38, vertreten durch Dr.Georg Thum, Rechtsanwalt in St.Pölten, wegen S 100.000,--, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 9.Februar 1990, GZ 12 R 149/89-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St.Pölten vom 16. März 1989, GZ 4 Cg 121/88-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auf die Kosten des Revisionsverfahrens gleich weiteren Kosten des Berufungsverfahrens Bedacht zu nehmen haben wird.

Text

Begründung:

Am 26.1.1986 gegen 0.30 Uhr ereignete sich auf der Landesstraße zwischen Feichsen und Purgstall ein Verkehrsunfall, bei dem der Beklagte mit seinem bei der klagenden Partei haftpflichtversicherten Motorfahrrad einen Fußgänger niederstieß und schwer verletzte. Der Beklagte wurde deshalb nach § 88 Abs. 1 und 4 StGB rechtskräftig verurteilt.

Die klagende Partei begehrt vom Beklagten unter Berufung auf die Bestimmung des § 9 Abs. 2 Z. 2 AKHB den Rückersatz erbrachter Aufwendungen in dem nach § 9 Abs. 3 AKHB begrenzten Rahmen von S 100.000,--. Der Beklagte sei alkoholisiert gewesen und habe sich nach dem Verkehrsunfall vom Unfallsort entfernt, ohne unverzüglich die nächste Polizeidienststelle zu verständigen. Es sei deshalb über ihn von der Bezirkshauptmannschaft Scheibbs eine Geldstrafe verhängt worden. Im Zuge des Verfahrens brachte die klagende Partei noch vor, sie stütze ihren Rückforderungsanspruch auch darauf, daß der Beklagte mit einer nicht ordnungsgemäßen Ausstattung (ungeeignetes Visier) gefahren sei.

Der Beklagte beantragt die Abweisung der Klage. Er sei weder alkoholisiert gewesen, noch habe er sich ohne Verständigung der nächsten Polizeidienststelle vom Unfallsort entfernt. Die Höhe des Klagebegehrens steht außer Streit.

Das Erstgericht wies die Klage ab und traf folgende Feststellungen:

Der Beklagte befand sich zur Zeit des Unfalls auf der Heimfahrt nach einem Gasthausbesuch. Er kam beim Unfall ebenfalls zu Sturz und erlitt eine leichte, nicht weiter behandelte Verletzung. Nach dem Unfall kümmerte sich der Beklagte sogleich mit einem weiteren Fußgänger, der ihn auch namentlich kannte, um den Verletzten und bettete ihn außerhalb der Fahrbahn auf Kleidungsstücke.

Manfred S*** und Kurt E***, zwei Fußgänger

aus der Gruppe des Verletzten, fuhren über Aufforderung des Beklagten mit dessen Moped zum Arzt Dr.B*** nach Purgstall, um diesen vom Unfall zu verständigen. Der Beklagte kümmerte sich weiter um den Verletzten. Kurz darauf hielt der unbeteiligte PKW-Lenker Ing.Walter M*** an und erkundigte sich, wer verständigt worden sei. Er bot sich an, die Gendarmerie zu verständigen, was auch geschah.

In der Folge traf der Arzt Dr.B*** an der Unfallstelle ein, kümmerte sich um den Verletzten und verständigte die Rettung. Der Beklagte war immer zugegen. Der Arzt wurde darüber informiert, daß der Verletzte vom Beklagten niedergestoßen worden sei. Schließlich kamen auch der Gendarmeriebeamte Alfred H*** und die Rettung zum Unfallsort.

Nach dem Abtransport des Verletzten sprach Dr.B*** noch mit dem Gendarmeriebeamten über die Verletzung und fuhr dann mit seinem PKW nach Purgstall zurück. Da er wußte, daß der Beklagte kein Fahrzeug mehr hatte, lud er diesen zur Mitfahrt ein. Der Beklagte nahm das Angebot an und fuhr mit dem Arzt nach Purgstall zurück. Der Beklagte hielt sich zugleich mit dem Gendarmeriebeamten einige Minuten lang an der Unfallstelle auf. Der Beamte stellte keine Fragen nach dem Mopedlenker, doch meldete sich der Beklagte auch nicht ausdrücklich beim Gendarmeriebeamten. Dieser mußte den Beklagten als den Lenker erst durch Fragen an andere Beteiligte ausforschen.

Der Beklagte hat nachmittags und abends während seines Gasthausaufenthaltes Bier in einer nicht genau feststellbaren Menge getrunken. Zur Tatzeit betrug der Blutalkoholwert sicher nicht über 0,8 %o. Der Beklagte zeigte keinerlei Zeichen einer Alkoholisierung und war nicht fahruntüchtig.

In seiner rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht die Ansicht, der Vorwurf der klagenden Partei, der Beklagte habe sich vom Unfallsort ohne unverzügliche Verständigung der nächsten Polizeidienststelle entfernt, sei ebenso verfehlt wie die Behauptung einer Obliegensheitsverletzung im Sinne des § 9 Abs. 2 Z. 2 AKHB. Der Beklagte, der dem Arzt, dem Verletzten und dessen Begleitern persönlich bekannt gewesen sei, habe nichts getan, um seine Beteiligung am Unfall in irgend einer Form zu verschleiern. Dem Beklagten sei der Beweis gelungen, daß er nicht alkoholbedingt fahruntüchtig gewesen sei, und daß er zum Unfallszeitpunkt keinen rechtserheblichen Blutalkoholwert aufgewiesen habe; der Verdacht einer Alkoholisierung sei von allen Beteiligten verneint worden. Das Berufungsgericht gab der Klage statt und sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig ist. Es ging auf die Ausführungen der klagenden Partei zum Berufsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung nicht ein, weil es die Rechtsrüge, selbst ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen, als berechtigt ansah. Die Pflicht, nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhaltes beizutragen, umfasse auch die Person des beteiligten Fahrzeuglenkers, so etwa, ob er zur Lenkung des am Verkehrsunfall beteiligten Fahrzeuges berechtigt war und ob er äußerlich den Anschein erweckte, sich körperlich und geistig in einem zur Lenkung des Fahrzeuges geeigneten Zustand zu befinden. Entferne sich ein Unfallbeteiligter vom Unfallort, ohne seinen Namen mitzuteilen, verstoße er gegen die Mitwirkungspflicht im Sinne des § 4 Abs. 1 lit. c StVO. Stehe aber eine Obliegensheitsverletzung im Sinne des § 9 Abs. 2 Z. 2 AKHB fest, obliege dem Versicherungsnehmer der Beweis, daß er trotz eines Verdachtes auf Alkoholisierung im Unfallszeitpunkt nicht durch Alkohol beeinträchtigt war und die Erfüllung der genannten Obliegenheiten auf keinen Fall zu einem anderen Ergebnis der Aufklärung geführt hätte, als dies bei ihrer Unterlassung der Fall gewesen ist. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes habe der Blutalkoholwert des Beklagten zur Tatzeit "sicher nicht über 0,8 %o" betragen. Zum Nachteil des Beklagten sei daher von einem möglichen Blutalkoholwert von 0,8 %o auszugehen; dem Beklagten sei daher der Beweis mangelnder Alkoholisierung nicht gelungen. Die ordentliche Revision sei zuzulassen gewesen, weil über den Umfang der Pflicht, nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen, eine hinreichend gesicherte Rechtsprechung nicht bestehe.

Der Beklagte bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision aus den Revisionsgründen des § 503 Z. 2 und 4 ZPO mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisions ist berechtigt.

Zu Recht rügt es der Beklagte als eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, daß das Berufungsgericht ohne Durchführung eines Beweisverfahrens hinsichtlich der Feststellung des Blutalkoholwertes des Beklagten "eine andere Feststellung als das Erstgericht getroffen bzw. in unzulässiger Weise die diesbezügliche Feststellung zum Nachteil des Beklagten interpretiert hat". Zwar hat das Erstgericht festgestellt, daß der Blutalkoholwert des Beklagten zur Tatzeit "sicher nicht über 0,8 %o" betrug, woraus - ohne Berücksichtigung der weiteren Ausführungen des Erstgerichtes - abgeleitet werden könnte, er habe immerhin gerade 0,8 %o betragen. Doch hat das Erstgericht auch als erwiesen angenommen, daß der Beklagte keinerlei Zeichen einer Alkoholisierung gezeigt habe. Es ist in der Beweiswürdigung und in der rechtlichen Beurteilung zum Ergebnis gekommen, daß dem Beklagten von medizinischer Seite kein rechtserheblicher Blutalkoholwert zum Unfallszeitpunkt nachzuweisen sei und daß bei ihm keinerlei Verdacht auf Alkoholisierung bestanden habe. Ungeachtet der vielleicht mißverständlichen Ausdrucksweise, der Blutalkoholwert des Beklagten habe zur Tatzeit "sicher nicht über 0,8 %o" betragen, besteht deshalb kein Zweifel darüber, daß das Erstgericht bei seiner Entscheidung von der Überzeugung ausgegangen ist, der Beklagte habe sich nicht in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden (§ 5 Abs. 1 StVO). Ist aber das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß der Beklagte einen Blutalkoholgehalt von 0,8 %o aufgewiesen und sich sohin in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden habe, ist es von dem Sachverhalt, den das Erstgericht seiner Entscheidung zugrundegelegt hat, ohne Beweiswiederholung abgegangen und hat damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt. Sein Verfahren ist deshalb mangelhaft geblieben.

Nach § 9 Abs. 2 Z. 2 AKHB 1985 wird als Obliegenheit, bei deren Verletzung sich die Leistungspflicht des Versicherers auf den Betrag beschränkt, den er auch bei gehöriger Erfüllung der Pflichten zu leisten gehabt hätte, bestimmt, nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen. Anders als im Fall des § 6 Abs. 3 VersVG, in dem eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung immer zur vollen Leistungsfreiheit des Versicherungsunternehmens führt, kann demnach der Versicherungsnehmer auch bei Vorsätzlichkeit seiner Obliegenheitsverletzung die Leistungspflicht des Versicherers durch den Beweis erwirken, daß bei ihm mit Sicherheit zur Unfallszeit kein durch Alkohol beeinträchtigter Zustand im Sinne des § 5 Abs. 1 StVO gegeben war (SZ 49/129 u.a.).

Das Revisionsgericht pflichtet der zweiten Instanz darin bei, daß der Beklagte seine Aufklärungspflicht verletzt hat. Die Aufklärungspflicht wird verletzt, wenn dadurch im konkreten Fall etwas verabsäumt wurde, was der Aufklärung des Schadensereignisses dienlich gewesen wäre (ZVR 1979/294). Der Beklagte hat sich von der Unfallstelle - mag er sich an dieser auch eine Zeit lang in Gegenwart eines erhebenden Gendarmeriebeamten befunden haben - entfernt, ohne seinen Namen anzugeben und ohne dem Gendarmeriebeamten die Möglichkeit zu geben, festzustellen, ob er sich körperlich und geistig in einem zur Lenkung eines Motorfahrrades geeigneten Zustand befunden hat. Der Verdacht einer Alkoholisierung des Beklagten aber war nach den Umständen (Unfallszeit, vorausgegangener Gasthausbesuch des Beklagten) keineswegs ausgeschlossen. Ob diese Obliegenheitsverletzung vorsätzlich geschehen ist - für Vorsatz im Sinne des § 6 Abs. 3 VersVG genügt das allgemeine Bewußtsein, daß ein Haftpflichtversicherter bei der Aufklärung des Sachverhalts nach besten Kräften mitwirken muß, wobei dieses Bewußtsein heute bei einem Versicherten in der Regel vorauszusetzen ist

(ZVR 1971/162) - oder ob dem Beklagten ein derartiger Vorsatz gefehlt hat, weil er etwa der Meinung war, er sei ohnedies den an der Unfallstelle anwesenden Personen bekannt und er könne zu weiteren Erhebungen nichts mehr beitragen, kann dahingestellt bleiben, weil dem Beklagten in jedem Fall der Beweis offensteht, er habe sich - ungeachtet eines Verdachts auf Alkoholisierung - zur Unfallszeit nicht in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden (SZ 50/37, SZ 49/129 u.a.).

Die Feststellungen des Erstgerichtes, nach denen der Beklagte zur Unfallszeit nicht in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand war, wurden von der klagenden Partei im Berufungsverfahren unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung bekämpft. Das Berufungsgericht hat sich mit diesem Berufungsgrund bisher nicht auseinandergesetzt. Die angefochtene Entscheidung war deshalb in Stattgebung der Revision aufzuheben und es war der zweiten Instanz eine neue Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt erfolgte nach § 52 ZPO.

Anmerkung

E21457

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:0070OB00021.9.0607.000

Dokumentnummer

JJT_19900607_OGH0002_0070OB00021_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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