TE OGH 1990/12/4 10ObS374/90

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Veröffentlicht am 04.12.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Robert Renner (Arbeitgeber) und Ferdinand Rodinger (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Heinrich G***, 2640 Gloggnitz, Zeile 30/1/1, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Rechtsanwalt in Gloggnitz, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Juli 1990, GZ 33 Rs 75/90-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10. Jänner 1990, GZ 4 Cgs 206/89-17, bestätigt wurde in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 21. Dezember 1946 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Seit 1961 arbeitete er mit kurzen Unterbrechungen bei der Fa. H*** A*** G*** MBH als angelernter Weber; seit 15. Februar 1989 befindet er sich im Krankenstand. Der Kläger war mit der Herstellung von Industrie-Filzen für Papiermaschinen befaßt. Er hatte dabei bis zu 10 m lange Webmaschinen zu bedienen, auf denen das aus Kunststoffasern bestehende Grundgewebe hergestellt wird. In einem anderen Arbeitsgang - mit diesem hatte der Kläger nichts zu tun - wurde das Grundgewebe mit Naturfasern benadelt und dadurch nach einem Schervorgang zum fertigen Industriefilz. Der Kläger hatte je nach Bauart eine oder zwei Webmaschinen zu bedienen. Seine Arbeit bestand darin, daß er laufend die Schußspulen zu wechseln und bei Kettenbruch die Kettenfäden anzuknüpfen hatte. Da keine automatischen Kettenwächter vorhanden waren, mußte er ständig die ihm übertragenen Maschinen auf Kettenfadenbruch kontrollieren, gegebenenfalls die Maschinen stillegen und den Kettenfaden anknüpfen. Die Kettenbäume und der Warenbaum wurden mittels Gabelstaplers gewechselt, wobei der Weber mitzuhelfen hatte. Bei Interesse an der Arbeit und Eignung kann eine Person die vom Kläger verrichtete Tätigkeit nach Einschulung in drei bis sechs Monaten verrichten.

Der Kläger kann wegen seiner - im einzelnen näher

beschriebenen - Leiden nur mehr leichte und kurzfristig (10 bis 15 Minuten pro Stunde) mittelschwere Arbeiten verrichten. Arbeiten unter dauerndem besonderem Zeitdruck wie Band- und Akkordarbeiten sind nicht möglich, soferne es sich nicht um gewohnte Tätigkeiten handelt. Der Kläger ist nur für einfache Arbeiten geeignet und kann eingeordnet werden; Aufsichtstätigkeiten sind nicht möglich, wohl aber höherwertige Arbeiten als Primitivarbeiten; bei Arbeiten etwa an Maschinen kann er nur Arbeitsgänge bis zu einem Ausmaß von drei bis vier Gängen bewältigen. Ausgeschlossen sind weiters überdurchschnittliche Staubbelastung und Tätigkeiten, die mit gehäuftem Bücken verbunden sind.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Mai 1989 gerichtete Klagebegehren ab. Den Lehrberuf Weber gebe es seit 1972 nicht mehr. Bei Vergleich der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit des Klägers zum seinerzeitigen Berufsbild des Webers habe er nur eine Teiltätigkeit des Webers beherrscht und nicht die Kenntnisse eines seinerzeit gelernten Webers gehabt. Der Kläger habe nicht mit Materialien wie Leinen, Baumwolle, Schafwolle, Seide, Kunstfaser gearbeitet und beherrsche auch nicht alle Gewebsarten wie etwa Brokat, Damast oder Teppich. Er habe auch nur auf "normalen" Webstühlen gearbeitet, während der gelernte Weber auch ein Arbeiten auf Schaftstühlen, Jacquardstühlen usw. beherrscht. Die Tätigkeit des Klägers sei daher als qualifizierte Hilfsarbeit einzustufen. Unter Berücksichtigung des medizinischen Leistungskalküls könne der Kläger auf die Berufe Abservierer in Selbstbedienungsrestaurants, Wächter auf Baustellen, Waschraumwärter in großen Industriebetrieben und Aktenträger verwiesen werden. Der Kläger genieße keinen Berufsschutz, weil er weder über Kenntnisse eines Lehrberufs verfüge, noch eine so qualifizierte Tätigkeit ausgeübt habe, die der eines Lehrberufs gleichkomme.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und trat auch dessen rechtlicher Beurteilung bei. Es genüge, daß der Kläger zumindest noch eine Verweisungstätigkeit ausüben könne. Es möge zutreffen, daß sich der Kläger bei Verrichtung einfacher Reinigungsarbeiten oder beim Aufwischen bücken müsse; ausgeschlossen seien allerdings nur mit gehäuftem Bücken verbundene Tätigkeiten. Daß die Tätigkeiten eines Abservierers in Selbstbedienungsrestaurants und eines Waschraumwärters in großen Industriebetrieben ein gehäuftes Bücken erforderten, könne ausgeschlossen werden. Aber auch die Tätigkeit eines Aktenträgers sei dem Kläger zumutbar, weil er für einfache Arbeiten unterweisbar sei und eingeordnet werden könne. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs. 3 ASVG lägen daher nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Den Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens führt der Kläger dahin aus, daß das Berufungsgericht zu Unrecht auf den von ihm geltend gemachten Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung nicht eingegangen sei. Bei richtiger Beweiswürdigung hätte nämlich festgestellt werden müssen, daß es für den Kläger keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten (auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt) gebe. Der Revisionsgrund des § 503 Z 2 ZPO liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs. 3 ZPO). Soweit in der Berufung überhaupt eine Beweisrüge erkennbar war, hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß sie nicht geeignet sei, begründete Bedenken an der erstgerichtlichen Beweiswürdigung zu erwecken. Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung macht der Kläger geltend, er habe einen angelernten Beruf iS des § 255 Abs. 1 und 2 ASVG ausgeübt. Wenngleich er nicht das gesamte Berufsbild des Webers beherrsche, so sei seine Tätigkeit unter der Annahme einer Anlernzeit von sechs Monaten und eines weiteren Jahres praktischer Einarbeitung doch als angelernter Beruf anzusehen. Nach § 255 Abs. 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf iS des Abs. 1 vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Schon aus der Formulierung "gleichzuhalten sind" ergibt sich, daß die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse nicht jene eines bestimmten gesetzlich geregelten Lehrberufes sein, sondern den in einem Lehrberuf erworbenen besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten an Qualität und Umfang nur entsprechen müssen, auch wenn es keinen gleichartigen gesetzlich geregelten Lehrberuf gibt. Gerade für jene angelernten Berufe, für die kein entsprechender Lehrberuf vorgesehen ist, sollte Berufsschutz gewährt werden, wenn damit gleichartige und gleichwertige qualifizierte Kenntnisse verbunden sind. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere die Spezialisierung in Großunternehmungen haben es notwendig gemacht, für ganz bestimmte qualifizierte Aufgaben die Arbeiter, sei es in eigenen Werkstätten oder Ausbildungskursen, sei es am konkreten Arbeitsplatz selbst auszubilden (anzulernen), weil die durch die herkömmlichen Lehrberufe vermittelte Ausbildung für die besonderen Aufgaben einerseits nicht genügt und andererseits in der Praxis entbehrlich ist. Dies schon deshalb, weil sich die rein manuelle Tätigkeit der Arbeiter in hochtechnisierten Betrieben immer mehr auf die Bedienung und Wartung neuer technischer Geräte verlagert hat (8. Mai 1990, 10 Ob S 180/90 = SSV NF 4/74 - in Druck - mwN). Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte, einen Teil eines Lehrberufes, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Trifft dies aber nicht zu, weil kein Lehrberuf vorhanden ist, der die Berufstätigkeit des Versicherten einschließt, so muß auf jenen Lehrberuf zurückgegriffen werden, der mit ihr am ehesten verwandt ist. Dabei ist wieder auf die am Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Lehrberufes Bedacht zu nehmen und jene Variante zum Vergleich heranzuziehen, die der vom Versicherten ausgeübten Berufstätigkeit am nächsten kommt. Hiefür wird etwa maßgebend sein, ob das be- oder verarbeitete Material das gleiche oder ähnlich ist, ob ähnliche Maschinen oder Werkzeuge verwendet werden oder ob ähnliche Arbeitsvorgänge vorkommen (25. September 1990, 10 Ob S 170/90).

Zunächst einmal ist die auf dem berufskundlichen Gutachten des Sachverständigen Ing. P*** beruhende erstgerichtliche und vom Berufungsgericht übernommene Feststellung, daß es den Lehrberuf Weber seit 1972 nicht mehr gebe, offensichtlich unrichtig. Es trifft lediglich zu, daß der in der Lehrberufsliste BGBl. 1969/375 enthaltene Lehrberuf Weber (mit einer Lehrzeit von nur zwei Jahren) in die neue Lehrberufsliste BGBl. 1975/268 (in Kraft ab 1. Juni 1975) nicht mehr aufgenommen wurde (vgl. Kinscher, BAG2 189 f). Für Personen, deren Ausbildung unter anderem im bisherigen Lehrberuf Weber vor dem 1. Juni 1975 begonnen wurde, war die in diesem Lehrberuf zurückgelegte Lehrzeit auf die Lehrzeit im Lehrberuf Textilmechaniker in vollem Ausmaß anzurechnen (§ 4 der Verordnung vom 14. Mai 1975, BGBl. 1975/268). Gemäß § 6 lit. a der genannten Verordnung trat die Verordnung vom 22. Oktober 1969, BGBl. 375 mit der Maßgabe außer Kraft, daß sie bezüglich der in der Anlage zur neuen Verordnung nicht mehr angeführten Lehrberufe bis 31. Dezember 1978 auf Lehrlinge anzuwenden war, deren Ausbildung vor dem 1. Juni 1975 in einem solchen Lehrberuf begonnen hatte. Dem berufskundlichen Sachverständigen und auch den Vorinstanzen ist aber offenbar entgangen, daß der Lehrberuf Weber mit Wirkung vom 1. Juli 1989 wieder in die Lehrberufsliste eingefügt wurde (Art. 1 der Verordnung vom 8. Juni 1989, BGBl. 1989/286). Unter einem wurden Ausbildungsvorschriften für den Lehrberuf Weber erlassen (BGBl. 1989/287; siehe auch Weber-Meisterprüfungsordnung, BGBl. 1989/379 und Prüfungsordnung für die Lehrabschlußprüfung im Lehrberuf Weber, BGBl. 1990/350). Bereits in der Lehrberufsliste 1969 waren allerdings auch die Lehrberufe "Textilmechaniker in der Spinnerei" und "Textilmechaniker in der Weberei" enthalten. Mit Verordnung vom 24. Oktober 1972, BGBl. 1972/431, wurden unter anderem Ausbildungsvorschriften für diese Lehrberufe erlassen. In der Lehrberufsliste 1975 findet sich nur mehr der Lehrberuf "Textilmechaniker", für den mit Verordnung vom 27. Mai 1975 BGBl. 1975/347 Ausbildungsvorschriften erlassen wurden. Das Berufsbild des Textilmechanikers wurde dort wie folgt umschrieben:

"Handhaben und Instandhalten der zu verwendenden Werkzeuge, Maschinen, Einrichtungen und Arbeitsbehelfe; Kenntnis der Werk- und Hilfsstoffe für die Metallbearbeitung und der Textilrohstoffe, ihrer Eigenschaften, Verarbeitbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten; Grundfertigkeiten der Metallbearbeitung (Messen, Anreißen, Körnen, Feilen, Schleifen, Meißeln, Sägen, Bohren, Gewindeschneiden, Weich- und Hartlöten, Härten; Einstellen und Instandhalten der verwendeten Maschinen, Durchführen technischer Kontrollen an Maschinen, Anfertigen einfacher Ersatzteile, Aus-, Ein- und Zusammenbau von Maschinenelementen und Maschinen; Erkennen von Fehlern am textilen Produkt und der Fehlerursachen an den Maschinen sowie deren Behebung; Kenntnis der einschlägigen Vorbereitungsarbeiten; Kenntnis der Numerierungssysteme; Grundkenntnisse der sich aus dem Lehrvertrag ergebenden Verpflichtungen (§ 9 und 10 BAG); Kenntnis der einschlägigen Sicherheitsvorschriften sowie der sonstigen in Betracht kommenden Vorschriften zum Schutz des Lebens und der Gesundheit; Grundkenntnisse der aushangpflichtigen arbeitsrechtlichen Vorschriften"

Gleichgültig, ob man nun im Fall des Klägers von den Anforderungen im Lehrberuf Weber oder im Lehrberuf Textilmechaniker ausgeht, liegen die Voraussetzungen für einen Berufsschutz iS des § 255 Abs. 1 und 2 ASVG nicht vor. Während nämlich der Lehrberuf Textilmechaniker (ebenso wie der "neue" Lehrberuf Weber) eine dreijährige Lehrzeit erfordert, genügte für die vom Kläger verrichtete Tätigkeit eine Einschulung von drei bis sechs Monaten. Der Aussage des berufskundlichen Sachverständigen, daß es sich im Vergleich zum Gesamtberuf Weber bei der Tätigkeit des Klägers in der Herstellung von Industriefilzen lediglich um eine qualifizierte Hilfsarbeit handelt, ist daher insoweit zuzustimmen; an ihr ändert sich auch nichts, wenn man den Lehrberuf Textilmechaniker als Vergleichsbasis heranzieht. Entscheidend ist nämlich die kurze Dauer der Einschulung und die Einseitigkeit der Arbeit, wie dies auch der berufskundliche Sachverständige hervorgehoben hat (Gutachten ON 14 AS 53). Mangels Berufsschutzes haben die Vorinstanzen den Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit zutreffend nach § 255 Abs. 3 ASVG beurteilt. Daß der Kläger angesichts seines medizinischen Leistungskalküls die von den Vorinstanzen ausgemittelten Verweisungstätigkeiten noch ausüben kann, ist nicht zweifelhaft (§ 48 ASGG).

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG (SSV-NF 1/19, 2/26, 2/27 uva).

Anmerkung

E22639

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00374.9.1204.000

Dokumentnummer

JJT_19901204_OGH0002_010OBS00374_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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