TE Vwgh Erkenntnis 2006/5/23 2004/11/0201

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Veröffentlicht am 23.05.2006
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
25/01 Strafprozess;
90/02 Führerscheingesetz;

Norm

FSG 1997 §24 Abs1 Z1;
FSG 1997 §7 Abs1;
FSG 1997 §7 Abs3 Z10;
FSG 1997 §7 Abs3;
StPO 1975 §90a;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Gall, Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Runge, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. Helmut Adelsberger, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Brucknerstraße 4, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 9. August 2004, Zl. MA 65-2178/2004, betreffend Entziehung der Lenkberechtigung und Lenkverbot, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 22. Jänner 2003, mit dem ihm gemäß § 24 Abs. 1 Z. 1 iVm § 25 Abs. 3 FSG die Lenkberechtigung für die Klassen A, B, C, E, F und G für einen Zeitraum von sechs Monaten, "gerechnet ab Zustellung des Bescheides", entzogen und gemäß § 32 Abs. 1 Z. 1 FSG für denselben Zeitraum das Lenken von Motorfahrrädern, vierrädrigen Leichtkraftfahrzeugen und Invalidenfahrzeugen verboten worden war, abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid mit der Maßgabe bestätigt, dass die Entziehungszeit mit 27. Jänner 2003 begonnen und am 27. Juli 2003 geendet habe.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, gegen den Beschwerdeführer schienen "sechs einschlägige Anzeigen wegen Übergriffen gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen auf", nämlich

"1. Strafbezirksgericht Wien, 2 U 914/86, vom 14. April 1986, rechtskräftig 13. Mai 1986, § 83 Abs. 1 StGB, ...

2. Bezirksgericht Döbling, 8 U 2267/91, vom 27. Februar 1992, rechtkräftig 9. März 1993, § 83 Abs. 1 StGB, ...

3. Landesgericht für Strafsachen Wien, 7 B E Vr 14128/92 Hv 6954/93, vom 7. Februar 1994, rechtskräftig 7. Februar 1994, Tatzeit 12. Jänner 1992, § 80 StGB..., 18 Monate Führerscheinentzug vom 14. November 1996 bis 14. Mai 1998.

4. Bezirksgericht Döbling, 31 U 2191/95, vom 5. Juli 1995, rechtskräftig 17. November 1995, Tatzeit 18. März 1995, wegen § 83 Abs. 1 StGB, ...

5. Bezirksgericht Favoriten, 23 U 185/02x, Beschluss vom 12. September 2002, Tatzeit 18. Dezember 2001, nach Diversion Strafverfahren wegen § 83 Abs. 1 StGB wird gemäß § 90c Abs. 5 Strafprozessordnung in Verbindung mit § 90 Strafprozessordnung endgültig eingestellt, vorgeschriebener Bußgeldbetrag von 160,-- EUR bezahlt.

6. In Wien 11, Tatzeit 29. August 2002, Bezirksgericht Innere Stadt, 13 U 18/03m, laut gekürzter Urteilsausfertigung Freispruch von § 83 Abs. 1 StGB und § 125 StGB, Freispruch gemäß § 259 Z. 3 Strafprozessordnung"

Während die erstinstanzliche Behörde nur die "zeitmäßig letzten zwei Fälle einbezogen" habe, seien von der belangten Behörde zur Beurteilung der Verkehrszuverlässigkeit des Beschwerdeführers alle sechs Fakten berücksichtigt worden. Auch "nach dem Wegfall des Falles 6 infolge Freispruches" lägen noch immer mehrere Straftaten vor, weshalb das Erfordernis der wiederholten Tatbegehung gemäß § 7 Abs. 6 FSG erfüllt sei, "zumal der bekämpfte Entziehungsbescheid am 27. Jänner 2003 erlassen worden ist ... und in die Wertung die nicht länger als zehn Jahre zurückliegenden Tatbegehungen einzubeziehen waren, darunter auch die Tat vom 18. März 1995".

Die belangte Behörde erachte sowohl in der rechtskräftigen Verurteilung zu Punkt 4. als auch in der Diversion (Punkt 5.) eine bindende Vorfragenentscheidung, weshalb in diesen beiden Fällen von der Begehung der jeweils angelasteten Straftaten auszugehen sei. Im Rahmen der Wertung sei darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass die bewusste mehrfache körperliche Verletzung von anderen Verkehrsteilnehmern jeweils in Verbindung mit dem Lenken von Kraftfahrzeugen gestanden sei. Ein solches Verhalten sei als besonders verwerflich und gefährlich zu werten und lasse auf eine Sinnesart des Beschwerdeführers zu schließen, die der vom Lenker eines Kraftfahrzeugen zu erwartenden geradezu zuwider laufe. Eine nachhaltige Änderung könne "erst durch ein längeres Wohlverhalten beurteilt werden". Dabei müsse die von der erstinstanzlichen Behörde festgesetzte Entziehungsdauer von sechs Monaten "ohnehin als moderate Maßnahme angesehen" werden.

Über die dagegen erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Die maßgebenden Bestimmungen des Führerscheingesetzes, BGBl. I Nr. 120/1997 idF BGBl. I Nr. 129/2002 (FSG), lauten (auszugsweise):

"Allgemeine Voraussetzungen für die Erteilung einer Lenkberechtigung

§ 3. (1) Eine Lenkberechtigung darf nur Personen erteilt werden, die:

...

2. verkehrszuverlässig sind (§ 7),

...

Verkehrszuverlässigkeit

§ 7. (1) Als verkehrszuverlässig gilt eine Person, wenn nicht auf Grund erwiesener bestimmter Tatsachen (Abs. 3) und ihrer Wertung (Abs. 4) angenommen werden muss, dass sie wegen ihrer Sinnesart beim Lenken von Kraftfahrzeugen

1. die Verkehrssicherheit insbesondere durch rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr oder durch Trunkenheit oder einen durch Suchtmittel oder durch Medikamente beeinträchtigten Zustand gefährden wird, oder

2. sich wegen der erleichternden Umstände, die beim Lenken von Kraftfahrzeugen gegeben sind, sonstiger schwerer strafbarer Handlungen schuldig machen wird.

...

(3) Als bestimmte Tatsache im Sinne des Abs. 1 hat insbesondere zu gelten, wenn jemand:

...

10. eine strafbare Handlung gegen Leib und Leben gemäß den §§ 75, 76, 84 bis 87 StGB oder wiederholt gemäß dem § 83 StGB begangen hat;

...

(6) Für die Beurteilung, ob eine strafbare Handlung gemäß Abs. 3 Z 7 lit. b, 8, 10 letzter Fall oder 14 wiederholt begangen wurde, sind vorher begangene Handlungen der gleichen Art selbst dann heranzuziehen, wenn sie bereits einmal zur Begründung des Mangels der Verkehrszuverlässigkeit herangezogen worden sind, es sei denn, die zuletzt begangene Tat liegt länger als zehn Jahre zurück. ...

Entziehung, Einschränkung und Erlöschen der Lenkberechtigung Allgemeines

§ 24. (1) Besitzern einer Lenkberechtigung, bei denen die Voraussetzungen für die Erteilung der Lenkberechtigung (§ 3 Abs. 1 Z 2 bis 4) nicht mehr gegeben sind, ist von der Behörde entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit

1.

die Lenkberechtigung zu entziehen oder

2.

die Gültigkeit der Lenkberechtigung durch Auflagen, Befristungen oder zeitliche, örtliche oder sachliche Beschränkungen einzuschränken. Diese Einschränkungen sind gemäß § 13 Abs. 2 in den Führerschein einzutragen.

...

Verbot des Lenkens von Motorfahrrädern, vierrädrigen Leichtkraftfahrzeugen oder Invalidenkraftfahrzeugen

§ 32. (1) Personen, die nicht im Sinne des § 7 verkehrszuverlässig oder nicht gesundheitlich geeignet sind, ein Motorfahrrad, ein vierrädriges Leichtkraftfahrzeug oder ein Invalidenkraftfahrzeug zu lenken, hat die Behörde unter Anwendung der §§ 24 Abs. 3 und 4, 25, 26 und 29 entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit das Lenken eines derartigen Kraftfahrzeuges

1. ausdrücklich zu verbieten,

..."

Zunächst ist zur sachlichen Zuständigkeit der belangten Behörde festzuhalten, dass das gegenständliche Verfahren zum gemäß § 43 Abs. 11 letzter Satz FSG maßgebenden Zeitpunkt, nämlich am 1. August 2002, bereits anhängig war, weshalb die Zuständigkeit der belangten Behörde gegeben ist (vgl. das den Beschwerdeführer betreffende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2004, B 1241/03-8).

Unabdingbare Voraussetzung für die Verneinung der Verkehrszuverlässigkeit eines Inhabers einer Lenkberechtigung ist, wie der Wortlaut des § 7 Abs. 1 FSG unmissverständlich zum Ausdruck bringt, das Vorliegen zumindest einer erwiesenen bestimmten Tatsache im Sinn des § 7 Abs. 3 FSG. Fehlt es an einer solchen bestimmten Tatsache, so darf die Verkehrszuverlässigkeit auch dann nicht verneint werden, wenn der Betreffende im Übrigen eine größere Zahl gerichtlich strafbarer Handlungen und/oder Verwaltungsübertretungen begangen hat. Für eine Verneinung der Verkehrszuverlässigkeit im Wege einer "gesamthaften Zusammenschau" des Fehlverhaltens ist im FSG, sofern keine der strafbaren (wiederholten) Handlungen eine bestimmte Tatsache bildet, kein Raum (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 2004, Zl. 2004/11/0178).

Die belangte Behörde ist vom Vorliegen einer bestimmten Tatsache im Sinne des § 7 Abs. 3 Z 10 FSG ("strafbare Handlung gegen Leib und Leben .... wiederholt gemäß dem § 83 StGB begangen") deshalb ausgegangen, weil das gegen den Beschwerdeführer, der bereits wegen einer am 18. März 1995 begangenen vorsätzlichen Körperverletzung rechtskräftig verurteilt worden war, wegen § 83 Abs. 1 StGB zur Zl. 23 U 185/02x des Bezirksgerichtes Favoriten geführte Strafverfahren wegen einer am 18. Dezember 2001 begangenen vorsätzlichen Körperverletzung gemäß § 90c Abs. 5 iVm § 90 StPO mit Beschluss vom 12. September 2002 eingestellt worden sei. Diese Diversion stelle ebenso wie eine rechtskräftige Verurteilung eine bindende Vorfragenentscheidung dar. Es sei daher in beiden Fällen davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die ihm jeweils angelasteten Straftaten begangen habe.

Damit hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt:

Die Einstellung des Strafverfahrens nach Rücktritt von der Verfolgung durch den Staatsanwalt bzw. durch das Gericht im Rahmen einer Diversion gemäß §§ 90a ff StPO entfaltet - anders als eine rechtskräftige Verurteilung - keine Bindung (vgl. das hg. Erkenntnis vom 31. März 2005, Zl. 2003/03/0051). Die belangte Behörde durfte sich deshalb hinsichtlich der dem Beschwerdeführer angelasteten Straftat vom 18. Dezember 2001 nicht nur mit dem Hinweis auf die diversionelle Erledigung des diesbezüglichen Strafverfahrens begnügen, wenn sie diesen Vorfall der Entziehung der Lenkberechtigung zu Grunde legen wollte, sondern wäre verpflichtet gewesen, im Hinblick auf diesen Vorfall eigene Feststellungen auf Grund eigener Beweiswürdigung zu treffen.

Indem die belangte Behörde dies unterlassen hat, kann das Vorliegen einer bestimmten Tatsache im Sinne des § 7 Abs. 3 FSG nicht nachvollzogen werden. Der Entziehung der Lenkberechtigung des Beschwerdeführers sowie der Verhängung eines Lenkverbotes ist folglich - auf Grund der Aktenlage - die Grundlage entzogen.

Der angefochtene Bescheid war aus diesen Erwägungen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 23. Mai 2006

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Bindung der Verwaltungsbehörden an gerichtliche Entscheidungen VwRallg9/4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2004110201.X00

Im RIS seit

06.07.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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