TE OGH 1990/9/25 10ObS318/90

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Veröffentlicht am 25.09.1990
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Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Göstl und Dkfm.Dr.Franz Schulz (beide Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Karl S***, 4371 Dimbach, Vorderdimbach 29, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei S*** DER B***, 1031 Wien, Ghegastraße 1,

vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.Juni 1990, GZ 12 Rs 76/90-14, womit das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20.März 1990, GZ 14 Cgs 145/89-8, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Der am 6.8.1927 geborene Kläger war selbständiger Landwirt und daneben V***-Arbeiter. Wegen schwerer Beeinträchtigungen des Stützapparates bezieht er seit 1981 von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Invaliditätspension. Seit dieser Zeit ist der Kläger nicht mehr in der Lage, eine regelmäßige Arbeitsleistung zu vollbringen; er konnte lediglich gelegentlich leichte Arbeiten durchführen. Am 9.9.1988 verletzte er sich bei Erweiterungsarbeiten für die Bienenhütte auf seinem landwirtschaftlichen Grundstück mit einer Kreissäge. Mit Bescheid vom 4.10.1989 anerkannte die beklagte

S*** DER B*** den geschilderten Unfall gemäß §§ 175 ff ASVG als Arbeitsunfall. Die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen dieses Arbeitsunfalles wurde gemäß § 203 ASVG mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger bereits vor dem Eintritt des Arbeitsunfalles erwerbsunfähig gewesen sei, weshalb die Folgen des Arbeitsunfalles keine Minderung der Erwerbsfähigkeit bewirken könnten.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab Beginn des 3. Monats nach dem Unfall ab. Es stellte folgenden weiteren Sachverhalt fest:

Wegen der Folgen eines Verkehrsunfalles, bei dem sich der Kläger einen Kompressionsbruch des dritten Lendenwirbelkörpers zugezogen hatte, ferner wegen höhergradiger Abnützungserscheinungen an der gesamten Wirbelsäule mit entsprechenden Bandscheibenschäden, Einschränkungen der Beweglichkeit der Wirbelsäule und segmentalen Schmerzausstrahlungen im Sinne eines Schulter-Arm-Syndroms bezieht er seit 1981 die Invaliditätspension. Am 9.9.1988 verletzte er sich bei Arbeiten mit der Kreissäge, als er Erweiterungsarbeiten für eine Bienenhütte vornehmen wollte. Auf Grund dieses Arbeitsunfalls kam es zum Verlust des Mittelgliedes des linken Kleinfingers und der Endglieder des dritten und vierten Fingers links. Der Kläger wurde wegen dieses Unfalls vom 9. bis 13.9.1988 im Krankenhaus Amstetten behandelt. Daumen und Zeigefinger der linken Hand sind nunmehr völlig frei beweglich, ebenso die Grundgelenke der teilamputierten Finger. Der Faustschluß ist links und rechts mittelkräftig. Beide Schultergelenke sind frei beweglich, lediglich in der Endlage treten Schmerzen auf. Frei beweglich sind auch beide Ellbogen und Handgelenke.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit sei denknotwendig nicht mehr möglich, wenn bereits vor dem Arbeitsunfall Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe. Ein Versicherter, der nur mehr leichte Tätigkeiten nach eigener Auswahl und in einer von ihm selbst bestimmten Zeiteinteilung verrichten könne, sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar, weil seine Einsatzfähigkeit vom Wohlwollen und der Nachsicht des Dienstgebers abhängig wäre. Damit sei er nicht mehr erwerbsfähig im Sinne des Unfallversicherungsrechtes. Der Kläger könne seit 1981 nur mehr gelegentlich leichte Arbeiten verrichten. Er sei somit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht verweisbar, was einer 100 %-igen Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits vor dem Unfall vom 9.9.1988 gleichzusetzen sei.

Das Berufungsgericht hob über Berufung des Klägers das Urteil des Erstgerichtes auf und verwies die Sache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Aus der Invalidität des Klägers betreffend seine unselbständige Erwerbstätigkeit folge nicht notwendig Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechtes. Vielmehr sei zu untersuchen, inwieweit Erwerbsfähigkeit trotz der die Invalidität begründenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor dem Unfall noch vorhanden gewesen sei. Zur Feststellung, ob und inwieweit die Erwerbsmöglichkeiten des Klägers durch den Unfall berührt worden seien, genügten die bisherigen Verfahrensergebnisse nicht. Es werde zu berücksichtigen sein, welche Durchschnittsverdienste der Kläger allenfalls aus den ihm noch offenstehenden Beschäftigungsmöglichkeiten vor dem Unfall erzielen konnte. Diese würden mit den verbleibenden Verdienstmöglichkeiten nach dem Unfall zu vergleichen sein.

Gegen diesen Beschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der für zulässig erklärte (§ 45 Abs 4 ASGG) unrichtig als "Revisionsrekurs" bezeichnete (Fasching ZPR2 RZ 1967) Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, in der Sache selbst zu entscheiden und das abweisliche Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beteiligte sich am Rekursverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist der Grad der durch die Unfallfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich abstrakt nach dem Unfall aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 = JBl 1988, 259 = DRdA 1989, 128), also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen (Teschner-Fürböck, ASVG 46. ErgLfg. 1024 Anm. 1 zu § 203; SSV-NF 3/22 mit weiteren Nachweisen). Dem Berufungsgericht ist daher darin beizupflichten, daß aus der Gewährung einer Invaliditätspension an den Kläger gemäß § 255 ASVG nicht notwendig Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechtes folgen kann, sondern daß zu untersuchen ist, inwieweit Erwerbsfähigkeit im oben definierten Sinn trotz der die Invalidität begründenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor dem Unfall noch vorhanden war.

Entgegen der Ansicht der Rekurswerberin reichen aber die bisherigen Feststellungen zur Beurteilung dieser Frage nicht aus. Demnach ist der Kläger auf Grund krankhafter Veränderungen seines körperlichen Zustandes seit 1981 nicht mehr in der Lage, eine "regelmäßige Arbeitsleistung" zu vollbringen; er konnte lediglich "gelegentlich" leichte Arbeiten durchführen. Aus dieser Feststellung ergibt sich aber nicht ausreichend deutlich, daß der Kläger bereits vor dem Arbeitsunfall vom 9.9.1988 die Fähigkeit, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen, gänzlich verloren hatte. Nur eine schon vor dem Arbeitsunfall (oder der Berufskrankheit) eingetretene gänzliche Erwerbsunfähigkeit des Versehrten schließt eine weitere Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit einen Anspruch auf Versehrtenrente aus (Tomandl in Tomandl, SV-System

4. ErgLfg 331; ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als bis 31.12.1986 letzter Instanz in Leistungsstreitsachen, zB SSV 23/112, 22/47, 20/39, 13/78 = ZAS 1974, 186 mit zust-Besprechung von Radner ua; ebenso in der Bundesrepublik Deutschland: Brackmann, SV-Handbuch III 56.Nachtrag 568 d mwN; OGH 25.9.1990 10 Ob S 280/90 mwN). Entscheidend ist im Sinne eines richtigen Verständnisses der gänzlichen Erwerbsunfähigkeit nämlich die Unfähigkeit, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb zu verschaffen, was mit der Unfähigkeit, eine "regelmäßige Arbeitsleistung" zu erbringen, nicht gleichgesetzt werden darf. Diesbezüglich sind daher weitere Feststellungen erforderlich, die eine verläßliche Beurteilung möglich machen, ob und in welchem Ausmaß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalles vermindert ist. Die auf dem insoweit unzulänglichen medizinischen Sachverständigengutachten basierende Feststellung, der Kläger habe keine "regelmäßige" Arbeitsleistung, sondern nur "gelegentlich" leichte Arbeiten vollbringen können, ist zu unbestimmt und läßt vor allem nicht erkennen, was der Begriff "gelegentlich" umschreibt. Aus diesen Erwägungen bedarf es einer Ergänzung des erstgerichtlichen Verfahrens und der Sachverhaltsfeststellungen, weshalb dem Rekurs ein Erfolg versagt bleiben muß.

Anmerkung

E22236

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00318.9.0925.000

Dokumentnummer

JJT_19900925_OGH0002_010OBS00318_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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