TE Vfgh Erkenntnis 2004/6/9 B1514/03

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Veröffentlicht am 09.06.2004
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Strafverfügung der Bundespolizeidirektion Wien vom 12. Februar 2002 wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er es als vom Masseverwalter der in Konkurs befindlichen Zulassungsbesitzerin eines näher bezeichneten Kraftfahrzeuges namhaft gemachte Auskunftsperson unterlassen habe, der Behörde auf ihr schriftliches Verlangen innerhalb einer Frist von zwei Wochen Auskunft darüber zu erteilen, wer dieses Kraftfahrzeug am 3. August 2001 um 08:11 Uhr an einem näher bezeichneten Ort gelenkt hat.

Nachdem er gegen diese Strafverfügung Einspruch erhoben hatte, erließ die Bundespolizeidirektion Wien ein Straferkenntnis und verhängte über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 109,- (Ersatzfreiheitsstrafe 90 Stunden). Nach den Feststellungen des Straferkenntnisses wurde als erwiesen angenommen, dass zunächst der Beschwerdeführer vom Masseverwalter der Zulassungsinhaberin als Auskunftsperson namhaft gemacht wurde. Nachdem auch der Beschwerdeführer eine behördliche Aufforderung gemäß §103 Abs2 KFG erhalten hatte, habe er eine weitere, dritte Person als Auskunftsperson namhaft gemacht. Als vom Masseverwalter der Zulassungsinhaberin namhaft gemachte auskunftspflichtige Person habe der Beschwerdeführer jedoch keine Möglichkeit, eine weitere auskunftspflichtige Person namhaft zu machen, sondern müsse selbst Auskunft darüber erteilen, wer zum maßgeblichen Zeitpunkt Lenker gewesen sei.

2. In seiner Berufung gegen dieses Straferkenntnis machte der Beschwerdeführer zum Einen eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend, zum Anderen erstattete er ein konkretes Vorbringen zum Sachverhalt: Er brachte vor, dass eigentlich er als Prokurist der Vertreter der Zulassungsinhaberin (einer Gesellschaft) gewesen sei. Aufgrund des von ihm vorgebrachten Sachverhalts sei es nicht rechtswidrig gewesen, dass er eine dritte Person namhaft gemacht hat, die der Behörde die Auskunft erteilen könne. Das von der Behörde für die Aufforderung zur Bekanntgabe des Fahrzeuglenkers verwendete Formular habe ausdrücklich auch die Möglichkeit offen gelassen, einen Dritten als auskunftspflichtige Person namhaft zu machen. Das Formular sei zwar maschinengeschrieben gewesen, habe aber handschriftliche Markierungen enthalten, die aus seiner Sicht verwirrend gewesen seien.

Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (in der Folge: UVS) gab der Berufung mit Bescheid vom 29. September 2003 - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - keine Folge.

3. Dagegen richtet sich die gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (insb. Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Entfall einer mündlichen Verhandlung wurde von der belangten Behörde damit begründet, dass im Berufungsvorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurde und sich die Berufung gegen einen Bescheid richtet, in dem eine Strafe verhängt wurde, die den Betrag von € 500,- nicht übersteigt.

2. Dem ist folgendes entgegenzuhalten:

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 16624/2002 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR dargelegt, dass den Verfahrensgarantien des Art6 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen wird, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt (vgl. das Urteil des EGMR 23.10.1995, Gradinger, ÖJZ 1995, 954) muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer vom 20.12.2001, ÖJZ 2002, 394, Z28 bis 30).

In seinem Erkenntnis vom 18. Juni 2003, B1312/02, hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des §51e Abs3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art6 EMRK gebietet, muss der UVS - verfassungskonform - eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. VfSlg. 16624/2002).

2.2. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim UVS zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.

2.3. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann das Verhalten des Beschwerdeführers keineswegs als schlüssiger Verzicht auf sein Recht gedeutet werden:

Dass die Berufung des Beschwerdeführers ausschließlich eine Beurteilung von Rechtsfragen durch den UVS erforderlich machte, trifft schon deswegen nicht zu, weil der UVS die Tatsachenbehauptungen der Berufung selbst als entscheidungswesentlich angesehen hat, zumal er ihnen - auf Grundlage des Akteninhalts - entgegengetreten ist (so etwa in Bezug auf die Behauptungen zum Inhalt des Formulars). Der Inhalt der - sachverhaltsbezogenen - Berufung lässt keineswegs zweifelsfrei darauf schließen, dass auf das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass ein solcher schlüssiger Verzicht die Kenntnis dieses Rechts voraussetzt (VfGH 18.6.2003, B1312/02). Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR 3.10.2002, Cetinkaya gg. Österreich Zl. 61595/00).

Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 EMRK verletzt worden.

3. Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Auslegung verfassungskonforme, Ermessen, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B1514.2003

Dokumentnummer

JFT_09959391_03B01514_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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