TE Vfgh Erkenntnis 2003/2/24 B1670/01

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Veröffentlicht am 24.02.2003
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
FremdenG 1997 §37
FremdenG 1997 §44

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung eines Antrags auf Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes mangels Vornahme der gebotenen Interessenabwägung im Hinblick auf die geänderten familiären Umstände der Beschwerdeführerin auf Grund der Geburt eines Kindes

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit 2.142 €

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine jugoslawische Staatsangehörige, lebt seit 1991 in Österreich und verfügte zuletzt über eine bis 1. Dezember 1997 gültige Aufenthaltsbewilligung zum Zweck der unselbständigen Erwerbstätigkeit; der Antrag auf Erteilung einer weiteren Niederlassungsbewilligung wurde mangels Vorlage eines Existenzmittelnachweises mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 19. August 1998 zurückgewiesen.

Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 27. August 1999 wurde gegen die Beschwerdeführerin ein 5-jähriges Aufenthaltsverbot wegen Schwarzarbeit erlassen, da sie einmal in einem Espresso beim Abräumen von Gläsern sowie Ausfüllen einer Getränkeliste hinter der Theke und einmal in einem anderen Lokal hinter der Schank stehend bei der Ausübung einer Beschäftigung betreten wurde, die sie nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz nicht hätte ausüben dürfen.

Die Beschwerdeführerin brachte am 8. Juni 2000 ein uneheliches Kind in Österreich zur Welt, welches ihr jedoch auf Grund eines vom Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien verhängten Ausfolgeverbotes vom 9. Juni 2000 mit der Begründung abgenommen wurde, dass die Existenzgrundlage des Säuglings gefährdet sei, da die Beschwerdeführerin nicht in der Lage sei, für sich und den Neugeborenen Versorgung und Unterkunft bereit zu stellen. Das Kind wurde bei Pflegeeltern untergebracht. Mit Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien vom 3. Dezember 2000 wurde die volle Erziehung verfügt und die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung dem Jugendwohlfahrtsträger Wien übertragen. Aus einem Bericht des Amtes für Jugend und Familie der Stadt Wien vom 6. Juni 2001 geht folgendes hervor:

"Frau M. verfügt über kein Einkommen und konnte auch keine gesicherte Unterbringung für sich und den Säugling vorweisen, sodass die primären Anforderungen nicht gewährleistet waren und das Kindeswohl gefährdet war. Frau M. zeigt stets größtes Interesse an Kontakten zu ihrem Sohn und hielt die Termine auch relativ verlässlich ein."

Die Beschwerdeführerin stellte am 20. Oktober 2000 einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes, zu dem sie im Schriftsatz vom 17. Jänner 2001 ua. zusätzlich ausführte:

"Bei einer Ausreise aus Österreich zum jetzigen Zeitpunkt würde ich mein Kind verlieren und hätte keinerlei Möglichkeit mehr, die Obsorge über meinen Sohn zurückzuerlangen."

Dieser Antrag wurde jedoch mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 17. April 2001 abgewiesen; der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 6. November 2001 keine Folge gegeben. Die letztinstanzliche Behörde führte nach einer Zusammenfassung des bisherigen Verfahremnsganges und nach rechtlichen Erwägungen zum §44 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden bloß: FrG) aus, dass bei der Erlassung des Aufenthaltsverbotes auf die private und familiäre Situation der Beschwerdeführerin vollständig Bedacht genommen worden sei. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie habe nach Erlassen des Aufenthaltsverbotes ein Kind zur Welt gebracht, sei nicht geeignet, die von ihr ausgehende Gefahr für die hier maßgeblichen öffentlichen Interessen auszuschließen oder als nur gering einzuschätzen, zumal der Beschwerdeführerin die Obsorge über ihr Kind - das sich bei Pflegeeltern befinde - entzogen worden sei. Das im Zuge der Ausübung einer unerlaubten Beschäftigung gesetzte Fehlverhalten der Beschwerdeführerin gefährde zweifellos die öffentliche Ordnung im höchsten Maße. Ebenso wenig könne bezweifelt werden, dass der mit dem Fortbestand der gegen die Beschwerdeführerin gesetzten Maßnahme verbundene Eingriff in ihr Privat- und Familienleben weiterhin dringend geboten und auch nach §37 Abs2 FrG zulässig sei, da letztlich weder die privaten noch die familiären Interessen der Beschwerdeführerin eine entscheidungsrelevante Änderung erfahren haben.

2. Gegen diesen letztinstanzlichen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (BVG BGBl. 390/1973, Art6, 8, 14 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in welcher die Abweisung der Beschwerde oder deren Ablehnung beantragt wird.

II. Die für den vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen im Fremdengesetz 1997, BGBl. I 75/1997, lauten samt Überschrift in der Stammfassung wie folgt:

"Aufhebung des Aufenthaltsverbotes

§44. Das Aufenthaltsverbot ist auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind.

Schutz des Privat- und Familienlebens

§37. (1) Würde durch eine Ausweisung gemäß den §§33 Abs1 oder 34 Abs1 und 3 oder durch ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist ein solcher Entzug der Aufenthaltsberechtigung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Eine Ausweisung gemäß §34 Abs1 oder ein Aufenthaltsverbot darf jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:

1.

die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen;

2.

die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen."

III. Die Beschwerde erweist sich, da sämtliche Prozessvoraussetzungen gegeben sind, als zulässig; sie ist auch gerechtfertigt.

1. Die Beurteilung eines Antrages auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes nach §44 FrG hängt davon ab, ob die Gründe, die zur Erlassung geführt haben, weggefallen sind, wobei auch jene Umstände zu beachten sind, die nach der Verhängung des Aufenthaltsverbotes eingetreten sind. Die durchgeführte Gefährlichkeitsprognose ist unter Beachtung der §§37 und 38 FrG (betreffend Schutz des Privat- und Familienlebens bzw. Unzulässigkeit des Aufenthaltsverbotes) dahingehend einer Prüfung zu unterziehen, ob die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes (weiterhin) erforderlich ist, um eine vom Fremden ausgehende erhebliche Gefahr im Bundesgebiet abzuwenden (vgl. dazu die ständige Rechtsprechung des VwGH zB im Erk. v. 22.01.2002, Zl. 2001/18/0146).

2. Die belangte Behörde führte aus, dass auf die private und familiäre Situation der Beschwerdeführerin vollständig Bedacht genommen worden sei; das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie habe nach Erlassung des Aufenthaltsverbotes ein Kind zu Welt gebracht, aber nicht geeignet sei, die von ihr ausgehende Gefahr für die hier maßgeblichen öffentlichen Interessen auszuschließen oder als nur gering einzuschätzen, zumal der Beschwerdeführerin die Obsorge über ihr Kind entzogen worden sei. Dass ein Eingriff in ihr Privat- und Familienleben gegeben ist, hat die Sicherheitsdirektion wohl erkannt, doch sei dieser weiterhin dringend geboten. Bei den Ausführungen übersah die belangte Behörde jedoch, dass die Obsorge nur im Bereich der Pflege und Erziehung dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen worden ist und dies nur deshalb, weil die Beschwerdeführerin die elterlichen Pflichten auf Grund fehlender eigener Mittel und öffentlicher Unterstützung (wobei beides aus ihrem illegalen Aufenthalt im Bundesgebiet resultiert) nicht erfüllen könne; die gesetzliche Vertretung obliegt nach wie vor der Beschwerdeführerin. Weiters beachtete die belangte Behörde nicht, dass durch die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes der Mutter ein persönlicher Verkehr mit dem Kind, wie er auch in §178 ABGB vorgesehen ist, unmöglich gemacht wird. Zwar ergibt sich aus dem Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien vom 3. Dezember 2000, dass die Beschwerdeführerin zu einem Besuchstermin im Eltern-Kind-Zentrum beim ersten Mal zu spät, beim zweiten Mal gar nicht kam und eine Bereitschaft zur Mitarbeit nicht gegeben sei, doch geht aus dem rund ein halbes Jahr späteren Bericht des Amtes für Jugend und Familie der Stadt Wien vom 6. Juni 2001 hervor, dass die Beschwerdeführerin stets größtes Interesse an Kontakten zu ihrem Sohn zeige und auch deutlich den Wunsch betone, das Sorgerecht für ihr Kind zurückzugewinnen.

3. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 12.919/1991, 13.241/1992, 13.489/1993, 15.400/1999).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können, und es wird die natürliche Familienbeziehung nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl. EGMR 25.2.1992, Nr. 61/1990/252/332 im Fall Margareta und Roger Andersson gegen Schweden). Weiters hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ansicht vertreten, dass ein Kind, das aus einer rechtmäßigen Ehe hervorgeht, im Moment der Geburt ipso iure Teil des betreffenden Familienverhältnisses wird und das Zusammenleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern keine unabdingbare Voraussetzung für das Vorhandensein eines Familienlebens iS von Art8 Abs1 EMRK ist (EGMR 21.6.1988, Nr. 3/1987/126/177 im Fall Berrehab gegen Niederlande).

Die belangte Behörde hat bei der Beurteilung eines Antrages auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes zu beachten, ob die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes bei Änderung der Umstände aus Gründen des §37 FrG zulässig ist, wobei im vorliegenden Fall vor allem die Intensität der familiären Bindung unter Beachtung der zuvor zitierten Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Betracht zu ziehen ist. Da die belangte Behörde entgegen der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in den privaten und familiären Interessen der Beschwerdeführerin keine entscheidungsrelevanten Änderungen erkannte, hat sie die gebotene Interessenabwägung nach §37 FrG in Wahrheit nicht vorgenommen und den öffentlichen Interessen die privaten Interessen nicht abwägend entgegengestellt, weshalb ihr ein derartig schwerwiegender, gegen Art8 EMRK verstoßender Vollzugsfehler anzulasten ist (vgl. VfSlg. 15.400/1999).

Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid sohin in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

IV.      Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG; vom

zugesprochenen Kostenbetrag entfallen 327 € auf die Umsatzsteuer und 180 € auf die entrichtete Pauschalgebühr.

V.      Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG

ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Fremdenrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:B1670.2001

Dokumentnummer

JFT_09969776_01B01670_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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