TE Vfgh Erkenntnis 2002/10/8 V21/02

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Veröffentlicht am 08.10.2002
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Index

L6 Land- und Forstwirtschaft
L6845 Forst, Wald

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsgegenstand
Tir WaldO §43, §44
Verordnung der Forsttagsatzungskommission für die Gemeinde Nassereith vom 16.01.02

Leitsatz

Teilweise Zulässigkeit des Individualantrags eines Schafhalters auf Aufhebung einer Verordnung betreffend die Waldweide von Schafen und Ziegen; normativer Inhalt der Regelung betreffend Nichteinhaltung der Vorschriften; keine unmittelbare Betroffenheit durch nur auf Ziegen bezogene Normierungen; Gesetzwidrigkeit der Regelung der Rechtsfolgen für die Nichteinhaltung der Normierungen; keine gesetzliche Grundlage für System der Verflechtung zivilrechtlicher Verpflichtungserklärungen mit Anordnungen einer Verordnung

Spruch

I. 1. Z1 erster und zweiter Satz, Z2, Z3, Z4 lita bis d, die der Überschrift "Maßnahmen bei Nichteinhaltung" folgenden drei Sätze und Z5 der Verordnung der Forsttagsatzungskommission für die Gemeinde Nassereith vom 16. Jänner 2002 werden als gesetzwidrig aufgehoben.

2. Die Tiroler Landesregierung ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

II. Im übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Forsttagsatzungskommission für die Gemeinde Nassereith faßte in ihrer Sitzung vom 16. Jänner 2002 unter Berufung auf §§43 und 44 Tiroler Waldordnung den Beschluß, folgende (sodann durch Anschlag an der Gemeindeamtstafel vom 22. Jänner bis 7. Februar 2002 kundgemachte) Verordnung zu erlassen:

"Verordnung

...

1. Die Waldweide mit Schafen darf nur mit den angemeldeten Tieren und nur in nachstehend angeführten Waldorten ausgeübt werden:

Gesamtes Waldgebiet mit Ausnahme der Forstkulturen sowie der Waldflächen 'Antelsberg', 'Simmering', insbesondere der neu aufgeforsteten Flächen im 'Waldele' zwischen 'Breitlehn' und der KG-Grenze zu Obsteig im Osten, der Verjüngungsfläche Abendjochrunse (Weidefreistellungsfläche) und der Waldflächen der Österreichischen Bundesforste AG. Die ZIEGENWEIDE im Schutzwald ist lt. §41, TWO 1979 verboten. Werden Ziegen im Waldbereich angetroffen, wird der jeweilige Viehhalter zur Anzeige gebracht!

2. Für die einzelnen Waldorte werden die Weidezeiten wie folgt festgesetzt:

1. Mai (evt. 12. Mai *) bis 15. Juni 2002.

Erster Sonntag im September bis 31. Oktober 2002.

*) Auftriebszeitpunkt üblicherweise 1. Mai. Sollte jedoch zu diesem Zeitpunkt auf Grund der Schneelage im Bereich Muthenau-Alm eine ordnungsgemäße Futteraufnahme auf den Weideflächen innerhalb des Schutzwaldverbesserungsprojektes Muthenau nicht möglich sein, so ist der Auftriebszeitpunkt auf einen späteren Termin (im Jahre 2002 - 12. Mai) zu verschieben. Der tatsächliche Auftriebszeitpunkt ist vor dem 1. Mai vom Bürgermeister, einem Vertreter der Schafhalter, einem Vertreter der Bezirksforstinspektion und dem zuständigen Schafhirten festzulegen und dieser Termin den Schafhaltern mitzuteilen.

3. Auftriebsweg: Nach alter Übung

4. Die Gesamtzahl der aufgetriebenen Schafe darf die bewilligte Zahl von 794 Stück nicht übersteigen.

a) Es dürfen nur Schafe aufgetrieben werden, die die Schafhalter mit betriebseigenem Futter überwintert haben. Schafe, die nicht in Nassereith überwintert wurden (Fremdvieh), dürfen keinesfalls aufgetrieben werden.

b) Nur 50 % der bei der Forsttagsatzung der Gemeinde Nassereith angemeldeten Schafe (397 Schafe) werden für die Beweidung im Bereich Muthenau-Alm bewilligt und dürfen in diesen Bereich aufgetrieben werden.

c) Der jeweilige Schafhirte stellt auf Dauer sicher, dass die Verjüngungsflächen innerhalb das Schutzwaldverbesserungsprojektes Muthenau von der Schafweide freigehalten werden. Derzeit bestellter Schafhirte J A.

d) Die Aufforstungsfläche der Abendjochrunse wird von den Schafhaltern und/oder der Gemeinde Nassereith mit einem dauerhaften Weide- oder Elektrozaun solange eingezäunt, bis die Forstpflanzen in der Verjüngungsfläche als gesichert festzustellen sind.

e) Während der Schafweide im Frühjahr und Herbst wird der Weidezaun (Elektrozaun) vom bestellten Schafhirten und dem bestellten Jagdschutzorgan der GJ Nassereith I auf seine ordnungsgemäße Funktion regelmäßig überprüft und etwaige Schäden werden von diesen sofort repariert.

f) Während der Sommermonate, wenn keine Schafweide im HSS-Projekt Muthenau durchgeführt wird, wird diese Kontrolle vom jeweiligen Hirten der Muthenau-Alm für die Rinder und dem Jagdschutzorgan der GJ Nassereith I durchgeführt. Etwaige Schäden des Zaunes werden von diesen Personen sofort beseitigt.

g) Der finanzielle Mehraufwand, der dem jeweiligen Schafhirten aus der intensiveren Behirtung entsteht wird von der Gemeinde Nassereith (höhere Behirtungsprämie) getragen.

h) Dem Gemeindeforstaufsichtsorgan O Z ist bis spätestens 30. April 2002 eine Liste über die tatsächlich aufzutreibenden Schafe und die von den Schafhaltern verwendeten Markierungen vorzulegen.

Maßnahmen bei Nichteinhaltung:

( Werden innerhalb des HSS-Projektsgebietes in Forstkulturen Schafe angetroffen und sind Verbissschäden festzustellen, so sind die Schafhalter bzw. der Schafhirte verpflichtet, binnen 3 Tagen alle Schafe aus dem gesamten Projektsbereich 'Nassereith Muthenau' abzutreiben. Diese Verpflichtung betrifft sowohl die Weidezeit im Frühjahr als auch im Herbst.

( Die Schafhalter, die die Verpflichtungserklärung

nicht unterschrieben haben, müssen sich auch an die in der Verpflichtungserklärung enthaltenen Bedingungen halten, ansonsten dürfen diese Schafhalter keine Schafe in die festgelegten Waldgebiete von Nassereith auftreiben.

5. Gemäß §47, Tiroler Waldordnung 1979, dürfen Waldweide und Auftrieb zur Weide nur unter Aufsicht der namhaft gemachten Aufsichtsperson (J A, ...) erfolgen."

2. Die bezogenen §§43 und 44 der Tiroler Waldordnung (Gesetz vom 15. März 1979, LGBl. 29, über die Regelung bestimmter Angelegenheiten des Forstwesens in Tirol, nunmehr idF der mit 22. Februar 2002 in Kraft getretenen Novelle LGBl. 27/2002) haben folgenden Wortlaut:

"§43

Weideplätze, Weidezeiten

(1) Die Forsttagsatzungskommission hat unter Bedachtnahme auf die Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungen durch Verordnung jene Waldflächen innerhalb des Gemeindegebietes zu bestimmen, auf denen das Weiden der Ziegen und Schafe gestattet ist (Weideplätze). Die Festlegung der Weideplätze hat nach topographischen Merkmalen, allenfalls unter Heranziehung allgemein bekannter Flurnamen zu erfolgen.

(2) Wenn es das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Waldes und seiner Wirkung erfordert, hat die Forsttagsatzungskommission für die einzelnen Weideplätze durch Verordnung die zulässigen Weidezeiten (§41 Abs1) einzuschränken.

(3) Wenn es das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungen erfordert, hat die Forsttagsatzungskommission durch Verordnung die zulässigen Auf- und Durchtriebswege festzulegen.

(4) Verordnungen nach den Abs1 bis 3 sind binnen einer Woche nach Beschlußfassung durch die Forsttagsatzungskommission durch öffentlichen Anschlag während zweier Wochen an der Amtstafel der Gemeinde kundzumachen.

§44

Anzahl der Weidetiere

(1) Zur Weide in Wäldern (§40 lita) dürfen - einschließlich des natürlichen Zuwachses - nur so viele Ziegen und Schafe aufgetrieben werden, wie der Tierhalter mit betriebseigenem Futter überwintert hat.

(2) Wenn es das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungenen erfordert, hat die Forsttagsatzungskommission für die einzelnen Weideplätze durch Verordnung die Anzahl der Weidetiere festzulegen, die beim Auftrieb nicht überschritten werden darf. Für die Kundmachung gilt §43 Abs4."

3. Die in der wiedergegebenen Verordnung im zweiten Absatz unter der Rubrik "Maßnahmen bei Nichteinhaltung" erwähnte "Verpflichtungserklärung" (die von der Tiroler Landesregierung mit dem im folgenden unter II/2 bezogenen Schriftsatz in Kopie vorgelegt wurde) lautet wie folgt:

"Verpflichtungserklärung

Die unterfertigten Schafhalter der Gemeinde Nassereith erklären sich unter nachfolgenden selbst auferlegten Beschränkungen bereit, ihre bis dato ausgeübte ortsübliche Schafweide im Sinne einer allgemein vertretbaren Lösung, wie folgt, zu beschränken:

I.

Es erfolgt kein Weideaustrieb vor dem 1. Mai. Bevor die Muthenau-Alm beweidet wird, wird ein schafsicherer Elektrozaun zum Schutze der Abendjoch-Runse errichtet. Es wird seitens der Schafhalter sichergestellt, dass es zu keinen Verbissschäden durch Schafe im gesamten Bereich des Hochlagenaufforstungs- und Schutzwaldsanierungsprojektes Nassereith-Muthenau kommt. Sollte dies doch der Fall sein, verpflichten sich die unterfertigten Schafhalter binnen drei Tagen alle Schafe von der Muthenau-Alm abzutreiben.

II.

Um die Frühjahrsvorweide im 'Brand' in der bisherigen Form auch weiterhin sicherzustellen, wird auch dort folgende Einschränkung zur Kenntnis genommen:

-

Es erfolgt kein Weideaustrieb vor dem 1. Mai.

-

Es dürfen nur 50 % der bei der Forsttagsatzung angemeldeten Schafe in der Zeit zwischen 1. und 30. Mai aufgetrieben werden.

-

Die restlichen 50 % dürfen erst nach dem 1. Juni und erfolgter Rücksprache mit dem Alpinteressentschaftsobmann aufgetrieben werden. Um sicherzustellen, dass diese Verpflichtung eingehalten wird, muss der Waldaufseher verständigt werden, damit auch dieser die Kontrolle durchführen kann.

III.

Es wird unmissverständlich festgehalten, dass es nicht möglich ist, 50 % im 'Brand' und 50 % auf die Muthenau-Alm aufzutreiben, um vorhingenannte Verpflichtungen zu umgehen.

IV.

Die bereits bestehenden Weideeinschränkungen im Bereich 'Waldele' werden voll inhaltlich zur Kenntnis genommen und von den Schafhaltern eingehalten.

V.

Sanktionen

Dem unterfertigten Schafhalter ist bewusst, dass bei Nichteinhaltung der Verpflichtungen seinerseits es zum Verlust der bisherigen Vor- und Nachweide auf der Muthenau-Alm für die gesamten Schafhalter der Gemeinde kommt.

Um eine genaue Identifizierung der Schafe sicherzustellen, wird dem Waldaufseher eine Liste aller Farbmarkierungen zur Verfügung gestellt.

Nassereith, am 6.2.2001"

II. 1. Die Verordnung der Forsttagsatzungskommission bildet in ihrem gesamten Umfang den Gegenstand des vorliegenden (Individual-)Antrags nach Art139 Abs1 letzter Satz B-VG. Der Antragsteller, ein Schafhalter mit dem Wohn- und Betriebssitz in Nassereith, begehrt, die angefochtene Verordnung zur Gänze (hilfsweise Wortfolgen der Z1 oder die Z2 oder die Z4 litd. oder die in der Verordnung genannten "Maßnahmen bei Nichteinhaltung") als gesetzwidrig aufzuheben. Zur Antragsberechtigung beruft sich der Einschreiter auf seine Tätigkeit als Schafhalter und bringt - sinngemäß zusammengefaßt - vor, daß er seit Jahren sowohl die Vorals auch die Nachweide auf den von der Verordnung erfaßten Gebieten durchführe. Die Verordnung lege ihm eine Rechtspflicht auf; sie greife in seine Rechtssphäre unmittelbar und aktuell ein, ohne daß es hiefür einer behördlichen Entscheidung bedürfe. Für den Fall eines Zuwiderhandelns müsse er mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Es stehe ihm kein zumutbarer Weg zur Verfügung, sich gegen die rechtswidrige Verordnung zur Wehr zu setzen.

2. Während die Forsttagsatzungskommission ohne Begründung von einer Äußerung absah, nahm die Tiroler Landesregierung die Aufforderung zu einer Äußerung wahr und führte in ihrem Schriftsatz, soweit sich dieser zunächst auf die Prozeßvoraussetzungen bezieht, folgendes aus:

"Die angefochtene Verordnung der Forsttagsatzungskommission für die Gemeinde Nassereith enthält nicht nur Wiederholungen des Gesetzestextes ohne eigenständige normative Bedeutung (siehe Z. 1 vorletzter Satz, Z. 4 lita und Z. 5 sowie die entsprechenden Vorschriften der Tiroler Waldordnung: §41 Abs2 lita i.V.m. §42 Abs1; §44 Abs1; §47 Abs1), sondern auch weitere Bestimmungen, die nur als Hinweise auf die Gesetzeslage, auf zivilrechtliche Vereinbarungen sowie auf die zu erwartenden finanziellen und sonstigen Beiträge der Gemeinde zur Schutzwaldsanierung verstanden werden können. Diese Bestimmungen beinhalten kein an die Schafhalter gerichtetes Gebot oder Verbot und keine sonstige imperative Anordnung (Z. 1 letzter Satz, Z. 4 litc bis g) und vermögen daher einen unmittelbaren nachteiligen Eingriff in die Rechtssphäre des Antragstellers nicht zu bewirken.

Einzelne dieser Bestimmungen sowie die vom übrigen Verordnungstext auch optisch abgehobenen 'Maßnahmen bei Nichtein-haltung' können im Rahmen der gebotenen gesetzeskonformen Auslegung der Verordnung nur als Hinweise auf die beabsichtigte Vorgangsweise der zuständigen Forsttagsatzungskommission bei der Erteilung von Ausnahmebewilligungen nach §42 Abs1 der Tiroler Waldordnung angesehen werden: Nach dieser Gesetzesbestimmung kann die Forsttagsatzungskommission in bestimmten Fällen auf Antrag des Tierhalters Ausnahmen insbesondere vom Verbot der Waldweide von Schafen in Schutzwäldern (§41 Abs2 lita der Tiroler Waldordnung) mit Bescheid bewilligen. Die in der Verordnung genannten, auch in einer zivilrechtlichen 'Verpflichtungserklärung' der Schafhalter enthaltenen Schutzmaßnahmen kommen dabei als Bedingungen, Befristungen oder Auflagen im Sinne des §42 Abs3 der Tiroler Waldordnung in Betracht.

Dem Antragsteller, der sich an die Verpflichtungserklärung offenbar nicht gebunden fühlt und vermeint, durch die gegenständliche Verordnung zur Erfüllung der in dieser Erklärung enthaltenen Bedingungen gezwungen bzw. von der Weide seiner Schafe im Schutzwald rechtswidrig abgehalten zu werden, wäre es jedenfalls zumutbar gewesen, eine Ausnahmebewilligung nach §42 Abs1 der Tiroler Waldordnung zu beantragen und den darüber ergangenen Bescheid (insbesondere die darin allenfalls enthaltenen Nebenbestimmungen) im Instanzenweg zu bekämpfen.

Der Antragsteller scheint daher mangels unmittelbarer rechtlicher Betroffenheit bzw. aufgrund des ihm offen stehenden zumutbaren Umweges zur Abwehr des behaupteterweise rechtswidrigen Eingriffes in sein Recht auf Waldweide im Hinblick auf die angeführten Verordnungsbestimmungen nicht antragslegitimiert.

In den Z. 1, 2, 3 und 4 litb der angefochtenen Verordnung werden Ausführungsbestimmungen zu §43 Abs1, 2 und 3 und zu §44 Abs2 der Tiroler Waldordnung erlassen, d.h. Weideplätze, Weidezeiten und ein Auftriebsweg sowie Höchstzahlen für Weidetiere festgelegt.

Im Hinblick auf den nach alter Übung festgelegten Auftriebsweg (Z. 3 der Verordnung) sowie die Festlegung der Zahl der Weidetiere (Z. 4 litb) hat der Antragsteller - abgesehen von den allgemein gehaltenen einleitenden Ausführungen zur Anfechtung der gesamten Verordnung - eine für ihn nachteilige unmittelbare Betroffenheit in seinen rechtlichen Interessen nicht einmal behauptet. In diesem Zusammenhang wurden auch keine substantiierten Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der gesamten Verordnung geltend gemacht. Es wird daher davon ausgegangen, dass auch insofern die Antragslegitimation nach Art139 Abs1 letzter Satz B-VG nicht gegeben ist."

III. Der Verordnungsprüfungsantrag erweist sich als teilweise zulässig.

1. Voraussetzung der Antragslegitimation ist einerseits, daß der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch die angefochtene Verordnung - im Hinblick auf deren Gesetzwidrigkeit - in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, daß die Verordnung für den Antragsteller tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, daß die Verordnung in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese - im Falle ihrer Gesetzwidrigkeit - verletzt.

Nicht jedem Normadressaten aber kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist darüber hinaus erforderlich, daß die Verordnung selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch die Verordnung selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des - behaupteterweise - rechtswidrigen Eingriffes zu Verfügung steht (z.B. VfSlg. 11.317/1987, 13.944/1994).

2. Vorerst ist festzuhalten, daß der dem Antragsteller von der Tiroler Landesregierung gewiesene Weg, eine Ausnahmebewilligung nach §42 Abs1 der Tiroler Waldordnung zu beantragen, schon im Hinblick auf die zeitlichen Verhältnisse (Anschlag der Verordnung an der Gemeindeamtstafel am 22. Jänner 2002, Beginn der Weidezeiten am 1. Mai ["evt. 12. Mai"] bzw. "Erster Sonntag im September" 2002) nicht zumutbar ist, zumal die Verordnung - wie aus den in ihr festgelegten Weidezeiten hervorgeht - bloß das Jahr 2002 betrifft.

3. Entgegen der Ansicht der Landesregierung kommt (insbesondere) dem letzten Satz der "Maßnahmen bei Nichteinhaltung" normativer Inhalt zu. Er verbietet nämlich jenen Schafhaltern, welche die sog. Verpflichtungserklärung (in der sich Schafhalter der Gemeinde Nassereith zu einer bestimmten Einschränkung der Schafweide freiwillig bereit erklären) nicht unterschrieben haben (zu denen nach dem unbestrittenen Antragsvorbringen der Einschreiter zählt), ihre Schafe überhaupt aufzutreiben, sofern sie sich nicht an die "Bedingungen" der Verpflichtungserklärung halten; der bezogene Satz umschreibt also ein unter bestimmten Voraussetzungen eintretendes Verbot. Daß die in Rede stehende Vorschrift in die Rechtssphäre des Antragstellers im Hinblick auf seine Stellung als Schafhalter eingreift und dieser Eingriff als unmittelbar und aktuell zu beurteilen ist, bedarf nach dem eben Dargelegten unter Bedachtnahme auf die vom Einschreiter in nachvollziehbarer Weise geschilderte Gesamtsituation keiner weiteren Erläuterung.

Unter dem Aspekt einer bedingten Verbotsnorm, deren Komplementärteil die bei gegebenen Voraussetzungen eintretende Erlaubnis zur Waldweide nach Maßgabe der Verordnung bildet, ist weiters festzuhalten, daß die gesamten Vorschriften der Verordnung, welche den Auftrieb der Schafe regeln, mit der erörterten Verbotsnorm in einem nicht trennbaren Zusammenhang stehen. Es handelt sich hiebei um Z1 erster und zweiter Satz, Z2, Z3, Z4 lita bis d, die übrigen Sätze (nämlich der erste und zweite Satz) unter der Rubrik "Maßnahmen bei Nichteinhaltung" sowie Z5.

Die Rechtssphäre des Antragstellers wird hingegen durch den vorletzten und letzten Satz der Z1 (da sie ausschließlich die Ziegenweide betreffen) sowie die lite bis h der Z4 (weil sie bloß Aufgaben des Schafhirten, des Jagdschutzorgans sowie des Gemeindeaufsichtsorgans zum Gegenstand haben) nicht berührt.

IV. 1. In der Sache wendet die Tiroler Landesregierung in ihrer Äußerung folgendes ein:

"Die die Rechtssphäre des Antragstellers allenfalls unmittelbar und aktuell betreffenden Z. 1 und 2 der angefochtenen Verordnung scheinen aus den im Folgenden angeführten Gründen nicht gesetzwidrig bzw. stellen nach Ansicht der Tiroler Landesregierung keinen Eingriff in subjektive Rechte des Antragstellers, insbesondere keine Beeinträchtigung seines Rechts auf Waldweide dar:

Die Festlegung der Z. 1 der Verordnung steht weder im Widerspruch zu §43 Abs1 der Tiroler Waldordnung noch ist sie in einer Weise unbestimmt geblieben, die es für den Antragsteller unmöglich macht zu erkennen, wo seine Schafe weiden dürfen bzw. wo dies untersagt ist. Die Festlegung des gesamten Waldgebietes (in Verbindung mit der zitierten Gesetzesstelle zu ergänzen: 'innerhalb des Gemeindegebietes von Nassereith') als Weidegebiet unter Ausnahme der generell nicht zu beweidenden Forstkulturen und bestimmter, unter Heranziehung allgemein bekannter Flurnamen ('Antelsberg', 'Simmering' usw.) umschriebener Waldflächen kann als 'Festlegung der Weideplätze nach topographischen Merkmalen' angesehen werden. Der Gesetzgeber überlässt es im Übrigen der Forsttagsatzungskommission, ob zur Umschreibung des Weidegebietes allgemein bekannte Flurnamen verwendet werden oder nicht.

Aufgrund folgender Umstände wird davon ausgegangen, dass der Antragsteller aus der bekämpften Verordnung jedenfalls die für seine Schafe rechtmäßig zugänglichen Weideplätze erkennen konnte und daher in seinen Rechten nicht beeinträchtigt wird:

Der Antragsteller ist seit ungefähr drei Jahren Eigentümer des Hofes EZ. 90.037 GB 80.008 Nassereith. Er hält seit der Übernahme des Hofes von seinem Großvater, der seit Jahrzehnten ebenfalls Schafhalter in Nassereith war, Schafe. Die für die Waldweide in Betracht kommenden Waldflächen sind seit vielen Jahren unverändert geblieben und allen Schafhaltern bekannt. Die Frühjahrsweide erfolgt bereits seit Jahrzehnten hauptsächlich im Bereich der Muthenaualm und der angrenzenden Waldflächen, die Sommerweide hingegen auf der Loreaalpe. Insgesamt findet die Waldweide mit Schafen fast durchwegs in hochgelegenen Schutzwaldbeständen statt. Doch nicht nur die Weideplätze sind gleich geblieben, auch die Reinweideflächen und die angrenzenden Waldflächen im Bereich Muthenau haben sich nicht verändert. Die in der Verordnung genannten Flurnamen sind in der Gemeinde bekannt und können zudem in einer öffentlich zugänglichen Forstkarte nachgelesen werden. Die in der Z. 1 der Verordnung ebenfalls erwähnten Forstkulturen - Verjüngungsflächen mit forstlichem Bewuchs (Jungbäume) - unterliegen zwar im Zuge der forstlichen Bewirtschaftung einer natürlichen Entwicklung, sind jedoch jedermann in der Natur sofort erkennbar. Im gegebenen Zusammenhang ist anzumerken, dass der Antragsteller in Nassereith auch Wald besitzt, weshalb angenommen werden kann, dass ihm die im gegebenen Zusammenhang wesentlichen Bestimmungen des Forstgesetzes 1975 (§§13 Abs8, 33 Abs2 litc, 37 Abs3) bekannt sind. Weiters wird darauf hingewiesen, dass es sich beim Begriff der Forstkultur um einen im land- und forstwirtschaftlichen Bereich durchaus verstandenen Rechtsbegriff der Tiroler Landesrechtsordnung handelt (vgl. §6 Abs1 des Wald- und Weideservitutengesetzes, LGBl. Nr. 21/1952, in der Fassung des Gesetzes LGBl. Nr. 56/2001).

Schließlich wird davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungen es im gegebenen Fall erfordert, die Waldweide für die Weideplätze wie in der Z. 2 der Verordnung zu beschränken:

Der beweidete Gemeindevermögenswald von Nassereith besteht zu 94 % aus Schutzwald, zu 5 % aus Wirtschaftswald mit mittlerer Schutzfunktion und zu 1 % aus Wirtschaftswald. Auf etwa die Hälfte der Fläche des Gemeindevermögenswaldes erstreckt sich ein Schutzwaldverbesserungsprojekt (siehe dazu das in der Anlage enthaltene Besprechungsprotokoll der Bezirksforstinspektion Imst/Silz vom 10.1.2002 sowie die ebenfalls angeschlossene Kollaudierungsniederschrift vom 16.6.2000). Die Einschränkung der Weidezeiten ist aufgrund der örtlichen Verhältnisse erforderlich:

Diese ermöglichen vor dem 1. Mai keine Beweidung ohne schädigende Wirkung auf den Wald, da dort im April nur ein sehr geringes Futterangebot (Gräser, Kräuter) vorhanden ist und es daher besonders schwierig wäre, die Schafe von den Forstkulturen abzuhalten, die zu dieser Zeit das Hauptfutterangebot darstellen würden. Die Weideflächen der Muthenaualm liegen auf einer Seehöhe von 1840 m bis 1950 m. Die Schafe kommen zum Auftriebszeitpunkt im Wesentlichen auf die Reinweidefläche Muthenau sowie die angrenzenden Waldflächen und werden dort behirtet. Die auf großer Fläche vorhandene Steilheit der tiefer gelegenen Flächen lässt dort eine Beweidung nur im geringen Ausmaß zu. Die restlichen Beschränkungen der Weidezeiten ergeben sich aus der alten Übung, nach der die Muthenaualm zwischen dem 15. Juni und dem ersten Sonntag im September mit Rindern bestoßen wird. In diesem Zeitraum wechseln die Schafe nach alter Übung auf die Loreaalpe.

Die Schafweidezeit im Frühjahr war bis zum Jahr 2000 mit 15. April bis 15. Juni festgelegt worden. Bei der in diesem Jahr durchgeführten Beurteilung des Hochlagenaufforstungs- und Schutzwaldsanierungsprojektes Muthenau ('HSS-Projekt') hat man jedoch untragbare Verbissschäden an den Forstkulturen durch Schafe und Schalenwild festgestellt. Dies führte zu einer vorübergehenden Einstellung der Projektsförderung und zur Androhung der Verpflichtung zur Rückzahlung der bisher bezogenen öffentlichen Förderungsmittel, wenn nicht bis Ende 2003 eine deutliche Verringerung der Verbissschäden eintrete. Weiters sind in den Jahren 2000 und 2001 drei zusätzliche Forstprojekte im Schutzwald, jedoch außerhalb des angeführten HSS-Projektes umgesetzt worden. Auch diesbezüglich ist der Förderungswerber verpflichtet, für eine waldverträgliche Verbissbelastung zu sorgen.

Die in der Verordnung festgesetzten Weidezeiten scheinen somit jedenfalls sachlich gerechtfertigt. Die Minderung von Verbissschäden liegt im zentralen Interesse der Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungen. Da es sich bei den beweideten Flächen fast durchwegs um hochgelegene Schutzwaldbestände handelt, scheint es erforderlich, die Einschränkung im Hinblick auf sämtliche Weideflächen vorzunehmen. Das Gesetz sieht im Übrigen im Gegensatz zur Rechtsauffassung des Antragstellers nicht vor, dass die Begründung für die Einschränkung der Weidezeit der Verordnung selbst zu entnehmen sein muss. Insgesamt erweist sich somit auch die Z. 2 der Verordnung nicht als gesetzwidrig. Ein rechtswidriger Eingriff in subjektive Rechte des Antragstellers erfolgt daher nicht."

2. Die von der Forsttagsatzungskommission erlassene Verordnung verweist (wie schon erwähnt wurde) im dritten Satz des Abschnittes "Maßnahmen bei Nichteinhaltung" auf die von einigen Schafhaltern der Gemeinde Nassereith (durch Unterfertigung) eingegangene, ihrer Rechtsnatur nach zivilrechtliche "Verpflichtungserklärung", welche ua. die Ausübung der Schafweide auch für die der "Verpflichtungserklärung" nicht beigetretenen Schafhalter in weiterem Umfang einschränkt als in der Verordnung vorgesehen und überdies die Nichteinhaltung von in der "Verpflichtungserklärung" festgelegten Bestimmungen ("Bedingungen") mit dem Verbot des Auftreibens von Schafen sanktioniert. Für ein derartiges rechtliches System, in dem eine nicht auflösbare Verflechtung zivilrechtlicher Verpflichtungen mit Anordnungen einer Verordnung derart geschaffen wird, daß sogar derjenige, welcher die zivilrechtliche Vereinbarung nicht eingegangen ist, sich dieser bei sonstigem Ausschluß von in der Verordnung festgelegten Berechtigungen der "Verpflichtungserklärung" zu unterwerfen hat, findet sich in der Tiroler Waldordnung keine Rechtsgrundlage. Die dieses System festlegende Vorschrift ist, ebenso wie die mit ihr nach den Zielen des Verordnungsgebers untrennbar zusammenhängenden Verordnungsbestimmungen, als gesetzwidrig aufzuheben.

3. Im übrigen war der Individualantrag aus den bereits dargelegten Gründen zurückzuweisen.

4. Die Verpflichtung der Landesregierung zur Kundmachung der Aufhebung stützt sich auf Art139 Abs5 erster Satz B-VG.

IV. Diese Entscheidung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen.

Schlagworte

Forstwesen, Waldnutzung, Privatrecht - öffentliches Recht, VfGH / Individualantrag, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:V21.2002

Dokumentnummer

JFT_09978992_02V00021_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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