TE OGH 1992/5/26 10ObS55/92

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Veröffentlicht am 26.05.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Karl Heinz Kux aus dem Kreis der Arbeitgeber und Franz Eckner aus dem Kreis der Arbeitnehmer in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Otmar G*****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen vorzeitiger Alterspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14.11.1991, GZ 7 Rs 105/91-10, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 3.7.1991, GZ 33 Cgs 110/91-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Oberste Gerichtshof stellt beim Verfassungsgerichtshof den Antrag,

1. im § 253b Abs 1 ASVG BGBl 1955/189 idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 die Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder

2. auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1.April bis 30.November 1991 verfassungswidrig war.

Rechtliche Beurteilung

Begründung:

I. Zum Sachverhalt:

Der am 28.1.1935 geborene Kläger ist beim beklagten Versicherungsträger in der Pensionsversicherung der Angestellten pflichtversichert. Er stellte am 25.4.1991 den Antrag auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß § 270 iVm § 253b ASVG, den die beklagte Partei aber mit der Begründung ablehnte, daß er am Stichtag das 60.Lebensjahr noch vollendet gehabt habe.

Der Kläger begehrte in seiner innerhalb der Frist des § 67 Abs 2 ASGG eingebrachten Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm ab dem Stichtag die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und wies seinen Antrag, hinsichtlich des § 253 b Abs 1 ASVG das Gesetzesprüfungsverfahren nach Art 89 B-VG einzuleiten, zurück. Es teilte die vom Kläger gegen die angeführte Bestimmung geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht.

II. Zur Präjudizialität:

Der Oberste Gerichtshof hat über die Revision zu entscheiden, die der Kläger fristgerecht gegen das Urteil des Berufungsgerichtes erhob. Da der Anspruch des Klägers gemäß § 270 ASVG davon abhängt, ob die im § 253 b ASVG festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Oberste Gerichtshof diese Bestimmung anzuwenden.

III. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken:

Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Erkenntnis vom 6.12.1990, G 223/88 (= JBl 1991, 372 = RdA 1991, 380 = ÖJZ 1991, 358 = ZAS 1992, 61) im § 253b Abs 1 ASVG idF BGBl 1987/609 die Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen, daß die Aufhebung mit Ablauf des 30.11.1991 in Kraft tritt. Diese Bestimmung lautete in dem hier interessierenden Teil:

"§ 253b. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn

a)

die Wartezeit (§ 236) erfüllt ist,

b)

am Stichtag 420 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben sind,

              c)              innerhalb der letzten 36 Kalendermonate vor dem Stichtag 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nachgewiesen sind oder die letzten zwölf Versicherungsmonate vor dem Stichtag Beitragsmonate der Pflichtversicherung oder Ersatzmonate gemäß § 227 Abs 1 Z 5 bzw Z 6 sind und

              d)              der (die) Versicherte am Stichtag (§ 223 Abs 2) weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig ist; eine Erwerbstätigkeit, auf Grund derer ein Erwerbseinkommen bezogen wird, das das nach § 5 Abs 2 lit c jeweils in Betracht kommende Monatseinkommen nicht übersteigt, bleibt hiebei unberücksichtigt. Als Erwerbseinkommen auf Grund einer Erwerbstätigkeit gelten auch die im § 23 Abs 2 des Bezügegesetzes bezeichneten Bezüge....."

Am 1.4.1991 trat - mit einer hier nicht bedeutsamen Ausnahme - das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 BGBl 157 in Kraft, durch das § 253 b Abs 1 ASVG in dem hier interessierenden Teil folgenden Wortlaut erhielt:

"§ 253b. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres,

a)

wenn die Wartezeit (§ 236) erfüllt ist,

b)

wenn am Stichtag 420 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben sind,

              c)              wenn innerhalb der letzten 36 Kalendermonate vor dem Stichtag 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nachgewiesen sind oder die letzten zwölf Versicherungsmonate vor dem Stichtag Beitragsmonate der Pflichtversicherung oder Ersatzmonate gemäß § 227 Abs 1 Z 5 bzw Z 6 sind,

              d)              wenn der (die) Versicherte am Stichtag (§ 223 Abs 2) weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig ist; eine Erwerbstätigkeit, auf Grund derer ein Erwerbseinkommen bezogen wird, das das nach § 5 Abs 2 lit c jeweils in Betracht kommende Monatseinkommen nicht übersteigt, bleibt hiebei unberücksichtigt;

als Erwerbseinkommen auf Grund einer Erwerbstätigkeit gelten auch die im § 23 Abs 2 des Bezügegesetzes bezeichneten Bezüge;

              e)              solange der (die) Versicherte innerhalb von sechs Kalendermonaten ab dem Stichtag (§ 223 Abs 2) weder eine die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach diesem noch nach einem anderen Bundesgesetz begründende selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Außer Betracht bleibt jedoch eine solche Erwerbstätigkeit, die

              aa)              nicht bei dem Dienstgeber ausgeübt wird - oder bei einem anderen Unternehmen, das sich im wirtschaftlichen Entscheidungsbereich dieses Dienstgebers befindet oder mit diesem in einer konzernartigen Verbindung steht - , bei dem sie während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) überwiegend ausgeübt worden ist,

              bb)              als betriebliche Tätigkeit bzw selbständige Tätigkeit im Sinne der §§ 2 und 3 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes ausgeübt wird, sofern sie der (die) Versicherte nicht während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) überwiegend ausgeübt hat,

              cc)              nicht auf der Fortführung des unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) geführten land(forst)wirtschaftlichen Betriebes (§ 2 Abs 1 Z 1 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes) beruht bzw die nicht auf einer Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs 1 Z 2 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes beruht, die während der letzten sechs Monate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ausgeübt worden ist.........".

Neben einigen sprachlichen und gesetzestechnischen Änderungen, die darin bestehen, daß in der lit b bis d das Wort "wenn" wiederholt, in der lit c das Wort "und" weggelassen und die früher in einem eigenen Satz getroffene Regelung über die Bezüge nach dem Bezügegesetz als Halbsatz in die lit d aufgenommen wurde, ist als einzige inhaltliche Änderung die lit e angefügt worden. Aus der Begründung zum Initiativantrag, auf den das angeführte Gesetz zurückgeht, ergibt sich hiezu, daß durch diese Änderung die notwendigen legistischen Schritte unternommen werden sollten, die infolge der Aufhebung der Ruhensbestimmungen im ASVG durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 15.12.1990, G 33,34/89 ua notwendig wurden (85 BlgNR 18.GP).

Es ist also zwar davon auszugehen, daß im Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 keine Regelung zur Frage beabsichtigt war, ab welchem Lebensjahr der oder die Versicherte Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer hat. Dies bedeutet aber nicht, daß der Anspruch des Klägers in diesem Punkt zum Teil noch aufgrund der früher geltenden, vom Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes betroffenen Regelung zu beurteilen ist. Da die Neufassung einer Gesetzesstelle bei Fehlen einer gegenteiligen Anordnung bewirkt, daß die frühere Fassung aus dem Rechtsbestand ausscheidet (VfGHSlg 6918), verlor die alte Regelung mit dem Inkrafttreten des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 und somit mit Ablauf des 31.3.1991 ihre Wirksamkeit. Daran ändert nichts, daß der Verfassungsgerichtshof für die Wirksamkeit der Aufhebung eine längere Frist gesetzt hat, weil durch die neue Fassung die frühere Fassung zur Gänze materiell derogiert wurde. Der Oberste Gerichtshof hat hier daher auch nur § 253b Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 und nicht in der früheren Fassung anzuwenden. Für die Möglichkeit, daß die neue Fassung wieder auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden kann, sprechen vor allem folgende Überlegungen:

1. Es ist durchaus denkbar, daß gerade durch die neue Fassung verfassungsrechtliche Bedenken, die gegen die frühere Regelung bestanden, beseitigt wurden; dies erfordert aber die Prüfung einer Bestimmung ausschließlich aufgrund der neuen, im Anlaßfall anzuwendenden Fassung.

2. Durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 wurden in der lit e neue Voraussetzungen für den Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer festgelegt; es geht nicht an, für die übrigen Anspruchsvoraussetzungen eine alte Fassung heranzuziehen, mögen diese auch gleichgeblieben sein.

3. Der Verfassungsgerichtshof hat - soweit dies überblickt werden kann, stets - auch in Fällen, in denen mehrere Fassungen eines Gesetzes anzuwenden waren, alle Fassungen entweder als verfassungswidrig aufgehoben oder ausgesprochen, daß sie verfassungswidrig waren, ohne dabei darauf Bedacht zu nehmen, ob hiedurch jener Teil der Bestimmung, der für die Verfassungswidrigkeit ausschlaggebend war, geändert wurde. Hinzuweisen ist etwa auf das schon erwähnte Erkenntnis vom 15.12.1990, G 33, 34/89 ua, in dem nicht nur § 94 ASVG in der damals geltenden Fassung der 49.ASVGNov aufgehoben, sondern auch ausgesprochen wurde, daß diese Bestimmung in den Fassungen von der

31. bis zur 48.ASVGNov verfassungswidrig war. Im § 94 ASVG wurde aber etwa durch die 31.ASVGNov BGBl 1974/775 nur im Abs 4 der Ausdruck "Sonderheilanstalt" durch den Ausdruck "Sonderkrankenanstalt" ersetzt und ferner durch die 33.ASVGNov BGBl 1978/684 und die 41.ASVGNov 1976/111 nur - wie hier - ein Satz angefügt, der für die grundsätzliche Regelung des Ruhens und daher für deren Verfassungsmäßigkeit ohne Bedeutung war. Wäre der Verfassungsgerichtshof der Meinung gewesen, daß nur jene Fassungen zu prüfen sind, die eine Änderung in dem aus der Sicht der Verfassungsmäßigkeit bedenklichen Teil der Bestimmung brachten, so hätte er andere Fassungen von der Prüfung ausnehmen und den Antrag des Obersten Gerichtshofs zurückweisen müssen, soweit er sich auf diese Fassungen bezog.

Nach Meinung des Obersten Gerichtshofs steht es daher der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 253b Abs 1 ASVG in der hier anzuwendenden Fassung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 mangels Identität der zu prüfenden Norm nicht entgegen, daß der Verfassungsgerichtshof diese Bestimmung schon in der Fassung des BGBl 1987/609 geprüft und die angeführte Wortfolge als verfassungswidrig aufgehoben hat. Ebensowenig ist es für die Antragstellung von Bedeutung, daß in Fällen, in denen der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 140 Abs 5 B-VG für das Inkrafttreten der Aufhebung eine Frist gesetzt hat, das aufgehobene Gesetz gemäß dem nachfolgenden Abs 7 auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit der Ausnahme des Anlaßfalls anzuwenden ist. Aus der bisher vorliegenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ergibt sich nur, daß die aufgehobene Bestimmung unangreifbar geworden ist (zB VfSlg 10.616 mwN); dies schließt jedoch die Meinung nicht aus, daß das aufhebende Erkenntnis auf eine neue Fassung derselben Bestimmung unmittelbar keinen Einfluß hat. Dieser Fall ist hier aber gegeben. Das von der Aufhebung des Verfassungsgerichtshofs betroffene Gesetz ist nämlich deshalb nicht anzuwenden, weil es durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 materiell derorgiert wurde. Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 253b Abs 1 ASVG offensichtlich nicht beabsichtigte, den Bedenken des Verfassungsgerichtshofs gegen die aufgehobene Bestimmung Rechnung zu tragen oder sie unbeachtet zu lassen. Diese Ansicht ändert am Außerkrafttreten der früheren Fassung nichts und kann gegebenenfalls die Verfassungswidrigkeit der neuen Fassung nicht beseitigen.

Gegen die im § 253b Abs 1 ASVG auch in der Fassung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 enthaltene Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" bestehen dieselben Bedenken, die dazu geführt haben, daß diese Wortfolge der Fassung des BGBl 1987/609 mit dem schon zitierten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6.12.1990 als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Es verstößt auch die durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 getroffene Regelung gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie bloß nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt und damit in Wahrheit nicht jene Besonderheiten berücksichtigt, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Sie kommt vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsfürsorge und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von ihr in wesentlich geringerem Maß Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet darin keinen Niederschlag. Auf all dies ist die durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 neu eingefügte Regelung der lit e ohne jeden Einfluß, weshalb die verfassungsrechtlichen Bedenken hiedurch nicht behoben werden.

Ohne Einfluß auf die Verfassungsmäßigkeit des § 253b Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 ist für den 1.5.1991, der bei einem Erfolg des Antrags des Obersten Gerichtshofs gemäß § 223 Abs 2 ASVG Stichtag wäre, das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627. Nach dessen im Rang einer Verfassungsbestimmung stehenden Art I sind zwar gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Diese Bestimmung trat aber gemäß dem Art IV des Gesetzes erst am 1.12.1991 in Kraft. Da die Rückwirkung nicht angeordnet ist und nach der Begründung des dem Gesetz zugrundeliegenden Initiativantrags im übrigen auch nicht beabsichtigt war (vgl die Worte "für den erwähnten Zeitraum" in 251 BlgNR 18.GP 2), kann das Gesetz die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung für einen vor seinem Inkrafttreten liegenden Zeitraum nicht bewirken. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, hätte er ausdrücklich die Rückwirkung anordnen müssen. Auch wenn § 253b Abs 1 ASVG ebenso wie Teile des § 236 ASVG in den Art II aufgenommen worden wäre, hätte die Bestimmung erst ab dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes als verfassungsgemäß angesehen werden können. Auch in diesem Fall hätten also noch verfassungsrechtliche Bedenken für den vorangehenden Zeitraum bestanden. Nach der Begründung zu dem dem Gesetz zugrundeliegenden Initiativantrag war die Aufnahme nicht notwendig, weil die im § 253b Abs 1 ASVG getroffene Regelung im Zuge des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 neu beschlossen wurde und seit 1.4.1991 geltendes Recht ist (BlgNR aaO 3). Aus dieser Begründung läßt sich also ableiten, daß die Abgeordneten, die den Initiativantrag eingebracht haben, und in der Folge der Gesetzgeber offensichtlich ebenfalls davon ausgingen, daß § 253b Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 eine von der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof nicht betroffene Bestimmung ist, die daher nicht wiederholt werden muß.

Die dargestellten Bedenken werden nicht dadurch beseitigt, daß der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis ausgeführt hat, dem Gesetzgeber sei wegen des Schutzes des Vertrauens eine sofortige schematische Gleichsetzung des gesetzlichen Pensionsalters für Männer und Frauen verwehrt. Er hat nämlich zugleich betont, daß der Gesetzgeber auch für jene Personen, die dem Pensionsalter nahe sind, im Sinne des Vertrauensschutzes auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes die bisherigen Unterschiede im Pensionsalter nur aufrechterhalten dürfe, "wenn - und nur wenn" er gleichzeitig Regelungen schaffe, die einen allmählichen Abbau der bloß geschlechtsspezifischen Unterscheidung bewirken. Dies ist aber nicht geschehen. Daß der Gesetzgeber nicht in der Lage war, diese Regelungen in der bis zum Sozialrechtsänderungsgesetz zur Verfügung stehenden Zeit zu treffen, kann auf die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes keinen Einfluß haben. Es wäre ihm im übrigen freigestanden, die Rückwirkung der Verfassungsbestimmung im Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten anzuordnen.

Zusammenfassend ist der Oberste Gerichtshof der Auffassung, daß gegen den von ihm anzuwendenden § 253b Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken bestehen, und daß das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6.12.1990, G 223/88 ua, mit dem die frühere Fassung dieser Bestimmung teilweise aufgehoben wurde, der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der nunmehr geltenden Bestimmung nicht entgegensteht. Dies verpflichtet ihn gemäß Art 89 Abs 2 B-VG, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung der verfassungsrechtlich bedenklichen Wortfolge dieser Bestimmung zu stellen, zumal im Schrifttum (vgl Marhold in der Tageszeitung "Die Presse" vom 17.4.1991) ähnliche Bedenken geäußert wurden.

Ginge man davon aus, daß eine allfällige Verfassungswidrigkeit der angeführten Bestimmung durch das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten ab 1.12.1991 beseitigt wurde, so kommt in Betracht, daß die angeführte Bestimmung nicht mehr aufgehoben werden, sondern daß gemäß dem sinngemäß anzuwendenden Art 140 Abs 4 B-VG nur mehr ausgesprochen werden kann, daß sie in der Zeit vom 1.4. bis 30.11.1991 verfassungswidrig war. Der Oberste Gerichtshof hat daher auch in diesem Sinn einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt (vgl Art 89 Abs 3 B-VG).

Anmerkung

E29441

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00055.92.0526.000

Dokumentnummer

JJT_19920526_OGH0002_010OBS00055_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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