TE Vfgh Erkenntnis 2003/11/28 B1019/03

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Veröffentlicht am 28.11.2003
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
VStG §51e Abs2

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf eine mündliche Verhandlung bei Zurückweisung einer Berufung in einem straßenpolizeilichen Verwaltungsstrafverfahren wegen einer Geschwindigkeitsübertretung als verspätet; keine inhaltliche Entscheidung iSd Art6 EMRK, keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Normierung über den Entfall einer öffentlichen mündlichen Verhandlung bei Zurückweisung einer Berufung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 21. Februar 2002, Zl. VK-6651-2001, wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 363,-

(Ersatzfreiheitsstrafe 120 Stunden) sowie die Verpflichtung zum Ersatz eines Verfahrenskostenbeitrags verhängt, weil er als Lenker eines PKW am 30. November 2000 um 12:24 Uhr auf der A 12 Inntalautobahn die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h um 54 km/h überschritten habe.

2. Die gegen das Straferkenntnis erhobene Berufung wies der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (in der Folge: UVS) mit Bescheid vom 21. Mai 2003, Zl. uvs-2002/15/100-4, als verspätet zurück. Er begründete dies damit, daß der Beschwerdeführer zwar in der 9. Kalenderwoche des Jahres 2002 (als das Straferkenntnis hinterlegt worden sei) ortsabwesend gewesen sei, daß er aber "innerhalb der Abholfrist", nämlich am 4. März 2002 an die Abgabestelle zurückgekehrt sei. Die Zustellung gelte daher "mit 05.03.2002 als rechtskräftig erfolgt", weshalb die am 6. Mai 2002 zur Post gegebene Berufung nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen erhoben und sohin verspätet sei.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer verfassungswidrigen gesetzlichen Bestimmung (§51e Abs2 Z1 VStG) sowie die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine mündliche Verhandlung ("fair hearing") vor einem Tribunal im Sinne von Art6 Abs1 EMRK und auf Befragung von Zeugen im Sinne des Art6 Abs3 litd EMRK behauptet wird. Der Beschwerdeführer beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Die dem angefochtenen Bescheid in verfahrensrechtlicher Hinsicht zugrundeliegende Vorschrift des §51e Abs2 Z1 VStG (in der Fassung BGBl. I Nr. 65/2002) lautet, soweit hier maßgeblich:

"Öffentliche mündliche Verhandlung (Verhandlung)

§51e. (1) ...

(2) Die Verhandlung entfällt, wenn

1. der Antrag der Partei oder die Berufung zurückzuweisen ist

..."

1.2. In der Beschwerde wird der Vorwurf erhoben, die Bestimmung des §51e Abs2 Z1 VStG sei verfassungswidrig und verstoße gegen Art6 EMRK, weil sie zwingend den Entfall der mündlichen Verhandlung vorsieht, wenn die Berufung zurückzuweisen ist. Dadurch widerspreche die Bestimmung dem in Art6 Abs1 EMRK normierten Mündlichkeitsgebot, wonach jedermann darauf Anspruch hat, "von einem unabhängigen und unparteiischen [...] Gericht" gehört zu werden, das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" bzw. über "die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage" zu entscheiden hat. Nach Auffassung des Beschwerdeführers sei es sachlich nicht begründbar,

        "daß die mündliche Verhandlung ... zwingend entfällt, wo doch

die Annahme des UVS, die Berufung sei verspätet eingebracht worden,

nur eine vorläufige sein kann, weil der UVS ... aufgrund der

Aktenlage keinerlei Tatsachengrundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage hat, ob nun die Hinterlegung rechtswirksam war".

2. Soweit der Beschwerdeführer mit diesem Vorbringen eine öffentliche mündliche Verhandlung im Sinne des Art6 EMRK bereits in dem der Zurückweisung vorangehenden Verfahrensstadium einfordert, ist ihm folgendes zu entgegnen:

2.1. Eine zurückweisende Entscheidung, in der nur darüber abgesprochen wird, ob ein Rechtsmittel zulässig ist, nicht aber über die Sache selbst, ist aus Sicht des Art6 EMRK keine (inhaltliche) Entscheidung "über eine strafrechtliche Anklage" oder "über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen" (vgl. EKMR 12.3.1976, X., Y., und Z. gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 6916/75, DR 6, 101; vgl. auch Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit [1997], 87 f.). Die Verfahrensgarantie des "fair hearing" iSd. Art6 Abs1 EMRK kommt nicht zur Anwendung, wenn einer Entscheidung in der Sache Prozeßhindernisse entgegenstehen (vgl. das Urteil des EGMR vom 21.2.1975, Golder, EuGRZ 1975, 91, insb. den letzten Absatz der Rz. 32; vgl. auch EKMR 12.5.1986, Blay gg. Deutschland, Beschwerde Nr. 10865/84, DR 47, 188, mit Hinweis auf EKMR 9.5.1978, X gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 8000/77, DR 13, 81).

2.2. Die Regelung des §51e Abs2 Z1 VStG, die den Entfall der mündlichen Verhandlung in jenen Fällen vorsieht, in denen zwar eine (negative) Entscheidung über den Zugang zu einem Verfahren vor dem Tribunal, nicht aber eine Entscheidung über die Sache selbst, nämlich über die "strafrechtliche Anklage", gefällt wird, verstößt nicht gegen das in Art6 Abs1 EMRK normierte Mündlichkeitsgebot, zumal sich dann, wenn - zulässigerweise - schon der Zugang zu einem Verfahren in der Sache beim Tribunal beschränkt ist, die Frage der Einhaltung der von einem Tribunal allenfalls zu erfüllenden Garantien nicht stellen kann. Art6 EMRK steht einer prozeßrechtlichen Regelung nicht entgegen, die den Zugang zu einem Verfahren in der Sache von der Einhaltung von Fristen und Formerfordernissen abhängig macht; solche Regelungen dienen der Rechtssicherheit und einer geordneten Rechtspflege ("good administration of justice", vgl. EKMR 6.5.1980, X. gg. Schweiz, Beschwerde Nr. 8407/78; EGMR 28.5.1985, Ashingdane, EuGRZ 1986, 8, Rz 57; EGMR 27.8.1991, Philis, ÖJZ 1991, 859; EKMR 11.10.1993, Beschwerde Nr. 15780/89, ÖJZ 1994, 391; EGMR 23.10.1996, Levages Prestations Services, ÖJZ 1997, 476).

2.3. Die dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Regelung begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Lichte des verfassungsgesetzlich in Art6 Abs1 EMRK verankerten Mündlichkeitsgebots.

2.4. Der von der belangten Behörde erlassene Zurückweisungsbescheid (bzw. das vorangehende Verfahren), mit dem die Berufung wegen Verspätung zurückgewiesen wurde, ist daher vom Verfassungsgerichtshof nicht anhand der in Art6 EMRK für das Verfahren in der Sache normierten speziellen Garantien zu messen.

3. Sonstige vom Verfassungsgerichtshof wahrzunehmende Rechtsverletzungen wurden in der Beschwerde nicht behauptet. Die belangte Behörde hat vor Bescheiderlassung Ermittlungen durchgeführt, dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und ihren Bescheid begründet; in die Verfassungssphäre reichende Mängel sind im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht hervorgekommen. Die Beschwerde ist daher abzuweisen, ohne daß der belangten Behörde Vorlageaufwand zuzusprechen war (VfSlg. 11444/1987).

4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Öffentlichkeitsprinzip, Verhandlung mündliche, VfGH / Prüfungsmaßstab

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:B1019.2003

Dokumentnummer

JFT_09968872_03B01019_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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