TE OGH 1992/9/15 10ObS49/92

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Veröffentlicht am 15.09.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Oskar Harter (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Bayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr.Gerda S*****, gesetzlich vertreten durch ihren Sachwalter Dr.Leo Kaltenbäck, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef Pongratz-Platz 1, vertreten durch Dr.Helmut Destaller und Dr.Gerald Mader, Rechtsanwälte in Graz, wegen Gewährung der Anstaltspflege infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.November 1991, GZ 8 Rs 87/91-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 29. April 1991, GZ 32 Cgs 232/90-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 4.1.1942 geborene Klägerin wurde am 10.1.1989 zum 34. Mal in das Landes-Sonderkrankenhaus Graz aufgenommen und am 24.3.1989 gebessert entlassen. In der Krankengeschichte war eine Defektschizophrenie angemerkt. Am 12.4.1989 wurde sie zum 35. Mal in dieses Krankenhaus aufgenommen. Zwei Tage später wurde der somatische und neurologische Zustand im Vergleich zur vorangegangenen Aufnahme als unverändert beschrieben. Wegen der häuslichen Situation der Klägerin war zunächst keine Entlassung möglich, weil die Medikamenteneinnahme, die in diesem Stadium unbedingt unter ärztlicher Kontrolle erfolgen mußte, daheim nicht gesichert gewesen wäre. Nach einer Notiz in der Krankengeschichte vom 4.8.1989 war die Entlassung für den nächsten Tag vorgesehen. Am 30.8.1989 zeigte sich die Klägerin ruhig, kooperativ, freundlich und frei von akut produktiv psychotischen Symptomen, so daß sie selbst auf eine Entlassung drängte. Seither wäre eine weitere Anstaltspflege nicht erforderlich gewesen, falls in der Außenwelt der Klägerin eine entsprechende Betreuung erfolgt wäre. Die Klägerin befand sich bis zum Schluß der Verhandlung erster Instanz zum 38. Mal im Landes-Sonderkrankenhaus, wobei die Einweisung zumindest überwiegend aufgrund von Gerichtsbeschlüssen erfolgte. Aus dem Krankheitsverlauf läßt sich erkennen, daß ein schwerer schizophrener Defektzustand eingetreten ist, der praktisch einer ständigen Pflege und Betreuung bedarf. Eine wesentliche Änderung durch medizinische Maßnahmen scheint im Gesamtverlauf nicht mehr möglich. Das heißt aber nicht, daß Stimmungsschwankungen und Erregungszustände nicht einer Behandlung bedürften. Die pflegerische Problematik und die Notwendigkeit der sozialen Betreuung stehen aber völlig im Vordergrund. Seit 1.9.1989 liegt ein "Asylierungsfall" vor, weil die Anstaltspflege seither nicht überwiegend durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung gegeben erscheint. Bei der Klägerin erscheint die Notwendigkeit gegeben, sie in einer Pflegeanstalt für chronisch Kranke unterzubringen, weil dort eine besondere Pflege und ärztliche Betreuung besser gewährleistet wären als unter jeglichen anderen Bedingungen. Als Alternative wäre nur eine konstante Hauskrankenpflege durch geschulte psychiatrische Fachkräfte denkbar. In den Fällen, in denen eine entsprechende Einbettung in eine geordnete Gemeinschaft fehlt und psychotische Schübe auftreten, ergibt sich "die Konstruktion von Anstaltsnotwendigkeiten aus medizinischer Sicht". Das bedeutet, daß zur Eigensicherung immer wieder die Einweisung in die Anstalt erforderlich ist, weil eine entsprechende Betreuung und Kontrolle nicht erfolgt. Bei einer Einbettung in eine geordnete, insbesondere familiäre Situation wäre keine Anstaltspflege notwendig. Deren Notwendigkeit ergibt sich aus der isolierten Situation der Klägerin in ihrer Wohnung und ihren im Zusammenhang damit auftretenden irrationalen Vorstellungen. Die Unterbringung in einer Anstalt ergibt sich ausschließlich aus der Umweltsituation der Klägerin, nicht aber aus medizinischer Sicht. Bei entsprechender Wartung wäre eine Anstaltspflege überhaupt nicht erforderlich. Für den konkreten 35. Aufnahmefall war die Anstaltspflege ursprünglich wegen der davor fehlenden Betreuung aus medizinischer Sicht bis 30.8.1989 erforderlich, seither (bis zur Entlassung am 23.5.1990), als die Klägerin die in der Krankengeschichte festgehaltene relativ günstige Phase hatte, jedoch nicht. Die weitere Betreuung bzw Unterbringung im Landes-Sonderkrankenhaus erfolgte offensichtlich wegen der fehlenden Möglichkeit der Versorgung in anderen Bereichen. Bei künftigen Einweisungen ins Landes-Sonderkrankenhaus läßt sich die Dauer der erforderlichen medizinischen Anstaltsbehandlung nicht von vornherein fixieren. Bei unveränderter Außenweltsituation (Alleinleben) wird es auch künftig in relativ knappen Abständen immer wieder zu Einweisungen kommen, und zwar auch aus medizinischer Notwendigkeit. Nach grober Einschätzung werden je Anstaltsaufnahme jeweils vier bis zehn Tage erforderlich sein, um die Klägerin nach einem akuten Schub medizinisch zu stabiliseren.

Mit Bescheid vom 15.10.1990 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Sachwalters der Klägerin auf Übernahme der Pflegegebühren im Landes-Sonderkrankenhaus Graz ab 1.9.1989 mit der Begründung ab, daß es sich seither nicht mehr um einen Behandlungs-, sondern um einen Asylierungsfall handle, weshalb iS des § 144 Abs 3 ASVG vom Chefarzt die Asylierung verfügt worden sei.

Mit der dagegen erhobenen, pflegschaftsgerichtlich genehmigten Klage begehrt die Klägerin von der beklagten Partei nach Einschränkung die Übernahme der Kosten der Pflegegebühren für die Zeit vom 1.9.1989 an, und zwar trotz der Neuformulierung des Klagebegehrens in der Tagsatzung vom 29.4.1991, ON 10, ProtokollS 9, AS 81, die im erstgerichtlichen Urteil übernommen wurde, mit dem Endtermin 23.5.1990, dem schon im ursprünglichen Begehren enthaltenen Entlassungstag, weil kein Asylierungsfall vorliege.

Die beklagte Partei beantragte festzustellen, daß sie nicht verpflichtet sei, die Kosten der Anstaltspflege der Klägerin über den 31.8.1989 hinaus zu tragen, weil seit 1.9.1989 eine Asylierung iS des § 144 Abs 3 ASVG vorgelegen sei.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Bei der Klägerin liege eine Defektschizophrenie vor, bei der eine tatsächliche Heilbarkeit nicht möglich sei und deren Behandlung sich auf die Symptome beschränken müsse. Seit 1.9.1989 sei die Behandlung nicht mehr medizinisch notwendig gewesen, weil die Klägerin seither von akut produktiv psychotischen Symptomen frei gewesen sei und entlassen werden hätte können. Die Entlassung sei jedoch aus hygienischen Gründen und wegen der Nichteinhaltung der Zuckerdiät nicht vorgenommen worden, zumal die diesbezügliche Versorgung in der Außenwelt gefehlt habe. Es sei der Ersatz der fehlenden häuslichen Pflege und Obsorge vor einer notwendigen Behandlung in den Vordergrund getreten. Deshalb liege seit 1.9.1989 ein Asylierungsfall iS des § 144 Abs 3 ASVG vor.

Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, mangelhafter und unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen, pflegschaftsgerichtlich genehmigten Berufung der Klägerin nicht Folge.

Das Berufungsgericht übernahm die erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen als vollständig und richtig und teilte auch die rechtliche Beurteilung der ersten Instanz. Seit 1.9.1989 sei der Anstaltsaufenthalt nur an die Stelle der fehlenden häuslichen Obsorge und Pflege getreten. Eine gelegentliche Medikamentenverabreichung während des stationären Aufenthaltes könne jedoch die Gewährung der Anstaltspflege iS des § 144 Abs 3 ASVG nicht rechtfertigen.

Dagegen richtet sich die pflegschaftsgerichtlich genehmigte Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben oder das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) und Aktenwidrigkeit (Z 3 leg cit) liegen allerdings nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Nach stRsp des erkennenden Senates können auch in Sozialrechtssachen in der Berufung behauptete, vom Berufungsgericht aber verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (SSV-NF 1/32; 2/19, 24; 3/115; 4/114; 5/116 uva).

Hingegen ist die Rechtsrüge im Ergebnis berechtigt.

Der erkennende Senat ist in seiner E SSV-NF 5/134 der bisher in Lehre und Rsp vertretenen Abgrenzung zwischen "Behandlungsfall" und "Asylierungsfall" beigetreten. Danach liegt ein Behandlungsfall vor, wenn prognostisch festgestellt werden kann, daß das Leiden des Versicherten einer Behandlung zugänglich ist, wenn auch nur eine geringfügige Besserung des Grundleidens erhofft wird oder wenn die Behandlung eine Verschlechterung des Zustands hintanzuhalten geeignet ist, mag auch das Grundleiden als solches nicht mehr behebbar sein. Hingegen handelt es sich um einen Asylierungs- oder Pflegefall, wenn ein Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge allein ersetzt und nicht mehr einer erfolgversprechenden Behandlung der Krankheit dient.

Nach den das Revisionsgericht bindenden Feststellungen der Tatsacheninstanzen war während der 35. stationären Aufnahme der Klägerin im Sonder-Landeskrankenhaus Graz - auch prophylaktisch gesehen - eine ärztliche Behandlung im aufgezeigten Sinn wohl von der Aufnahme am 12.4.1989 bis 30.8.1989, nicht aber im hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 1.9.1989 bis zur Entlassung am 23.5.1990 notwendig.

Deshalb haben die Vorinstanzen die Unterbringung der Klägerin in diesem Krankenhaus während des letztgenannten Zeitraumes zutreffend als Asylierung iS des § 144 Abs 3 ASVG angesehen. Daraus folgt, daß die Anstaltspflege insoweit nicht mehr auf Kosten der beklagten Partei zu gewähren war.

Der erkennende Sent hat jedoch bereits in zwei E vom 10.12.1991, und zwar zu 10 Ob S 311/91 und in der bereits zit E SSV-NF 5/134, mit ausführlicher Begründung, auf die Bezug genommen wird, ausgesprochen, daß die - auch im vorliegenden Fall eingehaltene - Vorgangsweise des Krankenversicherungsträgers, erst "im nachhinein", also nach der Entlassung aus der Anstaltspflege, zu entscheiden, ob der Versicherte als Asylierungsfall zu gelten habe und die Kosten der Anstaltspflege vom Krankenversicherungsträger übernommen werden, nicht gebilligt werden kann. Nach diesen E ist der Krankenversicherungsträger unabhängig davon, ob der Anspruch auf Gewährung der Anstaltspflege schon nach § 100 Abs 1 lit a iVm (richtig) § 144 Abs 3 ASVG erloschen ist, weil die Anstaltspflege nicht mehr durch die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung bedingt ist, verpflichtet, die Pflegegebühren zu entrichten, wenn die Voraussetzungen für die Rückforderung bereits entstandener Aufwendungen iS des § 107 ASVG nicht gegeben wären. Von den im Abs 1 dieser Gesetzesstelle festgelegten Voraussetzungen wird am ehestens in Betracht kommen, daß der Leistungsempfänger oder sein gesetzlicher Vertreter (SSV-NF 3/96) - im vorliegenden Fall der jeweilige Sachwalter der Klägerin, zunächst Karl Neuherz, dann Dr.Leo Kaltenbäck (siehe Klage), wobei Art und Umfang der von ihnen zu besorgenden Angelegenheiten festzustellen wären - erkennen mußte, daß die Leistung (Anstaltspflege) nicht (mehr) gebührt. Sieht man von besonders gelagerten Fällen ab, wird dies jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Fall sein, in dem der Versicherungsträger die Weitergewährung der Anstaltspflege ablehnt, wobei nicht ein Bescheid erforderlich ist, sondern auch eine andere eindeutige Form der Mitteilung genügt. Wird nämlich der Leistungsempfänger von der hiefür zuständigen Stelle auf die Umstände aufmerksam gemacht, die das Erlöschen seines Anspruches bewirken, dann kann er sich nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, daß er das Erlöschen nicht iS des § 107 Abs 1 ASVG hätte erkennen können. Das gilt auch dann, wenn die Lösung der Frage, ob der Anspruch erloschen ist, vom Gutachten eines Sachverständigen abhängt und möglicherweise auch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung einen Grenzfall bildet. Ein Rechtsirrtum ist im allgemeinen zwar nur vorwerfbar, wenn die richtige rechtliche Beurteilung bei Anwendung der gehörigen Aufmerksamkeit hätte erreicht werden können, was in Asylierungsfällen sehr oft zu verneinen sein wird. Der Zweck des § 107 ASVG erfordert aber ein anderes Veschuldensverständnis, weil durch diese Bestimmung vermieden werden soll, daß der Leistungsempfänger im Genuß einer Leistung bleibt, die ihm zu Unrecht gewährt wird. Es muß daher bei einer laufenden Leistung genügen, wenn er die Möglichkeit ernstlich in Betracht ziehen mußte, daß ihm die Leistung zu Unrecht gewährt wird. Dies ist aber der Fall, wenn ihm in eindeutiger Form mitgeteilt wird, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Anstaltspflege nicht (mehr) vorliegen, und zwar auch dann, wenn ihm abweichende ärztliche Meinungen bekannt sind (SSV-NF 5/134). Das Recht des Versicherungsträgers auf Rückforderung nach § 107 Abs 1 ASVG würde nach Abs 2 lit a dieser Gesetzesstelle allerdings nicht bestehen, wenn er zum Zeitpunkt, in dem er erkennen mußte, daß die Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, die für eine bescheidmäßige Feststellung erforderlichen Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist unterlassen hätte.

Die in den E des erkennenden Senates vom 10.12.1991 vertretenen, auch im vorliegenden Fall relevanten Rechtsansichten wurden von den Vorinstanzen, deren Entscheidungen vorher ergangen sind, aber auch von den Parteien bisher noch nicht erörtert. Um die Parteien nicht mit diesen Rechtsansichten zu überraschen und ihnen Gelegenheit zu einem der dargestellten Rechtslage entsprechenden Vorbringen und zu allenfalls erforderlichen Beweisanträgen zu geben, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (SSV-NF 5/134).

Der Vorbehalt der Entscheidung über die Pflicht zum Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E30287

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00049.92.0915.000

Dokumentnummer

JJT_19920915_OGH0002_010OBS00049_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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