TE Vfgh Erkenntnis 2004/6/9 B1621/03

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Veröffentlicht am 09.06.2004
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.962,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Innsbruck vom 9. September 2003 wurde dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, dass er durch lautstarkes Schreien ungebührlicherweise störenden Lärm erregt habe. Wegen der Verwaltungsübertretung gemäß §4 Abs1 iVm. §1 Abs1 Tiroler Landes-Polizeigesetz wurde über ihn eine Geldstrafe in der Höhe von € 100,-- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von zwei Tagen verhängt.

Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol (im Folgenden: UVS), in der er die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung zur Gänze bestritt.

Mit Bescheid vom 8. Oktober 2003 gab der UVS dieser Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Schuldspruch keine Folge, reduzierte aber die verhängte Geldstrafe auf € 70,-- und die Ersatzfreiheitsstrafe auf 36 Stunden.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der vor allem die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

3. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und die Abweisung der Beschwerde beantragt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Art6 Abs1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem "Tribunal", das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Beschuldigten] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 16.624/2002 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art6 EMRK nur durch ein Tribunal entsprochen, das über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR 23.10.1995, ÖJZ 1995, 954) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer vom 20.12.2001, ÖJZ 2002, 394, Z28 bis 30).

In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art6 EMRK garantierten Recht "gehört zu werden" das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR in den Urteilen Håkansson und Sturesson gg. Schweden vom 21.2.1990, Serie A Nr. 171-A, S. 20, Rn. 64; Fredin [Nr. 2] gg. Schweden vom 23.2.1994, Serie A Nr. 283-A, S. 10-11, Rn. 21-22; Allan Jacobsson gg. Schweden [Nr. 2] vom 19.2.1998, Slg. 1998-I, S. 168, Rn. 46).

2. Im bekämpften Bescheid wird das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht begründet. Aufgrund der Umstände des Falles käme nur die Anwendung des §51e Abs3 Z3 VStG in Betracht, wonach der UVS von der Berufungsverhandlung absehen "kann", wenn sich die Berufung gegen einen Bescheid richtet, mit dem eine € 500,-- nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde.

Hätte §51e Abs3 Z3 VStG den Inhalt, dass allein die Höhe der Geldstrafe (weniger als € 500,--) von vornherein den Entfall der mündlichen Verhandlung nach sich zieht, so wäre dies verfassungswidrig. Die Bestimmung lässt eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall aber zu: Zur Frage des dem UVS aufgrund dieser Bestimmung eingeräumten Ermessens hat der Verfassungsgerichtshof bereits mit Erkenntnis VfSlg. 16.624/2002 ausgesprochen, dass §51e Abs3 VStG den UVS nicht zwingt, von der Verhandlung abzusehen, er hat vielmehr einen Ermessensspielraum; "soweit es Art6 EMRK gebietet, muss er [verfassungskonform] jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben".

3. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.

4. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob auf das durch Art6 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren durch eine konkludente Willenserklärung wirksam verzichtet werden kann: Selbst wenn Art6 EMRK im Strafverfahren einen schlüssigen Verzicht auf das Recht auf eine mündliche Verhandlung zuließe, kann nämlich das Verhalten des Beschwerdeführers unter den Umständen des vorliegenden Falles keineswegs dahin verstanden werden, konkludent auf dieses Recht verzichtet zu haben:

Der Inhalt der - sachverhaltsbezogenen - Berufung lässt keineswegs zweifelsfrei darauf schließen, dass der Beschwerdeführer dadurch auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Der schlüssige Verzicht auf ein Recht setzt die Kenntnis dieses Rechts voraus. Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen musste (s. auch VfGH 18.6.2003, B1312/02; 25.6.2003, B366/03; zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR 3.10.2002, Cetinkaya gg. Österreich, Zl. 61595/00).

Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Der Kostenzuspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Auslegung verfassungskonforme, Ermessen, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B1621.2003

Dokumentnummer

JFT_09959391_03B01621_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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