TE OGH 1993/3/11 2Ob67/92

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Veröffentlicht am 11.03.1993
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josefine S*****, vertreten durch Dr.Gernot Schreckeneder, Rechtsanwalt in Zell am See, wider die beklagte Partei V*****, vertreten durch Dr.Wolfgang Gassner, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Feststellung, infolge Revision beider Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 10.September 1992, GZ 21 R 109/92-35, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Zell am See vom 14.Jänner 1992, GZ 2 C 902/89d-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision der Beklagten wird nicht, hingegen der Revision der Klägerin Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, daß die Entscheidung zu lauten hat:

"Es wird festgestellt, daß die beklagte Partei für alle wie immer gearteten zukünftigen Schäden und Unfallsfolgen aus dem Unfall vom 19.1.1988 gegenüber der Klägerin haftet, wobei diese Haftung der Höhe nach durch den Versicherungsvertrag begrenzt ist."

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, an Verfahrenskosten erster und zweiter Instanz den Betrag von S 41.279 (darin enthalten S 7.401 Barauslagen und S 4.844,20 Umsatzsteuer) sowie die mit S 8.687,04 (darin enthalten S 1.108 Barauslagen und S 1.147,84 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin wurde am 19.1.1988 gegen 17.30 Uhr als Fußgängerin auf der L***** Bundesstraße im Gemeindegebiet von Z***** von dem von Andre F***** gelenkten PKW Renault 25 mit luxemburgischem Kennzeichen D***** niedergestoßen und schwer verletzt. Sie begehrt die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für alle wie immer gearteten zukünftigen Schäden und Unfallsfolgen aus diesem Unfall, wobei die Haftung der Höhe nach durch den für diesen PKW abgeschlossenen Versicherungsvertrag begrenzt sei. Sie brachte dazu vor, den Fahrzeuglenker treffe das Alleinverschulden, weil er die vorschriftsmäßig den Schutzweg überquerende Klägerin niedergestoßen habe. Das Feststellungsinteresse wurde mit noch bestehenden Dauerfolgen begründet.

Die beklagte Partei wendete ein, das Alleinverschulden treffe die Klägerin, weil sie die Bundesstraße außerhalb des Schutzweges knapp vor dem PKW überquert und dabei den Verkehr zu wenig beobachtet habe. Der Unfall sei trotz sofortig eingeleiteter Vollbremsung nicht vermeidbar gewesen.

Das Erstgericht hat der Klage im ersten Rechtsgang zur Gänze stattgegeben (ON 17). Nach Aufhebung dieser Entscheidung durch das Landesgericht Salzburg (ON 21) erachtete es das Feststellungsbegehren im zweiten Rechtsgang mit der Einschränkung gegeben, daß die beklagte Partei nur für zwei Drittel der künftigen Schäden hafte. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen.

Es stellte folgenden wesentlichen Sachverhalt fest:

Zur Zeit des Unfalls war es bereits dunkel, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet, die Fahrbahn der 7,6 m breiten, in diesem Bereich über eine längere Strecke völlig gerade und übersichtlich verlaufenden Loferer Bundesstraße, an die sich in Fahrtrichtung des PKW gesehen links eine 2,8 m breite Bus-Spur anschließt, war naß. Die Klägerin war aus einem in der Bus-Spur haltenden Linienbus vorne ausgestiegen, den Bus entlang gegangen und wollte die Bundesstraße auf einem Schutzweg überqueren. Dieser ist durch zwei seitliche gelbblinkende Ampeln und eine horizontale Springampel gekennzeichnet. A***** F***** lenkte seinen PKW mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 bis 55 km/h auf der Bundesstraße in Richtung Ortszentrum. In diesem Bereich besteht - wie das Berufungsgericht nachgetragen hat - eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h. Die Klägerin überquerte den Schutzweg mit zügiger -etwas eher rascher - Gehweise. Als sie Sicht auf den PKW besaß, und zwar uneingeschränkt an der linken Seite des Autobusses vorbei, war der PKW noch 35 m von der späteren Unfallstelle entfernt. Der PKW-Lenker hätte die dunkel gekleidete Klägerin bei besonderer Aufmerksamkeit wahrnehmen können, als er etwa 25 m von der Gehlinie der Fußgängerin entfernt war. Dabei hätte die Fahrgeschwindigkeit bei unverzüglicher Reaktion auf etwa 35 km/h (Bremsverzögerung von 6,5 m/sec2) herabgesetzt werden können. Der PKW-Lenker reagierte mit einer Reaktionsverspätung von 0,7 Sekunden auf das Auftauchen der Klägerin und erfaßte diese mit seinem Fahrzeug auf der von ihm befahrenen Fahrspur in Richtung Zell am See. Hätte er eine Fahrgeschwindigkeit von 40 km/h eingehalten und unverzüglich auf die Auffälligkeit der Klägerin reagiert, hätte der PKW noch vor der Querungslinie der Fußgängerin zum Stillstand gebracht werden können, da der Anhalteweg bei 40 km/h etwa 21 m betragen hätte. Wenn die Klägerin wegen des sich nähernden PKW, der sich bereits in kritischer Distanz befunden hatte, stehen geblieben wäre, wäre der Unfall gleichfalls nicht erfolgt.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß den Lenker des PKW ein Verschulden durch den Reaktionsverzug und die überhöhte Ausgangsgeschwindigkeit von 50 bis 55 km/h treffe. Auch der Klägerin sei ein Mitverschulden anzulasten, da sie bereits bei erster Wahrnehmung des PKW hätte erkennen können, daß sich dieser in kritischer Entfernung befinde. Die mangelnde Beobachtung des Verkehrsgeschehens durch die Klägerin oder auch die Fehleinschätzung der Situation begründe ein Mitverschulden von einem Drittel.

Das Berufungsgericht gab den von den Streitteilen erhobenen Berufungen nicht Folge. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß der Lenker des PKW durch Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit in der Annäherung an den Schutzweg gegen die Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO verstoßen habe und ihm auch ein Aufmerksamkeitsfehler zur Last falle, der sich in einem Reaktionsverzug von 0,7 Sekunden äußere. Auch der Klägerin müsse ein erheblicher Beobachtungsfehler zur Last gelegt werden. Der PKW sei nur mehr 35 m vom Schutzweg entfernt gewesen, als sie erstmals auf diesen Sicht gehabt hatte. Das Fahrzeug habe sich bereits in einer kritischen Entfernung befunden, weil es unter Bedachtnahme auf die eingehaltene Geschwindigkeit von 50 bis 55 km/h nicht mehr zum Stillstand gebracht hätte werden können. Auch wenn ein im Vorrang befindlicher Fußgänger beim Abschätzen der Verkehrssituation zur Beurteilung der Möglichkeit des gefahrlosen Überquerens der Fahrbahn auf dem Schutzweg zunächst vertrauen dürfe, daß sich der Lenker mit einer solchen Geschwindigkeit nähert, daß das Fahrzeug angehalten werden kann, um dem Fußgänger das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen so ergäbe sich gerade aus den Angaben der Klägerin, daß sie den Verkehr aus der Fahrtrichtung des Beklagtenfahrzeuges nur unzureichend beobachtet habe. Nach ihren Angaben habe sie vor dem Betreten des Schutzweges Fahrzeuge aus der Fahrtrichtung des Beklagtenfahrzeuges in einer Entfernung von 130 m wahrgenommen, während der PKW bei erster Sicht tatsächlich nur mehr 35 m entfernt gewesen sei. Damit könne sie sich nicht mehr auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Selbst bei Einhaltung einer zulässigen Geschwindigkeit von 40 km/h hätte der PKW vor der Querungslinie der Fußgängerin nur durch eine Vollbremsung oder zumindest starke Bremsung zum Stillstand gebracht werden können.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO zu, weil der Oberste Gerichtshof in der E ZVR 1981/202 einen zugunsten der Klägerin deutlich weniger strengen Standpunkt eingenommen habe.

Gegen dieses Urteil richten sich auf den Revisionsgrund des § 503 Z 4 ZPO gestützten Revisionen aller Parteien. Die Klägerin begehrt Abänderung dahin, daß dem Feststellungsbegehren zur Gänze stattgegeben werde. Die beklagte Partei beantragt, das Urteil des Berufungsgerichtes dahin abzuändern, daß das Feststellungsbegehren zur Gänze abgewiesen werde.

Beide Parteien beantragen der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision der Klägerin kommt Berechtigung zu.

Gemäß § 9 Abs 2 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges einem Fußgänger, der sich auf einem Schutzweg befindet, das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Zu diesem Zweck darf sich der Lenker einem Schutzweg nur mit einer solchen Geschwindigkeit nähern, daß er das Fahrzeug vor dem Schutzweg anhalten kann; er hat, falls erforderlich, vor dem Schutzweg anzuhalten. Diese Bestimmung verfolgt daher den Zweck, Fußgängern das ungehinderte Überqueren der Fahrbahn auf einem Schutzweg zu ermöglichen und legt - wie aus dem AB hervorgeht - nicht nur eine Geschwindigkeitsbeschränkung für die Annäherung von Fahrzeugen am Schutzwege, sondern auch den Vorrang des sich bereits auf dem Schutzweg befindlichen Fußgängers gegenüber herannahenden Fahrzeugen fest (Dittrich-Stolzlechner, StVO, § 9 Rz 22). Wann allerdings ein Fußgänger den Schutzweg betreten darf, ergibt sich aus § 76 Abs 4 lit a StVO, der dazu besagt, daß ein Fußgänger den Schutzweg nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug und für den Lenker überraschend betreten darf. "Unmittelbar" im Sinne dieser Gesetzesstelle bedeutet nach der Rechtsprechung, daß der - zur Beobachtung des Verkehrs verpflichtete Fußgänger (ZVR 1981/250) - den Schutzweg nicht so knapp vor einem herannahenden Fahrzeug betreten darf, daß einem vorschriftsmäßigen und aufmerksam fahrenden Lenker ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich ist. "Überraschend" betritt ein Fußgänger den Schutzweg dann, wenn andere Straßenbenützer nach den Umständen nicht damit rechnen können und nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten darauf abzustellen (ZVR 1987/70; ZVR 1984/225). Bei Beurteilung des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer müssen alle relevanten Umstände, wie Geschwindigkeit des sich nähernden Fahrzeuges, der Abstand vom Schutzweg, der Zustand der Fahrbahn udgl. berücksichtigt werden. Insbesondere verpflichtet eine Sichtbehinderung den sich dem Schutzweg nähernden Lenker zu besonderer Vorsicht (ZVR 1981/202).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze empfiehlt es sich, zunächst auf die Revision der beklagten Partei einzugehen. Entgegen der darin vertretenen Rechtsansicht ist aber eine Feststellung, wonach dem PKW-Lenker unter Bedachtnahme auf die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit von 50 bis 55 km/h ein Anhalten vor dem Schutzweg zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin erstmals Sicht auf das Fahrzeug erlangen konnte, nicht mehr möglich war, den Feststellungen nicht zu entnehmen, auch wenn das Berufungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung der Sache eine derartige Aussage getroffen hat. Bei der damals erreichbaren Bremsverzögerung von 6,5 m/sec2 beträgt nämlich der Anhalteweg aus einer Geschwindigkeit von 55 km/h unter Berücksichtigung einer Vorbremszeit von 0,2 Sekunden sowie einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden 33,28 m. Dies bedeutet, daß der PKW noch vor dem Schutzweg angehalten hätte werden können. In diesem Sinn ist der hier zu beurteilende Fall jenem bereits vom Obersten Gerichtshof (ZVR 1981/202) entschiedenen Unfall durchaus vergleichbar, weil es auch dort dem PKW-Lenker möglich war, sein Fahrzeug unter den gegebenen Umständen noch vor dem Schutzweg anzuhalten. Der Oberste Gerichtshof sieht sich auch durch die Revisionsausführungen der beklagten Partei nicht veranlaßt, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Zu bemerken ist allerdings noch, daß die in der Revision zitierten Entscheidungen (ZVR 1983/55; ZVR 1984/172 und ZVR 1976/9) zur Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes nicht herangezogen werden können, weil es sich in den dort zu entscheidenden Fällen einerseits um Unfälle handelte, die sich nicht auf einem Schutzweg zugetragen haben, andererseits in einem Fall ein Fußgänger bei für ihn herrschendem Rotlicht die Fahrbahn überquerte; auch dieser Sachverhalt ist nicht vergleichbar. Zu berücksichtigen ist allerdings hier, daß der PKW-Lenker infolge der herrschenden Sichtverhältnisse bei Annäherung an dem durch eine Springampel auffällig gekennzeichneten Schutzweg zur besonderen Vorsicht verpflichtet war, weil ihm die Sicht auf den gesamten Schutzweg durch den davor haltenden Autobus verwehrt war und er nicht ohne weiteres davon ausgehen konnte, daß sich kein Fußgänger auf dem Schutzweg befindet. Die Unterlassung dieser erforderlichen Sorgfalt als auch die festgestellte Reaktionsverspätung begründen daher das Verschulden des PKW-Lenkers.

Zur Revision der klagenden Partei:

Auch die Klägerin war zur Beobachtung des Verkehrs verpflichtet (ZVR 1981/250). Im vorliegenden Fall ist allerdings zu berücksichtigen, daß sie auf dem Schutzweg bereits 2,8 m zurückgelegt hatte, als sie an der linken Seite des Autobusses Sicht auf den von rechts kommenden Verkehr hatte und ihr zu diesem Zeitpunkt bereits grundsätzlich das Vorrecht im Sinn des § 9 Abs 2 StVO zukam und sie daher darauf vertrauen konnte, daß sich PKW-Lenker dem Schutzweg nur mit einer solchen Geschwindigkeit näheren, die ihr das ungehinderte Überqueren der Fahrbahn ermöglichen. Als sie erstmals Sicht auf den von rechts kommenden Fahrzeugverkehr hatte, war der PKW noch 35 m entfernt. Wenn sie aber unter den gegebenen Umständen (Dunkelheit) entweder die Geschwindigkeit oder die Entfernung des herannahenden PKW falsch einschätzte, bedeutet dies zwar ein Versehen, kann aber bei Beurteilung der Gesamtsituation außer Betracht bleiben. Stellt man den Sorgfaltsverstoß des PKW-Lenkers, der bei Annäherung an den Schutzweg zur besonderen Vorsicht verhalten war, dem Versehen der Klägerin gegenüber, so bleibt für ein von dieser zu vertretendes meßbares Mitverschulden kein Raum.

Aus diesen Gründen war lediglich der Revision der Klägerin Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

Anmerkung

E30712

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1993:0020OB00067.92.0311.000

Dokumentnummer

JJT_19930311_OGH0002_0020OB00067_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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