TE OGH 1990/9/5 2Ob596/90

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Veröffentlicht am 05.09.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Vogel, Dr.Melber, Dr.Kropfitsch und Dr.Zehetner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Andrea A***, geboren am 13.Oktober 1980, infolge Revisionsrekurses der B*** V***

als Jugendwohlfahrtsträger gegen den Beschluß des Landesgerichtes Klagenfurt als Rekursgericht vom 5.Juli 1990, GZ 2 R 305/90-10, womit der Rekurs der B*** V*** gegen den Beschluß des Bezirksgerichtes Villach vom 6.Juni 1990, GZ P 748/80-7, zurückgewiesen wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die am 13.10.1980 geborene Andrea A*** ist ein außerehelich geborenes Kind der Annemarie A***. Die Vaterschaft zu diesem Kind wurde von Alfred P*** anerkannt. Die Obsorge für das Kind stand der Mutter zu. Sie ist am 30.4.1990 verstorben. Daraufhin stellte die B*** V***,

Bezirksjugendamt (in der Folge als Jugendwohlfahrtsträger bezeichnet), den Antrag, die Obsorge für das Kind an Anna P***, die Großmutter väterlicherseits, zu übertragen. Das Kind habe sich schon in der Vergangenheit zeitweilig bei ihr aufgehalten, sodaß zwischen den beiden ein sehr guter Kontakt bestehe. Außerdem lebe im Haushalt der Großmutter auch der Vater des Kindes, wodurch die Familie kompletter sei. Es könne angenommen werden, daß zwischen der Großmutter und dem Kind ein Verhältnis bestehe, welches jenem zwischen leiblicher Mutter und Kind gleichkomme. Auch Anna P*** hat in einer vor dem Jugendamt aufgenommenen Niederschrift beantragt, ihr im Sinne des § 145 ABGB die Obsorge für das Enkelkind zu übertragen.

Das Erstgericht übertrug die Obsorge (Pflege und Erziehung, Vermögensverwaltung und Vertretung) für das Kind gemäß § 145 Abs 1 zweiter Satz ABGB an den Vater Alfred P*** im wesentlichen mit der Begründung, daß sich Vater und Großmutter darauf geeinigt hätten, daß die Obsorge ihm zukomme, das Kind aber im Einvernehmen in Pflege und Erziehung bei der Großmutter verbleibe. Wenn auch eine Übertragung der Obsorge an die Großmutter dem Wohl des Kindes nicht minder entspräche, beruhe die Übertragung der Obsorge an den Vater auf der erzielten Einigung der beiden in Frage kommenden Personen und wohl auch dem näheren Grad der Verwandtschaft zum Kind. Den gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs des Jugendwohlfahrtsträgers wies das Rekursgericht im wesentlichen unter Berufung auf Pichler in JBl 1989, 682 ff und in Rummel, ABGB2, Rz 2 zu § 215, mit der Begründung zurück, daß dem Jugendwohlfahrtsträger mit dem Antragsrecht nach § 215 Abs 1 erster Satz ABGB nicht auch Parteistellung und Rechtsmittellegitimation zustehe. Das Rekursgericht sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nach § 14 Abs 1 AußStrG zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichtes richtet sich der Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und den Beschluß des Erstgerichtes dahin abzuändern, daß die Obsorge für das Kind der väterlichen Großmutter Anna P*** übertragen wird; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Dieses Rechtsmittel ist zulässig, sachlich aber nicht berechtigt. Es war vor dem Inkrafttreten des Kindschaftsrecht-Änderungsgesetzes BGBl 1989/162 in Lehre und Rechtsprechung unbestritten, daß im Verfahren nach § 176 ABGB der Bezirksverwaltungsbehörde Parteistellung und Rechtsmittellegitimation nicht zukam (EFSlg 39.605 mwN ua). Nach der durch das KindRÄG eingeführten und nunmehr in Geltung stehenden Vorschrift des § 215 Abs 1 ABGB hat der Jugendwohlfahrtsträger die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen (Satz 1). Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung als Sachwalter vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen, die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen beantragt (Satz 2).

In der Literatur wird die Vorschrift des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB unterschiedlich ausgelegt. Während Pichler in JBl 1989, 682 ff und in Rummel, ABGB2, Rz 2 zu § 215, die Ansicht vertritt, daß sie nur die subjektive Pflicht des Jugendwohlfahrtsträgers zum Tätigwerden, nicht aber seine Parteistellung und Rechtsmittellegitimation begründe, kommen Klein in ÖAV 1990, 10 ff und wohl auch Klein-Strauß-Brosch in ÖAV 1989, 94 zu dem Ergebnis, daß in derartigen Fällen dem Jugendwohlfahrtsträger Parteistellung und Rechtsmittellegitimation zuzubilligen sei.

Oberstgerichtliche Rechtsprechung liegt dazu nicht vor. Die bloße Wortinterpretation dieser Gesetzesstelle bietet keinen eindeutigen Anhaltspunkt für die Richtigkeit einer der dargestellten Lehrmeinungen. Aus dem Gesetzesauftrag an den Jugendwohlfahrtsträger, die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen, läßt sich nicht ohne weiteres ableiten, daß ihm in derartigen Fällen auch die Legitimation zur Erhebung von Rechtsmitteln gegen nicht antragsgemäße gerichtliche Entscheidungen eingeräumt wurde.

Die Gesetzesmaterialien sprechen eher dagegen. In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage

(172 BlgNR XVII. GP 22) wird zu § 215 Abs 1 erster Satz ABGB ausgeführt, der Jugendwohlfahrtsträger solle nunmehr ganz allgemein verpflichtet sein, die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen in den Bereichen der Pflege und Erziehung, der Vermögensverwaltung und der gesetzlichen Vertretung beim Pflegschaftsgericht zu beantragen, wenn er von der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen Kenntnis erlange. Dies sei deshalb notwendig, weil das "Jugendamt" zumeist weitaus früher von Mißständen in der Erziehung Minderjähriger informiert werde als das Pflegschaftsgericht. Wenn hier nur von einer Verpflichtung des Jugendwohlfahrtsträgers zur Antragstellung beim Pflegschaftsgericht gesprochen, ihm aber in einem derartigen Verfahren nicht ausdrücklich Parteistellung und Rechtsmittellegitimation eingeräumt wird, erscheint dies um so mehr von Bedeutung, als an anderer Stelle der Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage

(172 BlgNR XVII. GP 12) ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß die Aufgaben des Jugendwohlfahrtsträgers im Vormundschaftswesen im Gesetz im Zusammenhang mit den betreffenden Sachfragen jeweils abschließend geregelt seien; dabei wird unter anderem ausdrücklich auf die §§ 211 ff ABGB in der Fassung des Entwurfes hingewiesen. Darüber hinaus fällt auf, daß der Gesetzgeber in den Fällen des § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB den Jugendwohlfahrtsträger ausdrücklich als Sachwalter des Kindes bezüglich der dort in Frage kommenden Maßnahmen der Pflege und Erziehung bezeichnete (und damit seine Parteistellung und Rechtsmittellegitimation im Pflegschaftsverfahren in diesem Umfang eindeutig klarstellte), während eine gleiche Anordnung im § 215 Abs 1 erster Satz ABGB fehlt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß dem Gesetzgeber die historische Entwicklung des Aufgabenbereiches der Jugendämter (siehe dazu Pichler in JBl 1989, 683) und der Umstand, daß den Jugendämtern in der Rechtsprechung Parteistellung und Rechtsmittellegitimation nur insoweit zuerkannt wurde, als sie ihnen rechtlich zugeordnete Interessen zu vertreten hatten (vgl SZ 57/10 ua), nicht bekannt gewesen wäre.

Es ist vielmehr unter diesen Umständen anzunehmen, daß der Gesetzgeber, wenn er beabsichtigt hätte, dem Jugendwohlfahrtsträger in den Fällen des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB im Pflegschaftsverfahren Parteistellung und Rechtsmittellegitimation einzuräumen, dies in deutlicher Form zum Ausdruck gebracht hätte. Da dies dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen ist, die dargestellten Gesetzesmaterialien vielmehr eher dagegen sprechen, ist nach Meinung des erkennenden Senates die Rechtsansicht des Rekursgerichtes zu billigen, daß die Bestimmung des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB nur die subjektive Pflicht des Jugendwohlfahrtsträgers zum Tätigwerden begründet, daß ihm aber auf Grund dieser Bestimmung allein Parteistellung und Rechtsmittellegitimation im Pflegschaftsverfahren in derartigen Fällen nicht eingeräumt wird (so auch Pichler aaO). Die Rechtsmittelausführungen des Jugendwohlfahrtsträgers vermögen nicht zu überzeugen.

Es trifft nicht zu, daß sich die Vorschrift des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB ohne Parteistellung des Jugendwohlfahrtsträgers als "überflüssige Leerformel" darstellt, weil die "Popularklage" des § 176 Abs 1 ABGB ohne Parteirecht auch dem Jugendwohlfahrtsträger offensteht. Auch nach der oben vertretenen Auslegung der Bestimmung des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB enthält diese Gesetzesstelle eine Verpflichtung des Jugendwohlfahrtsträgers zum Tätigwerden; insoweit handelt es sich keineswegs um eine "Leerformel". Aus welchen sachlichen Gründen in den Fällen des § 215 Abs 1 erster Satz ABGB dem Jugendwohlfahrtsträger nicht die Stellung eines Sachwalters zuerkannt wurde, vermögen auch die Rechtsmittelausführungen nicht aufzuklären. Die Wahrung des Kindeswohles ist in derartigen Fällen durch die dem Gericht obliegende Entscheidung über den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers durchaus auch dann gewährleistet, wenn dem Jugendwohlfahrtsträger Parteistellung und Rechtsmittellegitimation nicht eingeräumt wird.

Dem vorliegenden Revisionsrekurs muß daher ein Erfolg versagt bleiben.

Anmerkung

E21352

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:0020OB00596.9.0905.000

Dokumentnummer

JJT_19900905_OGH0002_0020OB00596_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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