RS Vfgh 1987/9/29 G138/87, G139/87, G140/87, G141/87, G166/87, G167/87, G168/87, G169/87, G170/87, G

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Veröffentlicht am 29.09.1987
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41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs5
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
FrPG §3 idF der Nov 1986
MRK Art8
MRK Art8 Abs2

Leitsatz

FremdenpolizeiG idF BGBl. 555/1986; in allen Fällen Präjudizialität des (gesamten) §3, teils wegen des untrennbaren Zusammenhanges der Bestimmung, teils, weil die den angefochtenen Bescheid vornehmlich tragende Bestimmung des §8 (über die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes) ihren Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 gewinnt Eingriff in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht schon durch Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nach §(Hinweis auf Erk. VfSlg. 10737/1985, mit dem §3 FrPG id Stammfassung aufgehoben wurde); auch §3 idF BGBl. 555/1986 in Widerspruch zu Art8 MRK und Art18 B-VG - Eingriffsschranken, wie sie Art8 Abs2 MRK vorschreibt, nicht mit der für ein "eingriffsnahes" Gesetz erforderlichen Deutlichkeit zu erkennen; zu den Erfordernissen der spezifischen Regelungsdichte; dieser entspricht §3 Abs3 jedenfalls nicht, der lediglich den Wortlaut des Art8 Abs2 MRK übernimmt Herbeiführung der Anlaßfallwirkung für beim VwGH anhängige Beschwerdesachen nach Art140 Abs7; Zurückweisung der Gerichtsanträge, soweit sie eine Aufhebung des §8 begehren, mangels Präjudizialität

Rechtssatz

Präjudizialität des gesamten §3 FremdenpolizeiG (idF der Novelle 1986) - Untrennbarer Zusammenhang.

Die Beschwerden B115/87, B311/87 und B342/87 (Gesetzesprüfungsverfahren G138/87, G140/87 und G141/87) wenden sich gegen Bescheide, mit denen Aufenthaltsverbote, gestützt auf bestimmte, im §3 FrPG idF der Novelle 1986 vorgesehene Tatbestände, erlassen wurden. Der Verfassungsgerichtshof hätte also bei seinen Entscheidungen die entsprechenden Stellen dieser Gesetzesbestimmung anzuwenden. Präjudiziell in der Bedeutung des Art140 Abs1 B-VG ist aber wegen seines untrennbaren Zusammenhanges der gesamte §3 (vgl. auch hiezu das wiederholt zitierten Erk. G225/85, dem im Hinblick auf die Präjudizialität eine ähnliche Konstellation zugrundelag).

Die Beschwerde B231/87 (Gesetzesprüfungsverfahren G139/87) bekämpft einen Bescheid, mit dem - gestützt auf §8 FrPG - die beantragte Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes abgelehnt wurde. Der Verfassungsgerichtshof hätte bei seiner Entscheidung zunächst diese, den angefochtenen Bescheid materiell-rechtlich vornehmlich tragende Vorschrift, aber auch §3 FrPG in der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung geltenden Fassung (jener der Novelle 1986) anzuwenden; §8 FrPG über die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes gewinnt nämlich seinen Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 FrPG über das Aufenthaltsverbot (vgl. zB VfGH 8.10.1986 B490/86).

Bereits die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen Fremden - und nicht erst die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes - kann in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen (Erk. G225/85 vom 12.12.1985).

Ein Eingriff in die durch Art8 Abs1 MRK geschützten Güter ist nur unter den im Art8 Abs2 MRK genannten Voraussetzungen zulässig. In formeller Hinsicht verlangt diese Verfassungsbestimmung, daß der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist ("is in accordance with the law", "est prevue par la loi"). In materieller Hinsicht muß der Eingriff ein Ziel haben, das nach Art8 Abs2 MRK gerechtfertigt ist; er muß zur Erreichung dieses Zieles "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein (vgl. zB die Urteile des EGMR in den Fällen Sunday Times und Silver, EuGRZ 1979, 387 und 1984, 149).

Wenn ein Gesetz eine Maßnahme - wie hier ein Aufenthaltsverbot (§3 FremdenpolizeiG idF der Novelle 1986) - vorsieht, die nicht bloß zufällig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regel schwerwiegend in das Familienleben, vielfach auch sonst in das Privatleben, eingreift, wenn also der Effekt des Gesetzes (mag dies auch gar nicht intendiert sein) sehr eingriffsintensiv ist, müssen die Eingriffstatbestände - anders als bei weniger eingriffsnahen Gesetzen - besonders deutlich umschrieben sein.

Was unter "gesetzlich" iSd Art8 Abs2 MRK zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Rechtssystem des Vertragsstaates (vgl. das Urteil des EGMR im Fall Sunday Times, EuGRZ 1979, 387). In Österreich müssen dem Art18 B-VG zufolge die Eingriffsmöglichkeiten in einer auf Gesetzesstufe stehenden Norm vorgesehen sein.

Das den Grundrechtseingriff erlaubende Gesetz muß das Verhalten der Behörde derart ausreichend vorausbestimmen, daß es für den Normadressaten vorausberechenbar ist und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes in der Lage sind, die Übereinstimmung des Verwaltungsaktes mit dem Gesetz zu überprüfen (vgl. die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Art18 B-VG, zB VfSlg. 8792/1980, 8802/1980, 9609/1983, 9720/1983); oder - wie dies der EGMR in dem (ua.) zu Art8 MRK ergangenen Urteil im Fall Silver, EuGRZ 1984, 150, ausgedrückt hat - das Gesetz muß so präzise formuliert sein, daß der Bürger sein Verhalten danach einrichten kann; er muß - gegebenenfalls aufgrund entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewißheit zu erkennen. Daß damit grundsätzlich weder ausgeschlossen wird, der Behörde ein Ermessen einzuräumen, noch sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, ist in der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu Art18 B-VG (zB VfSlg. 8792/1980; 9627/1983, 9665/1983) festgehalten und wird auch vom EGMR in der Rechtsprechung zu Art8 MRK (s. zB den Fall Silver, aaO, S 150) zugestanden. Eingriffsnahe Gesetze, wie etwa Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot, müssen deutlich die Eingriffsschranken, wie sie die MRK (hier Art8 Abs2) vorschreibt, erkennen lassen. Ein solches Gesetz muß also mit der soeben dargelegten Bestimmtheit zu erkennen geben, unter welchen Voraussetzungen bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die aufgrund des jeweiligen Tatbestandes zu erwartenden öffentlichen Interessen daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt, gegen die familiären (allenfalls sonstigen privaten) Interessen am Verbleib des Fremden in Österreich abzuwägen sind (wobei das Gesetz die jeweiligen Grundsätze für diese Interessenabwägung festlegen und dabei auf eine angemessene Verhältnismäßigkeit Bedacht nehmen muß; vgl. Urteil des EGMR im Fall Silver, aaO S 152 - §97c), sowie allenfalls - nämlich dann, wenn das Gesetz dies ermöglichen will - unter welchen bestimmten anderen Voraussetzungen das Aufenthaltsverbot ohne jede Rücksichtnahme auf familiäre Beziehungen des Fremden verhängt werden darf - was Art8 MRK nicht ausschließt.

§3 des FremdenpolizeiG, BGBl. 1954/75, idF der Novelle 1986, BGBl. 1986/555, wird wegen Widerspruches zu Art8 MRK und Art18 B-VG aufgehoben.

Eingriffsnahe Gesetze, wie etwa Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot, müssen die Eingriffstatbestände deutlich umschreiben.

Diesem Gebot entsprechen die geltenden Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot nicht. Abs1 des §3 FrPG idF der Novelle 1986 umschreibt in Form einer weitmaschigen Generalklausel die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme. Abs2 zählt (demonstrativ) einzelne Tatbestände auf, bei deren Zutreffen - unter Abwägung nach Abs3 - ein Aufenthaltsverbot verhängt werden darf. Abs3 erster Satz enthält ein Abwägungsgebot; im folgenden Satz wird sodann der im Art8 Abs2 MRK enthaltene materielle Eingriffsvorbehalt nahezu wörtlich wiederholt. Die damit erzielte Regelungsdichte ist genau dieselbe wie wenn anstelle des §3 Abs3 FrPG idF der Novelle 1986 der Art8 MRK als unmittelbar anzuwendende Vorschrift im Zusammenhalt mit §3 Abs1 und 2 FrPG gelesen würde. Genau einem derartigen Normenkomplex hat der Verfassungsgerichtshof im Erk. G225/85 (mit dem §3 FrPG id Stf aufgehoben wurde) vorgeworfen, daß er die Eingriffstatbestände verfassungsrechtlich ungenügend umschreibe.

Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei dieser Judikatur. Art8 MRK und Art18 B-VG legen dem Gesetzgeber bei der Regelung des Aufenthaltsverbotes eine spezifische Determinierungspflicht auf. Sie ist - entgegen der offenbaren Meinung der Bundesregierung - nicht dahin zu verstehen, daß sie den Gesetzgeber dazu verhält, keine unbestimmten Rechtsbegriffe zu verwenden, der Verwaltung kein freies Ermessen einzuräumen oder sich einer kasuistischen Regelungstechnik zu bedienen. Dem Gesetz muß aber mit hinlänglicher Genauigkeit der vom Gesetzgeber gewollte Inhalt derart entnommen werden können, daß das Verhalten der Behörde vom Adressaten vorausberechenbar und von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes nachprüfbar ist, wobei im gegebenen Zusammenhang - wie dargetan - strenge Anforderungen zu stellen sind. Diese Anforderungen erfüllt §3 Abs3 FrPG idF der Novelle 1986, der lediglich den Wortlaut des Art8 Abs2 MRK übernimmt, bei einer Gesamtschau der Norm nicht; insbesondere reicht es - entgegen der Argumentation der Bundesregierung - nicht hin, wenn das dort verwendete Wort "notwendig" an sich auslegungsfähig sein mag.

Die vorläufigen Annahmen der Einleitungsbeschlüsse haben sich sohin als zutreffend erwiesen: Das Gesetz muß die Verwaltungsorgane ausreichend konkretisiert anleiten, wie sie bei der gebotenen Interessenabwägung vorzugehen haben. Dies etwa derart, daß es klarstellt, welche Fallgruppen es allenfalls gibt, in denen das öffentliche Interesse so sehr überwiegt, daß eine Interessenabwägung von vornherein ausgeschlossen ist; vor allem aber derart, daß das Gesetz klärt, welche für den Verbleib des Fremden im Bundesgebiet sprechenden Aspekte im gegebenen Zusammenhang bedeutsam sind (allenfalls mit welchem Gewicht) und gegen das öffentliche Interesse daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt, abzuwägen sind.

Aufhebung einer Gesetzesbestimmung mit befristeter Geltungsdauer (§3 FremdenpolizeiG idF der Novelle 1986) - Dauer der Frist für das Außerkrafttreten.

Die Frist wurde nur bis 31.12.1987 bemessen, weil mit diesem Zeitpunkt die aufgehobene Bestimmung ohnehin außer Kraft getreten wäre.

Keine Einbeziehung von Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes in das von amtswegen eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren (§3 FremdenpolizeiG idF der Novelle 1986) im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen (Einlangen der Anträge zwischen 21. und 24.9.1987; Anberaumung der mündlichen Verhandlung für den 29.9.1987).

Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch beschlossen, von der ihm gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und die Anlaßfallwirkung auch für diese beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdesachen herbeizuführen (vgl. zB VfGH 12.12.1985 G225/85 ua).

Damit erübrigt sich eine weitere Erledigung der vom Verwaltungsgerichtshof gestellten Gesetzesprüfungsanträge, sofern sie sich auf §3 FrPG idF der Novelle 1986 beziehen.

Ausdehnung der Anlaßfallwirkung (der Aufhebung des §3 FremdenpolizeiG idF der Novelle 1986) auf Prüfungsanträgen des Verwaltungsgerichtshof zugrundeliegende Beschwerdesachen, deren Einbeziehung in das Gesetzesprüfungsverfahren im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen nicht mehr möglich war - Zurückweisung von Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes insoweit, als sie (auch) die Aufhebung des §8 FrPG begehren, mangels Präjudizialität.

Das Ziel eines auf Antrag eines (anderen) Gerichtes eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ist in gleicher Weise wie jenes eines vom Verfassungsgerichtshof von amtswegen eingeleiten Verfahrens, dem Gericht eine verfassungsrechtlich einwandfreie Grundlage für seine Entscheidung zu geben. Hiebei soll einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, andererseits soll der verbleibende Text möglichst wenig Veränderung seiner Bedeutung erfahren (vgl. zB VfSlg. 7376/1974, 7726/1975, 8155/1977, 9374/1982).

Auch für die nun behandelte Fallgruppe wurde im Wege des auf Art140 Abs7 B-VG gestützten Ausspruches die Anlaßfallwirkung in Ansehung des §3 FrPG idF der Novelle 1986 erweitert. Es wird daher dem Verwaltungsgerichtshof möglich sein, auch bei Entscheidung über diese Beschwerden so vorzugehen, als ob die zuletzt zitierte Gesetzesbestimmung bereits zur Zeit der Verwirklichung der den angefochtenen Bescheiden zugrundeliegenden Tatbestände nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte. Da nun aber §8 FrPG (der die Aufhebung eines verhängten Aufenthaltsverbotes behandelt) seinen Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 leg.cit. (betreffend das Aufenthaltsverbot) gewinnt, ist eine Aufhebung auch des §8 FrPG nicht erforderlich, um für die Anlaßfälle eine mit den vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr belastete Rechtslage herbeizuführen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot, Grundrechte, Legalitätsprinzip, Gesetzesvorbehalt, Ermessen, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G138.1987

Dokumentnummer

JFR_10129071_87G00138_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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