TE OGH 1991/2/12 10ObS42/91

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Veröffentlicht am 12.02.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Prohaska (AG) und Franz Breit (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Bettina H*****, vertreten durch Dr. Johannes Grund und Dr. Wolf D. Polte, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER (LANDESSTELLE OBERÖSTERREICH), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 1990, GZ 13 Rs 129/90-12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18. Juni 1990, GZ 12 Cgs 49/90-8, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Strittig ist, ob die Klägerin jemals imstande war, durch eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§ 255 Abs 3 ASVG).

Die beklagte PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT verneint diese Frage. Deshalb lehnte sie den Antrag der Klägerin vom 17. September 1989 auf Invaliditätspension mit Bescheid vom 10. November 1989 ab und beantragte auch die Abweisung der dagegen rechtzeitig erhobenen, auf Gewährung der abgelehnten Leistung im gesetzlichen Ausmaß vom 1. Oktober 1989 an gerichteten Klage, in der die Klägerin behauptete, ihr Gesundheitszustand habe sich so verschlechtert, daß sie ihre Beschäftigung in einer geschützten Werkstätte nicht mehr ausüben könne.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Nach seinen Feststellungen besteht bei der am 16. November 1969 geborenen Klägerin eine angeborene Miß(Spalt)bildung im Bereich der Wirbelsäule, (die in den Bereich des Rückenmarks hineinreichende Myelomeningocele), die sofort nach der Geburt operiert wurde. Als deren Folgen bestehen eine (vollständige) Lähmung beider Beine (Paraplegie) und eine teilweise Lähmung der Blase und des Mastdarms mit Entleerungsstörungen. Weiters besteht eine angeborene beidseitige Hüftgelenksluxation. (Nach Absolvierung der Volks- und Hauptschule in der Internatsbehindertenschule *****) war die Klägerin (von April) 1986 bis Mitte 1989 in der Nähwerkstätte (einer geschützten Werkstätte) des Bildungs- und Rehabilitationszentrums in Linz beschäftigt. (Aus der mit der Klage vorgelegten Beilage des angefochtenen Bescheides ergibt sich, daß die Klägerin in der Pensionsversicherung der Arbeiter von April 1986 bis Oktober 1987, im Jänner 1988, von April bis November 1988 und von Jänner bis März 1989 insgesamt 31 Pflichtversicherungsmonate, von November bis Dezember 1987, von Februar bis März und im Dezember 1988 sowie von April bis August 1989 insgesamt 10 Ersatzmonate für Krankengeldbezug etc erworben hat). Seit 1989 erfassen die Klägerin zunehmend reaktive Depressionszustände, die sich vor allem in Rückzugstendenzen, Kontaktverweigerung und körperlicher Vernachlässigung, die zu Hautinfektion und Dekubitus führte, äußerten.

Psychotherapeutische Gespräche und stationäre medikamentöse Behandlung konnten keine durchgreifende Besserung bringen. Wegen der depressiven Verstimmungszustände und wegen des zunehmenden sozialen Rückzuges mußte die Tätigkeit in der geschützten Werkstätte abgebrochen werden. Erst eine Überstellung in die Wohngemeinschaft für Behinderte im August 1989 führte zu einer allmählich wirksam werdenden Sozialreintegration, doch reagiert die Klägerin nach wie vor auf Konflikt- und Belastungssituationen mit Depressionszuständen und Rückzug. Sie war überhaupt nur unter besonderem Entgegenkommen des Arbeitgebers in einer geschützten Werkstätte einsatzfähig, wozu sie nunmehr nicht länger imstande ist. Weil sie nie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar gewesen sei, sei ihre Arbeitsfähigkeit schon bei Aufnahme ihrer Beschäftigung in der geschützten Werkstätte unter dem Mindestmaß des § 255 Abs 3 ASVG gelegen und sei daher nicht erst nachträglich unter dieses herabgesunken.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (einschließlich sekundärer Feststellungsmängel) erhobenen Berufung der Klägerin in der Hauptsache nicht Folge. Weil die Klägerin schon bei Aufnahme der Beschäftigung in der geschützten Werkstätte außerstande gewesen sei, eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten, habe die auch die Beschäftigung in einer geschützten Werkstätte ausschließende spätere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes den Eintritt des zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit zählenden Versicherungsfalles der Invalidität nicht herbeiführen können.

Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinne abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach Ansicht der Revisionswerberin habe es sich bei ihrer Beschäftigung in der geschützten Werkstätte um eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit gehandelt, und zwar insbesondere dann, wenn sie dafür ein dem allgemeinen Arbeitsmarkt adäquates Entgelt bezogen hätte. Dies sei jedoch nicht geprüft worden. Weil die Klägerin wegen der während der Tätigkeit in der geschützten Werkstätte eingetretenen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes diese Tätigkeit nicht mehr ausüben könne, sei der Versicherungsfall der Invalidität nicht schon vor Aufnahme dieser Beschäftigung aufgetreten.

War der Versicherte - wie die Klägerin - nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen im Sinne der Abs 1 und 2 des § 255 ASVG tätig, gilt er nach Abs 3 leg cit als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Ua aus der im § 255 Abs 3 ASVG gebrauchten Formulierung "nicht mehr imstande ist" ergibt sich, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert haben muß. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen (SSV-NF 1/67 unter Bezugnahme auf die unter SSV-NF 1/33 veröffentlichte E 10 Ob S 44/87; SSV-NF 2/87; zuletzt SSV-NF 4/60).

Der nach § 255 Abs 1, 3, 4 und 5 ASVG vorzunehmende Vergleich der Arbeitsfähigkeit bzw der Entgeltserwerbsfähigkeit des Versicherten mit der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten zeigt, daß die genannten Fähigkeiten des Versicherten beim Eintritt in das Versicherungsverhältnis wenigstens die Hälfte derjenigen der Vergleichsperson erreichen und dann unter diese Grenze herabgesunken sein müssen (so schon SSV-NF 1/33; ähnlich Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung IV 28. Nachtrag 670f VI).

Aus dem Behinderten-Einstellungsgesetz (BEinstG) ergibt sich, daß die Arbeits- oder Verdiensterwerbsfähigkeit auch bei Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 vH, die nach § 2 Abs 1 leg cit als begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes gelten, beim Eintritt in das Versicherungsverhältnis die Hälfte derjenigen der Vergleichsperson erreichen oder sogar überschreiten kann, und zwar auch dann, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einer geschützten Werkstätte ausüben. Solche Personen gelten nach § 2 lit d leg cit nur dann nicht als begünstigte Behinderte im Sinne des Abs 1, wenn sie infolge des Ausmaßes ihrer Gebrechen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einer geschützten Werkstätte nicht geeignet sind.

Geschützte Werkstätten im Sinne des BEinstG sind nach dessen § 11 Abs 1 die von Gebietskörperschaften, Körperschaften des öffentlichen Rechtes, von Trägern der freien Wohlfahrtspflege oder sonstigen Rechtspersonen (Rechtsträgern) geführten Einrichtungen zur Beschäftigung begünstigter Behinderter, die wegen Art und Schwere der Behinderung noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, bei denen aber eine wirtschaftlich verwertbare Mindestleistung vorliegt. Die geschützte Werkstätte muß es den begünstigten Behinderten ermöglichen, ihre Leistungsfähigkeit mit dem Ziel der Eingliederung in den freien Arbeitsmarkt zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen (Abs 2 leg cit). Die Förderung einer im Abs 1 genannten Werkstätte aus den Mitteln des Ausgleichstaxfonds kann insbesondere erfolgen, wenn die beschäftigten begünstigten Behinderten nach dem Kollektivvertrag der jeweiligen Sparte, in der sie beschäftigt sind, entlohnt werden und nach den Bestimmungen des ASVG als Vollversicherte pflichtversichert sind (§ 11 Abs 4 lit a BEinStG). Diese Bestimmung soll sicherstellen, daß jene Werkstätten, die eine Förderung aus den Mitteln des Ausgleichsfonds in Anspruch nehmen wollen, die Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechtes gegenüber den beschäftigten Behinderten einhalten. Dies setzt voraus, daß die Werkstätte mit dem Behinderten einen Arbeitsvertrag abschließt. Der Kollektivvertrag bildet den Mindestlohn (Ernst, Schriftenreihe des ÖGB, BEinstG 151 FN 10). Schon § 7 BEinstG bestimmt allgemein, daß das Entgelt, das den im Sinne dieses Bundesgesetzes beschäftigten begünstigten Behinderten gebührt, aus dem Grunde der Behinderung nicht gemindert werden darf.

Nach den vom Bundesminister für soziale Verwaltung auf Grund des § 11 Abs 3 BEinstG erlassenen Richtlinien für die Förderung von geschützten Werkstätten aus Mitteln des Ausgleichstaxfonds Zl 44.210/3-6/1980 ist für die Aufnahme eines Behinderten in eine geschützte Werkstätte ua Voraussetzung, daß sein wirtschaftlich verwertbarer Leistungsrest nach entsprechendem Arbeitstraining und nach entsprechender Arbeitserprobung oder nach entsprechender Ausbildung voraussichtlich die Hälfte der Produktivität einer Normalarbeitskraft in gleicher Beschäftigung ausmacht. Behinderte, die über eine solche "Mindestproduktivität" nicht verfügen, sind in Einrichtungen der Arbeits- bzw Beschäftigungstherapie (Tagesheimstätten) unterzubringen. Die Feststellung der verwertbaren Mindestleistungsfähigkeit darf nicht mit der Einschätzung des Grades der Behinderung verwechselt werden. Während diese der Feststellung dient, ob ein Behinderter nach der Schwere seiner Behinderung zum Personenkreis der begünstigten Behinderten zählt, wobei der Grad der Behinderung nach medizinischen Gesichtspunkten, bezogen auf das allgemeine Erwerbsleben, also unabhängig von den konkreten Beschäftigungsverhältnissen, eingeschätzt wird, richtet sich die Mindestleistungsfähigkeit nach der Produktivität der Arbeitsleistung des Behinderten an seinem Arbeitsplatz (Ernst, Schriftenreihe des ÖGB, BEinstG 83, FN 11, 150 FN 6).

Damit wurde durch diese Richtlinien klargestellt, daß auch ein begünstigter Behinderter noch jene Arbeitsleistung erbringen muß, bei der ein Versicherter noch nicht als invalid oder berufsunfähig nach § 255 Abs 1 und 3 und § 273 Abs 1 ASVG gilt. Hiedurch wurde auch eine Übereinstimmung zwischen dem BEinstG und dem ASVG erreicht, die es ermöglicht, Arbeitsleistungen auf geschützten Arbeitsplätzen sozialversicherungsrechtlich ebenso zu behandeln wie solche auf nicht geschützten Arbeitsplätzen. Ob der Behinderte diese Arbeitsleistung tatsächlich erbracht hat, ist allerdings von den Arbeits- und Sozialgerichten selbständig zu prüfen.

Ob die Klägerin nach § 255 Abs 3 ASVG als invalid gilt, kann daher erst durch einen Vergleich ihrer Arbeits- und Entgeltserwerbsfähigkeit seit Beginn ihrer Beschäftigung in der geschützten Werkstätte mit der durchschnittlichen Arbeits- und Entgeltserwerbsfähigkeit eines körperlich und geistig gesunden Versicherten, der solche Tätigkeiten weder auf einem geschützten Arbeitsplatz noch in einer geschützten Werkstätte verrichtet, verläßlich beurteilt werden. Dazu werden auch nähere Feststellungen über das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zum Träger der geschützten Werkstätte, insbesondere auch über die von ihr zu erbringenden und erbrachten Arbeitsleistungen und die Höhe ihres Arbeitslohnes, aber auch über die Höhe des Entgeltes erforderlich sein, das ein gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Es wird aber auch im Sinne der Entscheidung SSV-NF 4/60 zu prüfen sein, ob die Klägerin wegen ihres schon bei Aufnahme ihrer Beschäftigung in der geschützten Werkstätte bestandenen Gesundheitszustandes nur unter einer medizinisch nicht vertretbaren körperlichen oder geistigen Belastung arbeiten konnte, die in kürzerer Zeit zu schweren Schädigungen führen mußte.

Weil somit nach Inhalt der Prozeßakten dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen schon in erster Instanz weder erörtert noch festgestellt wurden, waren die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510 Abs 1 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E25507

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00042.91.0212.000

Dokumentnummer

JJT_19910212_OGH0002_010OBS00042_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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