TE OGH 1991/6/20 12Os71/91

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Veröffentlicht am 20.06.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20.Juni 1991 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Felzmann, Hon.Prof. Dr. Brustbauer, Dr. Massauer und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Glatz als Schriftführerin, in der Strafvollzugssache gegen Rudolf Michael L***** wegen bedingter Entlassung nach § 46 Abs. 2 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 23.April 1991, AZ 10 Bs 41/91, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Rudolf Michael L*****, geboren ***** 1958, verbüßt derzeit in der Strafvollzugsanstalt Garsten die mit Urteil des Kreisgerichtes Steyr vom 15.Juni 1989, GZ 12 Vr 17/89-91, verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das urteilsmäßige Strafende wurde unter Anrechnung der Vorhaft mit 25.Februar 1992 festgesetzt, die zeitlichen Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach § 46 Abs. 2 StGB waren am 25.Februar 1991 gegeben. Nach seiner Anhörung wurde L***** mit Beschluß des Kreisgerichtes Steyr als Vollzugsgericht vom 17.Jänner 1991, GZ 18 BE 371/90-7, die bedingte Entlassung nach § 46 Abs. 2 StGB im wesentlichen mit der Begründung verwehrt, daß im Hinblick auf das einschlägig belastete Vorleben und der aus den Straftaten ersichtlichen, zur Eigentumsdelinquenz neigenden Persönlichkeit sowie dem raschen Rückfall besondere Gründe vorliegen, die künftige Straffälligkeit befürchten lassen. Gegen diese Entscheidung erhob der Strafgefangene Beschwerde, der das Oberlandesgericht Linz nach Einholung von ergänzenden Äußerungen sowohl des psychologischen als auch psychiatrischen und sozialen Dienstes der Strafvollzugsanstalt Garsten (ON 10) mit Beschluß vom 3.April 1991, AZ 10 Bs 41/91 (ON 11 des BE-Aktes), Folge gab und den angefochtenen Beschluß dahin abänderte, daß Rudolf Michael L***** am 25.April 1991 unter Setzung einer dreijährigen Probezeit, Erteilung einer Weisung und Bestellung eines Bewährungshelfers bedingt entlassen wird. Mit einer am 17. April 1991 bei der Direktion der Strafvollzugsanstalt und am 18. April 1991 beim Oberlandesgericht Linz eingelangten Eingabe erklärte der Strafgefangene, daß sich seine privaten Verhältnisse inzwischen zum Nachteil geändert hätten, weil sich seine Frau von ihm scheiden lassen wolle und er keine Wohnung habe, weshalb er auf die Erlassung der Reststrafe verzichte und sein weiteres Leben vom Gefängnis her wieder "in geordnete Bahnen zu lenken" gedenke (ON 17).

Hierauf sprach das Oberlandesgericht Linz über Antrag der Oberstaatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf die Bestimmungen der §§ 352 ff StPO mit Beschluß vom 23.April 1991, AZ 10 Bs 41/91 (ON 18), aus, daß der Beschluß vom 3.4.1991 aufgehoben und der Beschwerde des Rudolf Michael L***** gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Steyr vom 17.Jänner 1991, GZ 18 BE 371/90-7, nicht Folge gegeben werde.

Nach Ansicht der Generalprokuratur steht der zuletzt genannte Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 23.April 1990 in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht in Einklang, weshalb sie beantragt, diesem Beschluß wegen Verletzung des Gesetzes "in dem sich aus dem XX.Hauptstück der Strafprozeßordnung ergebenden Verbot, in derselben Sache nochmals zu erkennen", aufzuheben. Sie führt hiezu wörtlich an:

"Die Strafprozeßordnung enthält keine ausdrückliche Bestimmung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen der Beschluß eines Strafgerichtes aufgehoben oder abgeändert werden kann (siehe hiezu SSt 31/55 = RiZ 1960, 154; Foregger-Serini4, Erl VII. zu § 352 StPO). Während eine analoge Anwendbarkeit der §§ 352 ff StPO zugunsten des Beschuldigten oder Verurteilten unbestritten ist (siehe hiezu SSt 20/40, EvBl 1979/183, ÖJZ-LSK 1985/55, 10 Os 194/71; Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts3, Rz 829), ist eine solche Analogie zum Nachteil des Beschuldigten oder Verurteilten umstritten. Bertel (aaO, Rz 830) erachtet die Wiederaufnahme zum Nachteil des Beschuldigten lediglich bei Urteilen und Einstellungsbeschlüssen für zulässig, Lohsing-Serini (Österreichisches Strafprozeßrecht4, 672) bejahen die Wiederaufnahme des Tilgungsverfahrens auch zum Nachteil des Rehabilitierten im Falle der Erschleichung der Tilgung, sofern nicht die Erschleichungshandlung verjährt oder sonst straflos wäre oder nicht dem Tilgungswerber selbst zur Last fällt und überdies alle Tilgungsvoraussetzungen nachträglich erfüllt sind.

Der Oberste Gerichtshof ließ die Frage der Zulässigkeit der Wiederaufnahme gegen Beschlüsse zum Nachteil des Beschuldigten zunächst dahingestellt (siehe hiezu SSt 31/55 = RiZ 1960, 154; Foregger-Serini, aaO), hat er aber in seiner Entscheidung EvBl 1969/53 die analoge Anwendung der Bestimmungen zur Wiederaufnahme des Verfahrens zum Nachteil des Beschuldigten generell bejaht. Hingegen hat er zu 13 Os 70/87 eine Wiederaufnahme (Reassumierung) zum Nachteil der Angeklagten abgelehnt.

Rechtliche Beurteilung

Der Generalprokurator vertritt die Rechtsansicht, daß das Gesetz eine analoge Anwendung der Bestimmungen der Strafprozeßordnung über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Beschlüsse, die das Strafverfahren nicht beenden, zum Nachteil des Betroffenen nicht zuläßt. Auch wenn - mangels einer dem § 1 StGB entsprechenden Vorschrift - im Strafverfahrensrecht grundsätzlich kein Analogieverbot besteht, so erscheinen doch die Bestimmungen der §§ 352 ff StPO zum Nachteil des Beschuldigten nicht analog anwendbar. Die Wiederaufnahme stellt eine Einrichtung zur Durchbrechung bzw Beseitigung der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung dar und ermöglicht eine Ausnahme vom Verbot des ne bis in idem das der Rechtssicherheit dient und auch den Beschuldigten vor einer neuerlichen Befassung mit einer bereits entschiedenen Sache schützt. Ausnahmegesetze dürfen jedoch generell - zumindest zum Nachteil des Betroffenen - nicht ausdehnend ausgelegt werden (siehe hiezu Foregger-Serini4, Erl VI. zu § 1 StPO).

Der Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme zum Nachteil des Betroffenen ergibt sich auch aus den einzelnen Bestimmungen, die diese Wiederaufnahme regeln. Während die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten in einem einzigen Paragraphen behandelt wird (§ 353 StPO), finden sich - den unterschiedlichen Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung entsprechend - drei verschiedene Regelungen der Wiederaufnahme zum Nachteil des Betroffenen mit unterschiedlichen Erfordernissen (§§ 352, 355 und 356 StPO). Diese speziellen Bestimmungen erscheinen für eine analoge Anwendung auf Beschlüsse, die das Strafverfahren als solches nicht beenden, von vornherein nicht geeignet.

Auch wenn man eine Wiederaufnahme gegen Beschlüsse, die das Strafverfahren nicht beenden, zum Nachteil des Betroffenen grundsätzlich für zulässig halten wollte, könnte dies nicht für den Beschluß auf bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe gelten, weil keiner der Wiederaufnahmstatbestände der §§ 352, 355 und 356 StPO analog herangezogen werden könnte. Der Beschluß über die bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe stellt die einzige und abschließende vom Gesetz vorgesehene Art der Entscheidung über die Maßnahme nach § 46 StGB dar und wäre somit bei analoger Betrachtungsweise einem Urteil gleichzusetzen. Die Bestimmung des § 352 StPO über die Wiederaufnahme eines bloß durch Beschluß beendeten Strafverfahrens erschiene daher nicht anwendbar, zumal sie - wegen der dort behandelten weniger qualifizierten Verfahrensbeendigung durch Beschluß - bloß die Beibringung neuer Beweismittel als Voraussetzung für die Beseitigung der Rechtskraft verlangt. Es versagt jedoch auch die analoge Heranziehung der Regelung des § 355 StPO, weil ein Beschluß auf bedingte Entlassung nicht mit einem freisprechenden Urteil gleichgesetzt werden kann. Bedingte Entlassung setzt nämlich nicht nur im Gegenteil einen Schuldspruch voraus, sondern der Verurteilte muß einen Teil der über ihn verhängten Freiheitsstrafe auch bereits verbüßt haben. Vom Gesichtspunkt der ungerechtfertigt milden Behandlung des Verurteilten käme daher bloß die analoge Anwendung der Regelungen des § 356 StPO in Betracht: Diese sind aber - zum Schutze des Verurteilten vor nochmaliger Strafverfolgung - derart kasuistisch gefaßt, daß ihre analoge Anwendung auf einen Beschluß auf bedingte Entlassung geradezu denkunmöglich erscheint.

Die Fehlerhaftigkeit der erfolgten analogen Anwendung der Bestimmungen über die Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten auf den Beschluß vom 3.April 1991, AZ 10 Bs 41/91, geht auch daraus hervor, daß das Oberlandesgericht Linz nicht in der Lage war, die Wiederaufnahme konkret auf einen der genannten Wiederaufnahmsgründe zu stützen,sondern unter Bezugnahme auf die sich aus der erwähnten Eingabe des Verurteilten ergebenden geänderten Verhältnisse bloß allgemein von einer "Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne der §§ 352 ff StPO" spricht.

Der Beschluß auf bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe stellt sich überhaupt als eine Entscheidung dar, die einer Wiederaufnahme nicht unterliegt. Die Institution der bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme ist mit jener der bedingten Nachsicht einer Strafe oder einer vorbeugenden Maßnahme nahe verwandt und vom Gesetzgeber in engem Zusammenhang damit geregelt. Beiden Institutionen ist gemeinsam, daß die gewährte Rechtswohltat widerrufen werden kann. Der Gesetzgeber des Strafgesetzbuches hat die Zulässigkeit des Widerrufes ausschließlich an Tatsachen geknüpft, die nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes eingetreten sind (§§ 53 bis 55 StGB), während er vor dieser Entscheidung entstandene Tatsachen bewußt nicht als Widerrufsgrund heranzog. Im Gegensatz dazu stellte nach der Rechtslage vor dem Strafgesetzbuch die Erschleichung der bedingten Strafnachsicht einen Widerrufsgrund dar (§ 3 Abs. 1 Z 3 BedVG). Der frühere Gesetzgeber hatte somit bloß einen besonders qualifizierten Fall der Entscheidung bei unrichtiger Tatsachengrundlage als Grund für den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht, nicht aber einer bedingten Entlassung statuiert. Aus dem Stillschweigen des damaligen Gesetzgebers zu dem - wenn auch nicht praxisnahen - Fall der Erschleichung der bedingten Entlassung ist demnach der Schluß zu ziehen, in einem solchen Fall eine Revision der Entscheidung über die bedingte Entlassung gar nicht möglich sein sollte. Ist aber nicht einmal bei Erschleichung der bedingten Entlassung ein Widerruf zulässig, so verbietet der Größenschluß, bei weniger gravierenden, vom Verurteilten vielleicht gar nicht zu vertretenden Umständen eine bedingte Entlassung im Wege der Wiederaufnahme rückgängig zu machen. Die Parallele zur bedingten Strafnachsicht bestätigt diese Auslegung: Die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, welche die Verweigerung der bedingten Strafnachsicht begründen, ist gemäß § 356 StPO nicht zulässig."

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Generalprokuratur ist darin zuzustimmen, daß die Frage der analogen Anwendung der Bestimmungen des XX.Hauptstückes der Strafprozeßordnung über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens (§§ 352 ff) auf Beschlüsse zum Nachteil des Angeklagten (Verurteilten) in der Rechtsprechung nicht ganz einheitlich beantwortet wurde und auch in der Lehre teilweise bestritten ist. Wenn allerdings Bertel (Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechtes3 Rz 830) sich zur Unterstützung seiner Meinung, ein Beschluß, mit dem die bedingte Entlassung bewilligt wurde, könne nicht beseitigt werden, wenn sich herausstelle, daß die Voraussetzungen nicht vorlagen, auf EvBl 1963/20 beruft, hält dies einer Überprüfung nicht stand. Verfolgt man nämlich die darin zitierte Judikatur zurück, stellt sich heraus, daß auch in RZ 1960/155 ausdrücklich offengelassen wurde, ob eine Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten zulässig ist. Es wurde dort vielmehr darauf abgestellt, daß eine analoge Anwendung des § 355 Z 2 StPO deshalb nicht in Betracht kam, weil es nach dieser Gesetzesstelle nicht genügt, daß neue Tatsachen und Beweismittel beigebracht werden (nova producta), sondern vielmehr erforderlich ist, daß sich neue Tatsachen und Beweismittel ergeben (nova reperta), somit um Tatsachen, die bei Beschlußfassung unbekannt oder doch unzugänglich waren. Dies war aber im damaligen Fall nicht gegeben, weil das Gericht durch Außerachtlassung prozessualer Vorschriften den wahren Sachverhalt nicht kannte, obwohl er zugänglich gewesen wäre. In der Folge wurde - wie die Generalprokuratur richtig ausführt - in EvBl 1969/53 aber ausdrücklich bejaht, daß die Vorschriften des XX.Hauptstückes der Strafprozeßordnung über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens nicht nur zugunsten, sondern auch zum Nachteil des Beschuldigten (Verurteilten) auf Rechtsgebieten sinngemäß angewendet werden können, für die diese Bestimmungen im Gesetz nicht vorgesehen sind. Folgerichtig wurde aber auch dort (einem Auslieferungsverfahren) geprüft, ob die analog anzuwendenden Voraussetzungen des § 352 StPO gegeben waren. Die in diesem Zusammenhang (als gegenteilig) zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 7.Mai 1987, GZ 13 Os 70/87-6, betrifft eine andere Fallkonstellation, weil es dort darum ging, daß das Rechtsmittelgericht an den Inhalt eines Hauptverhandlungsprotokolles, das vor der Rechtsmittelentscheidung nicht berichtigt worden war (§ 271 Abs. 4 StPO und die hiezu ergangene Judikatur), gebunden ist.

Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher aus Anlaß dieser Beschwerde nicht veranlaßt, von seiner grundsätzlichen - in der Beschwerde allein angegriffenen - Rechtsansicht, daß die Wiederaufnahme gegen Beschlüsse auch zum Nachteil des Angeklagten (Verurteilten) zulässig ist, abzugehen und kann sich auch der Rechtsansicht der Generalprokuratur, daß eine Entscheidung über die bedingte Entlassung "einer Wiederaufnahme nicht unterliegt" (siehe hiezu das aus EvBl 1990/11 = RZ 1990/4 ersichtliche abweichende Vorbringen), nicht anschließen. Wenn der historische Gesetzgeber seinerzeit die Erschleichung einer bedingten Entlassung als Widerrufsgrund statuiert hatte, bildet dies auf der Grundlage der geltenden Bestimmungen, denen zufolge Anlaß für einen Widerruf nur ein Verhalten während der Probezeit bilden kann (§§ 53, 54 StGB), noch kein stichhältiges Argument dafür, daß eine Erschleichung der bedingten Entlassung oder ein ähnliches, im Bereich des Verurteilten liegendes, vom Gericht nicht ohneweiters überprüfbares Verhalten nicht Gegenstand einer Wiederaufnahme sein könnte. Vielmehr hat sich die Prüfung darauf zu konzentrieren, ob die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens zum Nachteil eines mit einem Strafurteil rechtskräftig verurteilten Angeklagten (§ 356 StPO) auch auf Fälle anzuwenden sind, in denen es zwar nicht um die Subsumtion der Tat unter einen strengeren Straftatbestand, aber doch um die erhebliche Verschärfung des Strafausspruches in der Form handelt, daß der (gänzliche oder teilweise) Vollzug einer zunächst bedingt nachgelassenen Strafe angeordnet wird. Wenn die Generalprokuratur die Anwendung des - im gegebenen Fall allein in Frage kommenden - § 356 StPO als "geradezu denkunmöglich" bezeichnet, weil dessen Voraussetzungen zu "kasuistisch" gefaßt seien, verkennt sie wohl das Wesen der Gesetzesanalogie, das gerade darin liegt, daß eine bestimmte gesetzliche Regel im Einklang mit ihrer ratio über ihren Wortlaut hinaus auf ähnliche, im Gesetz bestimmt entschiedene Fälle (§ 7 ABGB) angewendet wird (vgl Bydlinski in Rummel, Rz 4 zu § 7 ABGB).

Zum Inhalt eines Strafurteiles gehört aber nicht nur die Feststellung, welcher strafbaren Handlung der Angeklagte für schuldig erkannt (§ 260 Abs. 1 Z 2 StPO), sondern auch zu welcher Strafe er verurteilt wurde (§ 260 Abs. 1 Z 3 StPO). Dieser Strafausspruch (die Verhängung einer Strafe iS des § 1 StGB) kann sowohl in einem Erkenntnis (Urteil) als auch in mehreren (teilweise dem Strafurteil nachfolgenden) gesonderten Erkenntnissen (Beschlüssen) realisiert werden; demgemäß gehören auch die richterlichen Beschlüsse im Zusammenhang mit der bedingten Strafnachsicht oder der bedingten Entlassung (§§ 43, 43 a, 46 StGB) im weiteren Sinn zum Strafausspruch und damit zum Strafurteil (JBl 1991, 326). Es kann daher auch keinem Zweifel unterliegen, daß ein Beschluß über die bedingte Entlassung einem Strafurteil so ähnlich ist, daß eine analoge Anwendung der Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme nach § 356 StPO durchaus zulässig erscheint, allerdings unter Ausklammerung der Einschränkungen (Z 1 bis 3), die für die Zulässigkeit eines strengeren Schuldspruches auf eine bestimmte (deutlich höhere) Strafdrohung abstellen. Damit ist bei der Abänderung des Strafausspruches (hier: Vollziehung der Strafe) zum Nachteil des Verurteilten in analoger Heranziehung der im § 356 StPO zitierten Vorschriften des § 355 StPO nur mehr zu prüfen, ob sich neue Tatsachen oder Beweismittel, die das Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht kannte, und auch nicht kennen konnte, ergeben haben (nova reperta), die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, die (strengere) Bestrafung (= den längeren Vollzug der Strafe) zu begründen (§ 355 Z 2 StPO).

Nun stimmt es zweifellos, daß (neben den zeitlichen Voraussetzungen) das Hauptgewicht einer Entscheidung über die bedingte Entlassung auf der Prognose liegt, die immer dann, wenn das Gericht einer Fehleinschätzung unterliegt oder der Strafgefangene seine bei der Entlassung noch vorhandenen guten Vorsätze in der Freiheit schnell wieder vergißt, einer nachträglichen Korrektur im Weg einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht unterliegen kann. In diesen Fällen kommt tatsächlich nur ein Widerruf nach § 53 Abs. 3 StGB in Frage, wenn der Entlassene einer etwa erteilten Weisung böswillig nicht entspricht oder sich beharrlich der angeordneten Bewährungshilfe entzieht.

Anders muß der Fall aber dann gesehen werden, wenn sich (wie hier) nach der Beschlußfassung über die Bewilligung der bedingten Entlassung herausstellt, daß schon zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wesentliche Sachverhaltskomponenten (hier: Wohn- und Arbeitsmöglichkeit) in Wahrheit nicht vorlagen, die - wie die Begründung deutlich zeigt - im Zusammenhang mit der Weisung, einen Arbeitsplatz nachzuweisen, und der Anordnung der Bewährungshilfe für das Beschwerdegericht ausschlaggebend waren, die (vom Vollzugsgericht ausgesprochene) Befürchtung, der Rechtsbrecher werde in Freiheit neue Straftaten begehen (§ 46 Abs. 2, letzter Satz StGB), zu negieren. Wird diese neue, dem Gericht vorher nicht zugängliche (weil zwischen Abschluß der Erhebungen und Beschlußfassung hervorgetretene) Tatsache noch durch das Eingeständnis des Strafgefangenen, er werde die an ihn gestellten Anforderungen nicht erfüllen können, bestätigt, liegt eine derart geänderte, der positiven Prognose deutlich widersprechende Beurteilungsgrundlage vor, die eine analoge Heranziehung der Bestimmungen der §§ 356, 355 Z 2 StPO geradezu erfordert, will sich das Gericht (im Fall eines raschen Rückfalles) nicht dem Vorwurf aussetzen, es habe seine Verpflichtungen der Bevölkerung gegenüber, sie vor Straftaten zu schützen, mißachtet.

Der Oberste Gerichtshof mußte daher der Beschwerde, die - wie dargestellt - auf die generelle Unzulässigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten abstellte, den Erfolg versagen.

Richtig ist aber das Vorbringen, daß dann, wenn man die Bestimmungen über die Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten auch auf Beschlüsse im Zusammenhang mit der bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe anwendet, auch die Regelungen des § 357 StPO gelten. Danach wäre die Wiederaufnahme des Strafverfahrens bei jenem Gerichtshof erster Instanz zu beantragen gewesen, bei dem das Verfahren anhängig war, sohin beim Kreisgericht Steyr als Vollzugsgericht. Das Oberlandesgericht Linz hätte dann nur im Beschwerdeweg mit der Sache neuerlich befaßt werden können, zumal die Judikatur des Obersten Gerichtshofes, der die Bestimmungen der Wiederaufnahme auf seine eigenen (quasi erstinstanzlichen) Beschlüsse anwendet, hier nicht herangezogen werden kann (vgl Mayerhofer-Rieder3, E 4 zu § 352 Vorbem StPO).

Da die Generalprokuratur insoweit keinen ausdrücklichen Eventualantrag auf Feststellung der Gesetzesverletzung einbrachte und die (nur in der Begründung aufgeworfene) Zuständigkeitsfrage mangels der gesetzlichen Voraussetzungen des § 290 Abs. 1 StPO auch nicht von Amts wegen aufgegriffen werden kann, konnte über diese - den Strafgefangenen zumindest subjektiv auch nicht benachteiligende - Entscheidung durch ein unzuständiges Gericht spruchmäßig nicht abgesprochen werden.

Anmerkung

E26730

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:0120OS00071.91.0620.000

Dokumentnummer

JJT_19910620_OGH0002_0120OS00071_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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