TE OGH 1990/11/6 10ObS134/90

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Veröffentlicht am 06.11.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (Arbeitgeber) und Alfred Klair (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Helmut F***, ohne Beschäftigung,

9100 Völkermarkt, Jauntalweg 7, vertreten durch Dr. Karlheinz Waysocher, Rechtsanwalt in Völkermarkt, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Dezember 1989, GZ 8 Rs 117/89-31, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 9. Juni 1989, GZ 31 Cgs 57/89-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die erstgerichtliche Entscheidung wiederhergestellt wird. Der Kläger hat seine Kosten des Berufungsverfahrens und der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 17.3.1988 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 23.11.1987 auf Berufsunfähigkeitspension ab, weil er nicht berufsunfähig im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG sei. Im ersten Rechtsgang gab das Erstgericht der auf die abgelehnte Leistung gerichteten rechtzeitigen Klage statt. Es ging dabei davon aus, daß der am 25.5.1942 geborene Kläger überwiegend im erlernten Schlosserberuf tätig gewesen sei, den er wegen des gesundheitsbedingten Absinkens seiner Arbeitsfähigkeit nicht mehr ausüben könne. Seine Arbeitsfähigkeit würde zwar für die Tätigkeit eines Kontrollschlossers ausreichen, die nur mit einer leichten körperlichen Beanspruchung ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 bis 12 kg verbunden und auch nicht in verunreinigter Luft auszuführen sei, doch dürfe er auf diese Tätigkeit nicht verwiesen werden, weil es zwar (eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen für) Kontrollschlosser gebe, die einzelnen Unternehmen diese jedoch ausschließlich aus den eigenen Arbeitnehmern rekrutierten, weshalb es an einer Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fehle. Das Berufungsgericht hob dieses Urteil in Stattgebung der Berufung der beklagten Partei auf und verwies die Sache zwecks Klärung der Art der Tätigkeiten des Klägers während der letzten 15 Jahre zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht die Klage ab. Diesmal ging es davon aus, daß der Kläger, der leichte und mittelschwere Arbeiten ohne abruptes, plötzliches Heben und Tragen, Ziehen oder Drücken von Lasten über 10 kg, direkte (ungeschützte) Sonnenbestrahlung, erhöhten Leistungs- und Zeitdruck, erhöhten Lärmeinfluß, Flackerlicht, Sauerstoffarmut, fixierte Kopfhaltung, Schicht- und Wechselschichtarbeit leisten kann und unterweisbar, verweisbar, anlernbar und umschulbar ist, weder überwiegend als Angestellter noch überwiegend in erlernten oder angelernten Arbeiterberufen tätig war. Seine Arbeitsfähigkeit reiche zwar nicht mehr für den erlernten Schlosserberuf, wohl aber zB für die Tätigkeiten eines Einlegers, Entgraters oder Wäscheauszeichners aus, auf welche Hilfsarbeitertätigkeiten er verwiesen werden dürfe. Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension vom 1.12.1987 an als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte und der beklagten Partei vom genannten Tag bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von monatlich 4.900 S auftrug.

Nach teilweiser Beweiswiederholung traf das Berufungsgericht über die Tätigkeit des Klägers während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag folgende Feststellungen:

Der Kläger war vom 1.12.1972 bis 30.11.1979 bei der Ö*** I*** K*** als Schlosser

beschäftigt und übte diese Tätigkeit dort weitaus überwiegend aus. Nur in Ausnahmsfällen wurde er zu anderen Arbeiten herangezogen; insbesondere im Winter hatte er dem Hausbesorger bei Bedarf bei der Schneeräumung zu helfen. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag liegen 137 Beitragsmonate, 34 Monate und 18 Tage bezog der Kläger Arbeitslosenunterstützung. In den genannten Beitragsmonaten war er 88 Monate und 17 Tage als Schlosser, 44 Monate und 8 Tage nicht in seinem erlernten Beruf tätig. Die Tätigkeit eines Kontrollschlossers ist eine leichte körperliche Tätigkeit, werde aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr angeboten, weil die Betriebe diese Posten aus den Reihen der eigenen Betriebsangehörigen besetzen. Durch die Einführung neuer Technologien kam es zu einer Änderung der Einstellungsvoraussetzungen für Schlosser ohne Spezialisierung. Der technische Fortschritt im Apparate- und Gerätebau verursachte eine Teilung in die industrielle Massenproduktion einfacher Maschinen und Geräte und in die Herstellung und den Zusammenbau sowie die Prüfung von Spezial- und Präzisionsgeräten, bei denen auch häufig datenverarbeitende Techniken eingesetzt werden. Während die industrielle Massenproduktion von eingeschulten Hilfsarbeitern kontrolliert wird, reichen die handwerklichen Kenntnisse eines Schlossers ohne Spezialausbildung für eine Tätigkeit an den Spezial- und Präzisionsgeräten nicht mehr aus. Man unterscheidet jetzt zwischen qualifizierten Kontrolltätigkeiten und einfachen Kontrollarbeiten in den Fertigungs- und Kontrollabteilungen von Metallbetrieben, die sich mit der Bearbeitung von in Serie hergestellten kleinen Werkstücken befassen. Dabei handle es sich um qualifizierte Hilfsarbeiten, auf die sich ein gelernter Arbeiter nicht verweisen lassen müsse. Daher gibt es die Tätigkeit eines qualifizierten Kontrollschlossers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr. Diese Tätigkeit komme für den Kläger als Schlosser ohne Qualifizierung ohnehin nicht in Frage.

Nach der rechtlichen Beurteilung der zweiten Instanz sei die geminderte Arbeitsfähigkeit des Klägers inhaltlich nach § 255 Abs 1 ASVG zu prüfen. Der Kläger könne seinen erlernten Beruf als Schlosser nicht mehr ausüben und auch nicht auf die Tätigkeit eines Kontrollschlossers verwiesen werden, weil es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine genügende Anzahl solcher Arbeitsplätze gebe. Deshalb gelte er als invalid und habe daher Anspruch auf die begehrte Berufsunfähigkeitspension.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 4 ASGG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor der WGN 1989 ohne die Beschränkungen des Abs 2 der zitierten Gesetzesstelle zulässig. Sie ist auch berechtigt. An der Leistungszugehörigkeit des Klägers zur beklagten P*** DER A*** nach § 245 Abs 3 ASVG

und deren Leistungszuständigkeit nach § 246 leg cit besteht kein Zweifel. Die Vorinstanzen haben zutreffend erkannt, daß der Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension nicht nach dem für Angestellte geltenden Berufsunfähigkeitsbegriff des § 273 ASVG, sondern nach dem für Arbeiter geltenden Invaliditätsbegriff des analog anzuwendenden § 255 leg cit zu prüfen ist (SSV-NF 2/71; 3/2, 156 ua). Ob der Kläger in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG vor dem Stichtag - wie das Berufungsgericht meinte - überwiegend in seinem erlernten Beruf als Stahlbauschlosser tätig war, in welchem Fall seine Invalidität nach Abs 1 der letztzitierten Gesetzesstelle zu prüfen wäre, oder - wie das Erstgericht meinte - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, in welchem Fall die Prüfung seiner Invalidität nach Abs 3 dieser Gesetzesstelle vorzunehmen wäre, kann dahingestellt bleiben, weil seine Invalidität in beiden Fällen zu verneinen ist.

Wäre der Kläger nicht überwiegend im erlernten Beruf als Stahlbauschlosser tätig gewesen, würde er nicht als invalid im Sinne des letztgenannten Absatzes gelten, weil er imstande ist, die vom Erstgericht nur beispielsweise genannten, ihm zumutbaren und auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeiten voll auszuüben. Käme dem Kläger aber Berufsschutz im erlernten Beruf als Stahlbauschlosser zu, würde er nicht als invalid im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG gelten, weil seine Arbeitsfähigkeit jedenfalls noch für die Tätigkeit als (einfacher) Kontrollschlosser im Sinne der vom Berufungsgericht beschriebenen einfachen Kontrollarbeiten in den Fertigungs- und Kontrollabteilungen von Metallbetrieben (sogenannter Zwischen- und Endkontrollor sowie Fertigungsprüfer) ausreicht, auf die der Kläger - entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes - aus folgenden Gründen verwiesen werden darf:

Ein Versicherter, dessen Invalidität nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist, darf auch auf Teiltätigkeiten seines Berufes verwiesen werden, wenn er dadurch seinen Berufsschutz nicht verliert. Deshalb muß die Verweisungstätigkeit eine solche in einem erlernten oder angelernten Beruf sein (SSV-NF 3/29 mit ausführlicher Begründung, 119 ua).

In der letztgenannten Entscheidung hat der erkennende Senat eingehend begründet, daß die Tätigkeit eines Zwischen- oder Endkontrollors und Fertigungsprüfers ua in der Metallindustrie, der durch verschiedene Maßvorgänge mit Schublehren, Mikrometerschrauben, Maßuhren udgl die Maßhaltigkeit von Produkten der Massenfertigung, zB Rollen, Kegel, Ventile, zu prüfen und die Änderung der Maschineneinstellung durch Einsteller zu veranlassen hat, ua auch eine Teiltätigkeit des Schlossers ist, der das Messen mit Feingeräten beherrschen muß, und daß dies Kenntnisse erfordert, die über einfache Hilfsarbeiten hinausgehen. Wenn für diese Tätigkeiten, wie in vielen Lehrberufen und diesen gleichzuhaltenden anlernbaren Berufen, auch Hilfsarbeiter verwendet werden, so müssen diese doch mangels entsprechender Vorkenntnisse für die spezielle Teiltätigkeit besonders angelernt werden. Durch die Ausübung dieser Teiltätigkeiten geht daher der Berufsschutz nicht verloren. Auch die weitere Voraussetzung der Verweisung, daß für die Verweisungstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sind, liegt - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes - vor.

Der Sachverständige für Berufskunde, bei dem es sich um einen Beamten der Arbeitsmarktverwaltung handelt, hat zwar ausgeführt, daß er in den letzten 15 Jahren keinen Antrag (an das Arbeitsamt) auf Zuweisung oder Vermittlung eines Kontrollschlossers kenne. Es sei nämlich davon auszugehen, daß alle Betriebe die erforderlichen Kontrollschlosser aus den eigenen Reihen rekrutierten, so daß es für einen Außenstehenden praktisch keine solchen Arbeitsplätze gebe. Deshalb fehle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Nachfrage nach diesen Arbeitnehmern.

Selbst wenn sich diese Aussage auch auf Zwischen- und Endkontrollore sowie Fertigungsprüfer bezöge, wäre damit noch nicht gesagt, daß es für Kontrollschlosser dieser Art keine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen gibt, sondern in Wahrheit nur, daß solche für Personen, die in dem Betrieb, in dem sie einen solchen Arbeitsplatz anstreben, noch nicht beschäftigt sind, diesen üblicherweise nicht erhalten werden.

Dabei geht es letztlich um die in den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich nicht zu berücksichtigende Frage, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen freien Arbeitsplatz finden wird (zB SSV-NF 1/23, 2/5, 14, jeweils unter Bezugnahme auf die Lehre, die dieser Rechtsprechung zugestimmt hat).

So betont Tomandl, Grundriß des österreichischen Sozialrechts4 Rz 69 (S 55) unter Hinweis auf die erstgenannte Entscheidung, daß drohende Arbeitslosigkeit in Verweisungsberufen in keinem Fall zu berücksichtigen sei, da für den Fall der Arbeitslosigkeit die Leistungszuständigkeit der Arbeitslosenversicherung bestehe; entscheidend sei nur, daß der Verweisungsberuf auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung trete.

Auch Teschner in Tomandl, SV-System 4.ErgLfg 366 FN 1 führt ua die erstzitierte Entscheidung als Belegstelle für seine Ansicht an, daß die Verweisung ohne Rücksicht darauf erfolge, ob es überhaupt freie Arbeitsplätze gibt.

Dabei sind nur Verweisungstätigkeiten ausgeschlossen, die auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr vorkommen, weil es diese Berufstätigkeiten im Wirtschaftsleben nicht mehr gibt, oder die speziell dem Versicherten nicht offenstehen, weil sie ausschließlich Angehörigen des jeweils anderen Geschlechtes vorbehalten sind. Tätigkeiten, die der Versicherte - abstrakt gesehen - ausüben könnte, die ihm aber schon deshalb kein Erwerbseinkommen verschaffen könnten, weil es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, haben bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu bleiben (SSV-NF 1/4, 2/50, 128; Schrammel, Zur Problematik der Verweisung in der PV und UV ZAS 1984, 83 [86]).

Auf einen noch nicht betriebsangehörigen Bewerber um einen Arbeitsplatz, der üblicherweise nur mit schon in diesem Betrieb tätigen Arbeitnehmern besetzt wird, treffen diese Voraussetzungen nicht zu. Er befindet sich in einer ähnlichen Situation wie ein älterer und/oder in seiner Arbeitsfähigkeit geminderter Arbeitsuchender, der gegenüber jüngeren und voll arbeitsfähigen Mitbewerbern auf dem Arbeitsmarkt wenig Chance hat. Solche Personen, die nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses keine neue Beschäftigung gefunden haben, sind arbeitslos im Sinne des § 12 Abs 1 AlVG und haben bei Erfüllung der sonstigen Leistungsvoraussetzungen dieses Gesetzes Anspruch auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung.

Da der Kläger nicht als invalid im Sinne des analog anzuwendenden § 255 Abs 1 und Abs 3 ASVG gilt, hat er keinen Anspruch auf die begehrte Berufsunfähigkeitspension. Deshalb war das seinem Begehren stattgebende angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der klageabweisenden erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG (SSV-NF 1/19; 2/26, 27) und § 50 ZPO.

Anmerkung

E22222

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00134.9.1106.000

Dokumentnummer

JJT_19901106_OGH0002_010OBS00134_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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