TE Vfgh Erkenntnis 2003/9/23 V80/03

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.09.2003
beobachten
merken

Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs5 / Fristsetzung
StVO 1960 §43
Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Verkehr vom 10.09.99 betr Überholverbot für LKW auf einem Abschnitt der A 1 Westautobahn in der Zeit von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit der Einbeziehung eines zusätzlichen Streckenteils in ein Überholverbot für Lastkraftwagen auf der A 1 Westautobahn mangels Erforderlichkeit einer speziellen Verkehrsbeschränkung für LKW auf diesem Abschnitt

Spruch

1. Die Wortfolge "von km 60,5 bis km 117,8;" in Punkt I.A. der Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Verkehr vom 10. September 1999, Zl. 138.001/111-II/B/8-99, mit dem für die A 1 Westautobahn, Richtungsfahrbahn Salzburg von Streckenkilometer 60,5 bis Streckenkilometer 117,8 in der Zeit von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr ein Überholverbot für Lastkraftfahrzeuge mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 7,5 t und für Lastkraftfahrzeuge mit Anhängern, wenn das höchste zulässige Gesamtgewicht des Anhängers 750 kg übersteigt, verordnet wurde, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. März 2004 in Kraft.

2. Der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Bundesminister für Verkehr hat am 10. September 1999 zu Z138.001/111-II/B/8-99 eine Verordnung mit folgendem Inhalt erlassen (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Aufgrund des §43 Abs1 StVO 1960, BGBl. Nr. 159/60, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 134/99, wird verordnet:

I. Zur Sicherheit des sich bewegenden Verkehrs ist

1. Lastkraftfahrzeugen mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 7,5 t und

2. Lastkraftfahrzeugen mit Anhängern, wenn das höchste zulässige Gesamtgewicht des Anhängers 750 kg übersteigt,

in den nachfolgend genannten Bereichen der Westautobahn A 1 das Überholen mehrspuriger Kraftfahrzeuge verboten:

A. Richtungsfahrbahn Salzburg:

Von km 23,2 bis km 25,9;

von km 35,3 bis km 48,1;

von km 60,5 bis km 117,8;

von km 145,0 bis 158,9 und

von km 280,970 bis km 299,600.

B. Richtungsfahrbahn Wien:

Von km 298,903 bis km 273,850;

von km 158,9 bis km 121,0;

von km 109,0 bis km 81,9;

von km 65,5 bis km 40,5 und

von km 30,5 bis km 22,0.

Diese Überholverbote gelten in der Zeit von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr.

II. Aus demselben Grund ist Lastkraftfahrzeugen mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 7,5 t das Befahren des äußerst linken Fahrstreifens der Richtungsfahrbahn Salzburg der Westautobahn A 1 von km 31,0 bis km 34,9 verboten.

III. Aus demselben Grund ist Lastkraftfahrzeugen mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 7,5 t das Befahren des äußerst linken Fahrstreifens der Richtungsfahrbahn Salzburg der Westautobahn A 1 von km 48,3 bis km 60,4 verboten.

Diese Verordnung ist gemäß §44 StVO 1960 durch die entsprechenden Straßenverkehrszeichen kundzumachen. (...)"

Die Verordnung wurde durch Anbringen der entsprechenden Verkehrszeichen kundgemacht.

2. Der Beschwerdeführer in dem zu B196/02 beim Verfassungsgerichtshof protokollierten Verfahren wurde mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 24. November 2000 bestraft, weil er am 29. Oktober 1999 um 11:10 Uhr als Lenker eines näher bezeichneten Sattelkraftfahrzeuges samt Sattelanhänger ein mehrspuriges Kraftfahrzeug auf der A 1 Westautobahn bei Streckenkilometer 76,5 überholt hat, somit auf einer Straßenstrecke, die durch das Vorschriftzeichen "Überholen für Lastkraftfahrzeuge verboten" (§52 lita Z4c StVO 1960) mit der Zusatztafel "für LKW über 7,5 t höchste zulässige Gesamtmasse und LKW mit Anhänger über 750 kg höchste zulässige Gesamtmasse in der Zeit von 05.00 bis 22.00 Uhr" gekennzeichnet ist.

Mit Bescheid vom 4. Jänner 2001 wies der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich die dagegen erhobene Berufung als unbegründet ab.

3. Der Beschwerdeführer bringt die Gesetzwidrigkeit der seiner Bestrafung zugrundeliegenden Verordnung vor und begründet dies ua. damit, daß die Verordnung, mit der ein LKW-Überholverbot angeordnet wurde, in Widerspruch zu den gesetzlichen Erfordernissen des §43 StVO 1960 stehe. Für das im Beschwerdefall maßgebliche Straßenstück der A 1 Richtungsfahrbahn Salzburg sei ein durchgehendes LKW-Überholverbot von Straßenkilometer 60,5 bis

Straßenkilometer 117,8, sohin für über 57,3 km erlassen worden. Rechne man die übrigen mit Verordnung vom 10. September 1999 erlassenen LKW-Überholverbote dazu, so ergebe sich, daß die betroffenen LKW-Fahrzeuge (sowie LKW mit schweren Anhängern) - abgesehen von vernachlässigbar kurzen Abschnitten - auf dem Straßenabschnitt von km 23,2 bis km 117,8 "durchgehend von der Benützung des linken Fahrstreifens ausgenommen sein sollen".

4. Aus Anlaß der angeführten Beschwerde beschloß der Verfassungsgerichtshof gemäß Art139 Abs1 B-VG, die Gesetzmäßigkeit der im Spruch genannten Verordnung von Amts wegen zu prüfen. Er ging dabei vorläufig von der Präjudizialität der Wortfolge "von km 60,5 bis km 117,8;" für den Beschwerdefall aus.

Seine Bedenken zur Gesetzmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Verordnung begründete der Verfassungsgerichtshof wie folgt:

Der Gerichtshof bezweifelte angesichts der im Verordnungsakt enthaltenen Unterlagen nicht, daß in dem vor Verordnungserlassung durchgeführten Ermittlungsverfahren hervorgekommen ist, daß hinsichtlich des Streckenabschnittes von km 77,5 bis km 79,2 insofern besondere Umstände vorliegen, als dort eine "Steigung von bis zu 3,9%" gegeben ist, "wodurch der Überholvorgang von LKW verzögert und die Flüssigkeit des Verkehrs nachhaltig beeinträchtigt" werden kann, sowie daß eine "Häufung von Unfällen im Bereich zwischen km 77,5 bis km 79,2" vorliege.

Für gesetzwidrig erachtete der Gerichtshof jedoch, daß sich die Erlassung des in Rede stehenden Überholverbotes nicht auf die genannte Strecke beschränkte, sondern, abweichend von den im Ermittlungsverfahren hervorgekommenen Ergebnissen, über diesen Streckenabschnitt hinaus erstreckt wurde, sodaß im Ergebnis ein LKW-Überholverbot von km 60,5 bis km 117,8 verordnet wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat vorläufig angenommen, daß für den zusätzlich einbezogenen Streckenabschnitt keine besonderen Umstände erkennbar seien, die ein LKW-Überholverbot auch in diesem Bereich entsprechend §43 StVO "erforderlich" machen würden.

Der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie legte die Verordnungsakten vor und erstattete eine Äußerung.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Zur Zulässigkeit:

Der UVS hatte die in Prüfung gezogene Wortfolge "von km 60,5 bis km 117,8;" des Punktes I.A. der Verordnung im Berufungsverfahren anzuwenden, weil er die Rechtmäßigkeit der Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Überholens bei Streckenkilometer 76,5 zu beurteilen hatte. Auch der Verfassungsgerichtshof hat die in Prüfung gezogene Bestimmung bei Beurteilung der gegen das Berufungserkenntnis des UVS erhobenen Beschwerde anzuwenden. Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig.

2. In der Sache:

2.1. Die eingangs wiedergegebenen Bedenken des Verfassungsgerichtshofes haben sich im Verfahren bestätigt.

Der Verfassungsgerichtshof zog die Erforderlichkeit des Überholverbots hinsichtlich des Streckenteils km 77,5 bis km 79,2 ausdrücklich nicht in Zweifel, zumal im Ermittlungsverfahren bei der verordnungserlassenden Behörde hervorgekommen ist, daß es aufgrund der dort vorhandenen Steigung der Straße von bis zu 3,6 % zu Verzögerungen des Überholvorgangs bei LKW kommt (welche die Flüssigkeit des Verkehrs nachhaltig beeinträchtigen) sowie daß es im Bereich zwischen km 77,5 und km 79,2 zu einer Häufung von Unfällen gekommen ist. Die Bedenken des Gerichtshofes bezogen sich lediglich auf den - für den Tatort im Beschwerdefall relevanten - 17 Kilometer langen Streckenteil davor (von km 60,5 bis km 77,5): Im Hinblick auf diesen zusätzlich einbezogenen Bereich konnte der Gerichtshof nämlich keine Besonderheiten feststellen, die die Erforderlichkeit einer speziellen Verkehrsbeschränkung für LKW begründen können.

Der Bundesminister für Verkehr, Innnovation und Technologie wurde vom Verfassungsgerichtshof aufgefordert, zu diesen Bedenken Stellung zu nehmen.

2.2. In seiner Äußerung verwies der Bundesminister einleitend auf die bereits im vorangehenden Verfahren abgegebene Äußerung sowie auf den Inhalt der Verordnungsakten. Zu der hier maßgeblichen Frage der Erforderlichkeit eines LKW-Überholverbotes zusätzlich zum Streckenbereich km 77,5 bis km 79,2 führt er ins Treffen, daß dies darauf zurückgehe, daß - wie aus einem Schreiben des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung hervorgehe - auf diesem Streckenteil nicht drei, sondern nur zwei Fahrstreifen vorhanden seien, und "ein Überholverbot für Lastkraftfahrzeuge auf zweistreifigen Abschnitten für sinnvoll erachtet wurde".

2.3. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in dem das Verordnungsprüfungsverfahren einleitenden Beschluß unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung ausgeführt hat, setzt die Erlassung einer Verkehrsbeschränkung gemäß §43 StVO "für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken" voraus, daß diese Straße oder Straßenstrecke Besonderheiten aufweist, die sie von vergleichbaren Straßen maßgeblich unterscheidet:

Nach dieser ständigen Rechtsprechung (VfSlg. 8984/1980, 9721/1983, 13371/1993, 14051/1995) sind "bei Prüfung der Erforderlichkeit einer Verordnung nach §43 StVO 1960 ... die bei der bestimmten Straße oder Straßenstrecke, für welche die Verordnung erlassen werden soll, anzutreffenden, für den spezifischen Inhalt der betreffenden Verordnung relevanten Umstände mit jenen Umständen zu vergleichen, die für eine nicht unbedeutende Anzahl anderer Straßen zutreffen". Der Verfassungsgerichtshof geht sohin in ständiger Judikatur davon aus, daß die zuständige Behörde bei Anwendung der vom Gesetzgeber mit unbestimmten Begriffen umschriebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erlassung von Verkehrsbeschränkungen durch Verordnung einen Vergleich der Verkehrs- und Umweltverhältnisse anzustellen hat: Die betreffenden Verhältnisse an den Straßenstrecken, für welche eine Verkehrsbeschränkung (oder Geschwindigkeitsbeschränkung) in Betracht gezogen wird, müssen derart beschaffen sein, daß sie eine Einschränkung der vom Gesetzgeber selbst vorgesehenen Verhältnisse (oder Geschwindigkeiten) rechtfertigen (vgl. VfSlg. 16018/2000).

2.4. Der bloße Umstand, daß ein bestimmter Autobahnabschnitt - wie es häufig der Fall ist - in einer Fahrbahnrichtung zweispurig geführt wird, kann in dieser Allgemeinheit nicht für sich allein die "Erforderlichkeit" einer Verkehrsbeschränkung für bestimmte Fahrzeuge begründen. Mit einer derart allgemeinen Anordnung, wie jener, daß für LKW bei zweispuriger Fahrbahn - bereits aus diesem Grund - ein Überholverbot zu gelten hätte, würde der Verordnungsgeber die Verordnungsermächtigung des §43 StVO überschreiten. Soweit auf dem betreffenden Straßenabschnitt keine sonstigen LKW-spezifischen Besonderheiten oder Gefahren hervorgekommen sind, besteht für die Erlassung einer solchen Verordnung nach §43 StVO keine ausreichende Grundlage.

Daß auf dem betreffenden Streckenabschnitt der Fahrbahnrichtung Salzburg - abgesehen von dem Umstand, daß lediglich zwei Spuren bestehen - besondere Umstände vorliegen, die ein Überholverbot gerade für LKW in der Zeit zwischen 5.00 und 22.00 Uhr gerechtfertigt erscheinen lassen, wurde von der verordnungserlassenden Behörde weder behauptet, noch ist dies sonst im Verfahren hervorgekommen. Auch in der auf der A 1 - Westautobahn geltenden Vorgängerregelung der in Prüfung gezogenen Verordnung (die Verordnung vom 5.11.1996, Z. 138.001/117-IA/31-1996) waren LKW-Überholerbote, und zwar von km 48,2 bis km 53,2, sowie von km 111,0 bis km 117,8 vorgesehen, nicht aber für den hier in Rede stehenden zweispurigen Bereich.

3. Schon aus diesem Grund ist die in Prüfung gezogene Wortfolge der erwähnten Verordnung nicht durch §43 StVO 1960 gedeckt und daher gesetzwidrig. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein näheres Eingehen auf die weitere im Einleitungsbeschluß aufgeworfene Frage, inwiefern die Behörde vor Verordnungserlassung ein ausreichendes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat. Das Ermittlungsverfahren ist jedenfalls soweit unzureichend geblieben, als es - wie oben dargetan - über den Bereich von km 77,5 bis km 79,2 hinaus keine hinreichende Grundlage für die Erlassung eines LKW-Überholverbots geboten hat.

4. Die in Prüfung gezogene Wortfolge war somit zur Gänze aufzuheben, weil aufgrund des Texts der Verordnung keine Wortfolge abgrenzbar wäre, die den Streckenbereich von km 77,5 bis km 79,2 vom Umfang der Aufhebung unberührt ließe.

5. Da die Gesetzmäßigkeit der Verordnung jedenfalls im (beschränkten) Umfang des Streckenbereichs von km 77,5 bis km 79,2 nicht in Zweifel gezogen wird, und weil ein sofortiges Außerkrafttreten im Hinblick auf die zu vermeidenden Gefahren im Straßenverkehr nachteilig wäre, hat der Verfassungsgerichtshof beschlossen, für das Außerkrafttreten des aufgehobenen Verordnungsteiles gemäß Art139 Abs5 B-VG eine Frist zu setzen, um dem Verordnungsgeber Gelegenheit zu geben, allenfalls nach Durchführung eines neuerlichen Ermittlungsverfahrens zur Feststellung der (noch) vorhandenen Gefahren, rechtzeitig eine diesem Erkenntnis entsprechende Ersatzlösung zu treffen.

6. Die Verpflichtung zur Kundmachung stützt sich auf Art139 Abs5 B-VG.

7. Dies konnte der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG in nichtöffentlicher Sitzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschließen.

Schlagworte

Straßenpolizei, Überholen, Verkehrsbeschränkungen, Verordnungserlassung, VfGH / Fristsetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:V80.2003

Dokumentnummer

JFT_09969077_03V00080_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten