TE Vwgh Erkenntnis 2006/11/30 2006/19/0301

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.11.2006
beobachten
merken

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der R in W, vertreten durch Dr. Gertraude Carli, Rechtsanwältin in 8230 Hartberg, Raimund-Obendrauf-Straße 9, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 21. August 2003, Zl. 240.394/0-VII/43/03, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin ist Staatsbürgerin der Russischen Förderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und moslemischen Bekenntnisses. Sie verließ - ihren Angaben zufolge - am 9. Mai 2003 Tschetschenien, gelangte am 14. Mai 2003 nach Österreich und stellte am 15. Mai 2003 einen Asylantrag.

In ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 28. Juli 2003 gab die Beschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann im Februar 2000 durch einen Bombenangriff oder einen Scharfschützen getötet worden sei. Sie sei zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Tochter in einem Luftschutzkeller gewesen. Danach sei sie mit ihrer Tochter und ihrer Schwiegermutter auf Grund des Krieges in Tschetschenien nach Nordossetien gegangen und Anfang 2003 nach Tschetschenien zurückgekehrt. Tschetschenien habe sie dann mit ihrer Tochter, ihrer Schwester und deren Sohn verlassen, da sie wegen des Krieges in ständiger Angst gelebt hätte.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 29. Juli 2003 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I), erklärte gemäß § 8 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation für nicht zulässig (Spruchpunkt II) und erteilte für den Fall des Eintritts der Rechtskraft der Spruchpunkte I und II der Beschwerdeführerin gemäß § 15 Abs. 1 und 3 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung befristet auf drei Monate (Spruchpunkt III).

In der Begründung seines Bescheides traf das Bundesasylamt nach Wiedergabe des Vorbringens der Beschwerdeführerin Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation und im Besonderen zur Entwicklung der Lage in Tschetschenien. In diesem Zusammenhang wurden Kampfhandlungen im zweiten Tschetschenienkrieg 1999 bis zur Einnahme von Grosny am 6. Februar 2000 durch russische Truppen geschildert. Dabei hätte ein russischer Raketenangriff auf dem Markt von Grosny unter der Zivilbevölkerung ein Massaker angerichtet.

Weiters wurde festgestellt, dass von massiven Menschenrechtsverletzungen des russischen Militärs (u.a. in so genannten "Filtrationslagern") gegen der Kooperation mit den tschetschenischen Rebellen Verdächtige innerhalb Tschetscheniens weiterhin berichtet werde und dass der Befehl Nr. 80 des Generalleutnants Moltenskoi vom 27. März 2002 betreffend offenes und diszipliniertes Vorgehen russischer Sicherheitskräfte bei so genannten "Säuberungsaktionen" in Tschetschenien vorläufig noch zu keiner Verbesserung des Vorgehens der russischen Kräfte geführt habe.

In der Folge führte das Bundesasylamt aus, dass neu aus Tschetschenien fliehende ethnische Tschetschenen - abgesehen von Fällen bereits bestehender familiärer oder melderechtlicher Anknüpfungspunkte in anderen Regionen - oft keine Möglichkeit hätten, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen. Für ethnische Russen und Russinnen aus Tschetschenien bestehe diese Möglichkeit im Allgemeinen.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen hielt das Bundesasylamt das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen nicht für geeignet, wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Gründen glaubhaft zu machen. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt "auf Grund des anhaltenden Bürgerkriegs in Tschetschenien und Ihrer Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe" jedoch nicht zulässig.

In ihrer Berufung an die belangte Behörde wandte sich die Beschwerdeführerin gegen Spruchpunkt I im Bescheid des Bundesasylamtes und führte begründend aus, dass sie seit dem gewaltsamen Tod ihres Mannes in diesem sinnlosen Krieg "in ständiger Angst vor den Russen" leben würde.

Mit dem angefochtenen, ohne weitere Ermittlungen und ohne Berufungsverhandlung erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab.

In der Begründung dieser Entscheidung verwies die belangte Behörde auf die Feststellungen des Bundesasylamtes zum Herkunftsstaat. Die Beschwerdeführerin habe im gesamten Verfahren nicht dargetan, dass sie in der Russischen Föderation "aus Gründen ihrer Rasse, Nationalität oder sonstigen Gründen im Sinne des Asylgesetzes" einer konkreten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Sie selbst habe angegeben, dass sie im Fall ihrer Rückkehr konkret nichts zu befürchten hätte, dass es jedoch keine Arbeit gebe und für ihr Kind keine Möglichkeit zur Schule zu gehen. Das Bundesasylamt sei daher zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Asylgewährung nicht vorliegen würden. Von der Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung hätte abgesehen werden können, da das Bundesasylamt den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ausreichend ermittelt und die Beweise schlüssig gewürdigt habe. Das Vorbringen in der Berufung decke sich "zur Gänze" mit dem Vorbringen vor dem Bundesasylamt. Ein darüber hinausgehendes Vorbringen sei nicht erstattet worden. Eigene Ermittlungen durch die belangte Behörde wären daher wegen geklärter Sachlage nicht mehr erforderlich gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Das Bundesasylamt, auf dessen Feststellungen die belangte Behörde verwiesen hat, vertrat in der Begründung zu Spruchpunkt II seines Bescheides vom 29. Juli 2003 im Zusammenhang mit § 8 AsylG die Auffassung, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr auf Grund der Lage in Tschetschenien einer unmenschlichen Behandlung - im Sinne des Art. 3 EMRK - ausgesetzt wäre. Die Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe verunmögliche mangels familiärer und melderechtlicher Anknüpfungspunkte in anderen Regionen der russischen Föderation eine Ausweichmöglichkeit innerhalb der Russischen Föderation. Die "Inanspruchnahme einer inländischen Fluchtalternative" sei für die Beschwerdeführerin aus diesem Grund nicht möglich.

Die belangte Behörde verneinte den Asylanspruch der Beschwerdeführerin - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - unter Hinweis darauf, dass sie keine "konkrete Verfolgung" aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe dargetan habe. Im Zusammenhalt mit den von der belangten Behörde unverändert übernommenen Feststellungen des Bundesasylamtes über die Lage in Tschetschenien lässt sich diese Begründung nur so verstehen, dass die Beschwerdeführerin - nach Auffassung der belangten Behörde - in ihrer Herkunftsregion zwar den Auswirkungen des Bürgerkrieges ausgesetzt wäre, eine gegen sie gerichtete asylrechtlich relevante Verfolgung daraus aber nicht abzuleiten sei.

Dem ist entgegen zu halten, dass die Beschwerdeführerin bereits in ihrer erstinstanzlichen Einvernahme angegeben hatte, im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien "in ständiger Angst" leben zu müssen und diese Aussage in der Berufung dahingehend präzisiert worden war, sie ängstige sich "in diesem sinnlosen Krieg ... vor den Russen". Dieses Vorbringen hätte im Hinblick auf diesbezügliche Hinweise in den Länderfeststellungen des erstinstanzlichen Bescheides eine Auseinandersetzung mit der Frage notwendig gemacht, ob und inwieweit dem gewaltsamen Konflikt in Tschetschenien und seinen Auswirkungen auf die Beschwerdeführerin als Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, der nach den Sachverhaltsfeststellungen keine Zufluchtsmöglichkeit in anderen Teilen der Russischen Föderation offen steht, Aspekte einer ethnischen Verfolgung innewohnen. Erwägungen darüber, die auf Grund der Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens auch die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung erfordert hätten, lässt der angefochtene Bescheid jedoch vermissen.

Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 30. November 2006

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2006190301.X00

Im RIS seit

22.01.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten