TE OGH 1992/2/11 10ObS20/92

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Veröffentlicht am 11.02.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck (Arbeitgeber) und Mag. Karl Dirschmied (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz F*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Martin Hahn, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Weitergewährung der Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Oktober 1991, GZ 33 Rs 76/91-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 14. Dezember 1990, GZ 3 Cgs 148/90-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 1. 7. 1947 geborene Kläger litt an den Folgen einer am 1. 8. 1987 vorgenommenen operativen Entfernung eines bösartigen Hirntumors. Mit Bescheid der beklagten PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER vom 7. 9. 1988 wurde ihm wegen vorübergehender Invalidität für die Zeit vom 1. 2. 1988 bis 31. 3. 1989 eine befristete Invaliditätspension zuerkannt. Diese befristet zuerkannte Invaliditätspension wurde dem Kläger mit Bescheid vom 18. 7. 1989 für die weitere Dauer seiner Invalidität gemäß § 256 ASVG weitergewährt. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 2. 5. 1990 wurde "die mit Bescheid vom 7. 9. 1988 zuerkannte Invaliditätspension" mit Ablauf des Monates Juni 1990 entzogen. Zur Begründung wurde angeführt, daß der Kläger nach dem Ergebnis der neuerlich vorgenommenen ärztlichen Begutachtung nicht mehr invalid im Sinn des § 255 ASVG sei.

Das Erstgericht wies das dagegen auf Weitergewährung der Invaliditätspension ab 1. 7. 1990 gerichtete Klagebegehren ab. Es beschrieb den Gesundheitszustand des Klägers zum Zeitpunkt der erstmaligen Pensionsgewährung als einen Zustand nach Operation des bösen Hirntumors rechtsfrontal mit diskreten Halbzeichen links, leichtergradigem organischen Psychosyndrom und Hirnleistungsschwäche mit Bestrahlungsserie bis Dezember 1987. Damals sei in Anbetracht der relativ kurz zurückliegenden Operation und der Grunderkrankung der weitere Gesundheitsverlauf des Klägers ungewiß gewesen, es hätte jedoch eine Verschlimmerung des Leidenszustandes durchaus erwartet werden können. Ob sich ein Krankheitsbild wie das des Klägers stabilisiere, könne erst nach einem Zeitraum von 2 Jahren nach der Operation eingeschätzt werden. Bei vorausschauender Beurteilung sei die Pensionsgewährung gerechtfertigt gewesen. Nunmehr habe sich der Zustand wider Erwarten stabilisiert. Sein Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Weitergewährung der Pension sei dahin beurteilt worden, daß Hinweise auf ein Tumorreziditv fehlten, der Kläger aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch nicht erwerbsfähig sei, obwohl mit Arbeitsfähigkeit noch zu rechnen wäre. Der derzeitige interne Befund habe sich gegenüber dem Tatsachenkomplex zum Zeitpunkt der Pensionsgewährung nicht geändert; diese sei aus nervenfachärztlichen Gründen erfolgt. Aber auch diesbezüglich habe sich, abgesehen von einer nicht nennenswerten Besserung des organischen Psychosyndroms nichts Wesentliches geändert. Geändert habe sich jedoch die Prognose und Einschätzungssituation hinsichtlich des Krankheitsverlaufes des Klägers. Er könne leichte Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen verrichten; mittelschwere Arbeiten kämen bis zur Hälfte der Arbeitszeit in Betracht. Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck sowie Arbeiten an erhöhten exponierten Stellen seien zu vermeiden. Der Kläger sei für einfache Arbeiten unterweisbar und könne eingeordnet werden. Er habe keinen Beruf erlernt und genieße keinen Berufsschutz. Gegenüber dem Tatsachenkomplex zum Zeitpunkt der Pensionsgewährung hätten sich die Verhältnisse wesentlich geändert. Wohl habe sich der Gesundheitszustand des Klägers grundsätzlich nicht gebessert und es habe ab Gewährung bis heute rückwirkend gesehen immer das gleiche Leistungskalkül bestanden, doch habe sich die medizinische Einschätzungsfrage wesentlich geändert. Habe sich der Zustand nach einem Zeitraum von 2 Jahren stabilisiert, könne grundsätzlich im festgestellten Umfang Arbeitsfähigkeit angenommen werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Für den hinsichtlich der Entziehung der Leistung anzustellenden Vergleich seien die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung (Befund vom 6. 6. 1989) mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen. Im Hinblick auf die Schwere der Operation und die Nachbehandlung (Bestrahlungen) sei dem Kläger eine regelmäßige Arbeit durch zwei Jahre nicht zumutbar gewesen. In diesen zwei Jahren habe sich jedoch, wenn auch wider Erwarten, der Zustand stabilisiert, sodaß seither eine, wenn auch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit gegeben sei. Das Erstgericht habe die Klage zutreffend im Sinn des § 99 Abs.1 ASVG abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist berechtigt.

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt in Übereinstimmung mit der Lehre ausgesprochen hat, setzt der Leistungsentzug nach § 99 Abs.1 ASVG eine wesentliche entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit denen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es aber regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (vgl. Schrammel ZAS 1990, 73/79 f und in Tomandl, SV-System 5.Erg.Lfg. 181; SSV-NF 1/27, 1/43, 2/43, 4/149 ua). Dabei ist die Frage, ob eine anspruchsvernichtende, also wesentliche (entscheidende) Änderung der Umstände eingetreten ist, durch Vergleich der zur Zeit der Gewährung - nicht etwa der Weitergewährung - der Leistung gegebenen, mit den nunmehrigen Verhältnissen festzustellen (SSV-NF 1/44, 4/149), wobei allerdings bei Weitergewährung auch gegenüber diesem Zeitpunkt eine - wenn auch nicht wesentliche - Änderung eingetreten sein muß (SSV-NF 4/149, 5/5).

Im vorliegenden Fall ist jedoch davon auszugehen, daß die sogenannte erste Gewährung der Invaliditätspension eine solche wegen vorübergehender Invalidität war; gemäß § 256 ASVG kann in einem solchen Fall die Invaliditätspension für eine bestimmte Frist zuerkannt werden. Besteht nach Ablauf dieser Frist Invalidität weiter und wurde die Weitergewährung der Pension spätestens innerhalb eines Monates nach deren Wegfall beantragt, so ist die Pension für die weitere Dauer der Invalidität zuzuerkennen. Wird eine zeitlich begrenzte Invaliditätspension zuerkannt, fällt sie nach Ablauf der Frist weg, ohne daß es eines weiteren behördlichen Aktes bedarf. Die Zuerkennung der zeitlich begrenzten Invaliditätspension wirkt daher zumindest für die Frage der Invalidität nicht über die Frist hinaus, weil gerade die Tatsache, daß es sich um eine bloß vorübergehende Invalidität handelt, der Grund und die Voraussetzung für die zeitliche Begrenzung der Pension war. Dem steht nicht entgegen, daß das in § 256 ASVG verwendete Wort "Weitergewährung" auf einen gewissen Zusammenhang mit der zuerkannten Invaliditätspension hindeutet, weil eine andere Auslegung mit dem Zweck der Zuerkennung einer zeitlich begrenzten Invaliditätspension nicht vereinbar wäre. Der Anspruch auf Weitergewährung der Invaliditätspension hängt daher davon ab, ob der Versicherte nach Ablauf der Frist, für die sie zuerkannt wurde, (noch, erstmals oder wieder) als invalid im Sinn des § 255 ASVG gilt. Dabei ist ein Vergleich mit den Verhältnissen zur Zeit der Zuerkennung der Invaliditätspension, wie er bei der Entziehung einer Leistung notwendig ist, nicht anzustellen (SSV-NF 2/77, 2/119 ua).

Daraus folgt, daß der Bescheid der beklagten Partei vom 18. 7. 1989 über die "Weitergewährung" der befristet zuerkannten Invaliditätspension, der ohne Vergleich mit den Verhältnissen im Zeitpunkt der Zuerkennung der befristeten Leistung zu ergehen hatte, Ausgangspunkt der Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse sein muß (ebenso 26. 11. 91, 10 Ob S 332/91).

Entgegen diesen Grundsätzen prüfte das Erstgericht offensichtlich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Zuerkennung der befristeten Invaliditätspension. Dies ergibt sich nicht nur aus den (aus dem Akt ersichtlichen) Aufträgen an die ärztlichen Sachverständigen ON 6, wonach "Vergleichsgutachten zu 1988" gefordert wurden, sondern auch aus den Gutachten selbst (so etwa ausdrücklich das interne Gutachten ON 9 und die mündliche Erörterung des neurologischen Gutachtens ON 17) und auch aus den erstgerichtlichen Feststellungen, die den Gesundheitszustand des Klägers "zum Tatsachenkomplex der erstmaligen Pensionsgewährung" beschreiben. Darauf, ob in diesem Zeitpunkt (Bescheid vom 7. 9. 88) die Pensionsgewährung gerechtfertigt gewesen sei, kommt es jedoch bei Prüfung der Entziehungsvoraussetzungen nicht an. Das Erstgericht nimmt zwar auch auf den Gesundheitszustand des Klägers "zum Tatsachenkomplex der Weitergewährung der Pension" Stellung, beschränkt sich aber hier auf die Aussage, daß Hinweise auf ein Tumorrezidiv fehlten und der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch nicht erwerbsfähig sei, worin keine Tatsachenfeststellung, sondern eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung ohne Tatsachengrundlage zu erblicken ist. Das Berufungsgericht geht zwar zunächst zutreffend davon aus, daß die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung (also mit Bescheid vom 18. 7. 1989) mit den Verhältnissen beim Leistungsentzug zu vergleichen seien, nimmt aber dann ohne ausreichende Tatsachengrundlage eine wesentliche Änderung gegenüber dem Zeitpunkt der Weitergewährung an, die es offenbar darin erblickt, daß im Hinblick auf die Schwere der Operation und die Nachbehandlung dem Kläger eine regelmäßige Arbeit durch zwei Jahre hindurch (offenbar gemeint ab dem Operationsdatum) nicht zumutbar gewesen sei. Wie der Kläger zutreffend ausführt, waren aber diese zwei Jahre im Zeitpunkt der Weitergewährung durch Bescheid vom 18. 7. 1989 nahezu abgelaufen, sodaß eine Stabilisierung des Zustandes damals bereits erkennbar gewesen wäre. Ob aber die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension bei Erlassung des Bescheides vom 18. 7. 1989 von vornherein gefehlt haben, kann nach den erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen, die vom Berufungsgericht auch nicht ergänzt wurden, nicht verläßlich beurteilt werden. Es genügt nicht, daß die Voraussetzungen für die Leistung zur Zeit der Entziehung nicht mehr gegeben sind, sondern es muß dies auf eine Änderung der Verhältnisse zurückzuführen sein. Waren also die Voraussetzungen zur Zeit der Zuerkennung der Leistung (18. 7. 1989 nicht gegeben, so kann sie später nicht entzogen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Tatsachen der Zuerkennung zugrundegelegt wurden, sondern es sind im Verfahren über die Entziehung unabhängig von dem im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen. Geht es um die Entziehung einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit, so sind daher zunächst der körperliche und geistige Zustand des Versicherten und sein Leistungskalkül für die Zeit der Zuerkennung der Leistung festzustellen (SSV-NF 5/5; ebenso 10 Ob S 332/91).

Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren den körperlichen und geistigen Zustand des Klägers und sein Leistungskalkül für die Zeit der Zuerkennung der unbefristeten Invaliditätspension (Weitergewährung durch Bescheid vom 18. 7. 1989) in einwandfreier Weise festzustellen haben. Eine solche Feststellung des Leistungskalküls fehlt im Urteil des Erstgerichtes für die Zuerkennung der Leistung überhaupt. Auch die vom Erstgericht bestellten Sachverständigen haben ihre Vergleichsgutachten auf einen unrichtigen Zeitpunkt abgestellt. Sollte sich das Leistungskalkül seit der Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension durch Bescheid vom 18. 7. 1989 nicht geändert haben, so stünde dies einer Entziehung der Leistung entgegen. Der Revision war daher Folge zu geben. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, waren die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs.1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs.1 ASGG.

Anmerkung

E28179

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00020.92.0211.000

Dokumentnummer

JJT_19920211_OGH0002_010OBS00020_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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