RS Vfgh 1987/10/14 G181/86, G43/87, G44/87, G45/87, G46/87, G121/87, G122/87

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 14.10.1987
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/04 Apotheken, Arzneimittel

Norm

B-VG Art20 Abs1
B-VG Art20 Abs2
B-VG Art133 Z4
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art144 Abs2
ApothekerkammerG §18 ff, §21 Abs3 und Abs4, §23 Abs1
VStG 1950
MRK Art5
MRK Art5 Abs1 lita
MRK Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1
EGVG 1950 ArtII Abs6 litc

Leitsatz

Prüfung der (verfassungsrechtlich bedenklichen)Organisationsnormen anstatt der (ebenfalls bedenklichen)Strafnormen - weniger einschneidende Änderung der Rechtsordnung;Präjudizialität des §21 Abs3 zweiter Satz und §21 Abs4; derVfGH kann eine präjudizielle Norm in jeder Hinsicht auf ihreVerfassungsmäßigkiet - völlig unabhängig vom Anlaßfall - prüfen.Der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt nichtDisziplinarverfahren; Strafrecht iS des Art6 MRK ist "autonom"anhand der Konvention entsprechend deren Sinn und Zweck zuverstehen; einige der in §23 Abs1 vorgesehenen Strafen,jedenfalls die dauernde oder zeitliche Entziehung des Rechtes zurLeitung einer Apotheke (lite) und das Verbot zur Ausübung desApothekerberufes (litf) sind Strafen iS des Art6 MRK; dieseStrafen werden von Art6 MRK erfaßtDer Disziplinarberufungssenat (keine Einrichtung derSelbstverwaltung, keine Kollegialbehörde mit richterlichemEinschlag, keine Weisungsfreistellung) ist kein Tribunal iS desArt6 MRK; in dem vom österr. Vorbehalt zu Art5 MRK nichterfaßten Bereich (wie hier) ist in Strafverfahren dienachprüfende Kontrolle durch den VwGH oder VfGH nichtausreichend, um den Garantien des Art6 MRK zu genügen - überdie Stichhaltigkeit von strafrechtlichen Anklagen hat einTribunal selbst zu entscheiden; Widerspruch des §21 Abs3zweiter Satz und des §21 Abs4 zu Art6 MRK

Rechtssatz

Das Ziel eines vom Verfassungsgerichtshof von amtswegen oder auf Antrag eines anderen Gerichtes eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ist es, für das Anlaßverfahren eine verfassungsmäßig einwandfreie Rechtsgrundlage herzustellen. Bei Lösung der Frage, welche Bestimmungen im jeweiligen Fall zu prüfen und aufzuheben sind, hat der Verfassungsgerichtshof in von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren den Prüfungsumfang derart abzugrenzen, daß einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, daß aber andererseits der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt; da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg. 7376/1974, 7726/1975, 9374/1982).

Der Verfassungsgerichtshof hat das Bedenken, daß einige der im ApKG vorgesehenen Strafen nur von einem Tribunal verhängt werden dürfen. Es wäre nun tatsächlich - wie die Bundesregierung meint - möglich, eine verfassungsrechtlich einwandfreie Rechtsgrundlage entweder dadurch herzustellen, daß die betreffenden Strafbestimmungen oder aber daß die die Strafbehörde konstituierenden Organisationsnormen geprüft und - bei Zutreffen der Bedenken - aufgehoben werden.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich für die zweite Lösung entschieden: Bei den geltend gemachten Bedenken sind es die Organisationsnormen, auf die in erster Linie geblickt wird (vgl. hiezu etwa VfSlg. 7099/1973, 8523/1979). Sie sind im Verhältnis zu den Strafbestimmungen bloß dienender Natur; die Rechtsordnung würde weniger einschneidend verändert, wenn aus ihr nicht Straf-, sondern Organisationsvorschriften eliminiert würden; eine Ersatzregelung hätte nämlich lediglich die Strafbehörden als Tribunale einzurichten und bräuchte keine neuen Strafnormen einzuführen.

Die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken gehen dahin, daß Regelungen über die Zusammensetzung des Disziplinarsenates der Apothekerkammer und über den Bestellungsmodus seiner Mitglieder den Art5 und 6 MRK widersprechen. Der Verfassungsgerichtshof hat §21 Abs3 und 4 ApKG in Prüfung gezogen. Es würde jedoch hinreichen, den zweiten Satz des Abs3 und den Abs4 im §21 aufzuheben, um - falls die geäußerten Bedenken zutreffen sollten - die Rechtslage so zu bereinigen, daß gegen sie diese Bedenken nicht mehr bestehen. Diese Vorschriften sind präjudiziell in der Bedeutung des Art140 Abs1 B-VG.

Daraus folgt, daß - da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen - die von amtswegen zu G181/86, G121/87 und G122/87 eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren zulässig sind, soweit sie sich auf §21 Abs3 zweiter Satz und §21 Abs4 ApKG beziehen, daß sie jedoch einzustellen sind, soweit sie §21 Abs3 erster Satz ApKG zum Gegenstand haben.

Die vom Verwaltungsgerichtshof gestellten Gesetzesprüfungsanträge sind zulässig, soweit mit ihnen die Aufhebung des §21 Abs3 zweiter Satz und des §21 Abs4 ApKG begehrt wird.

Im übrigen sind sie jedoch als unzulässig zurückzuweisen. Sollten die (auch) vom Verwaltungsgerichtshof geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken zutreffen, so wäre es nämlich, um das Ziel, die Anlaßbeschwerden aufgrund einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsordnung zu entscheiden, zu erreichen, nicht erforderlich, andere oder weitere als die oben erwähnten Gesetzesbestimmungen aufzuheben.

Anders als im Verfahren vor dem EGMR, das nur den konkreten Beschwerdefall zum Gegenstand hat, kommt es im Gesetzesprüfungsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof zunächst darauf an, ob eine bestimmte Gesetzesstelle im Anlaßfall anzuwenden ist, ob sie präjudiziell ist; ist sie aber präjudiziell, so kann sie vom Verfassungsgerichtshof in jeder Hinsicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden, und zwar völlig unabhängig vom Anlaßfall. Hiebei ist auf den Zusammenhang der in Prüfung gezogenen Vorschrift mit der gesamten übrigen Rechtsordnung Bedacht zu nehmen.

Der Gesetzesprüfungsantrag des Verwaltungsgerichtshofes ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der dem Verwaltungsgerichtshof abgetretenen (Anlaß-)Beschwerde nach Art144 Abs2 B-VG abgelehnt hatte; eine Bindung irgendwelcher Art ist damit nämlich nicht entstanden (vgl. U. Davy, Die Ablehnungstatbestände des Art144 Abs2 B-VG, ZfV 1985, 245).

Der Verfassungsgerichtshof hat in Übereinstimmung mit der älteren Rechtsprechung des EGMR (vgl. die Nachweise bei Kopetzki, JBl. 1981, 468 FN 3) die Meinung vertreten, daß die Ahndung von Verstößen gegen die Standes- oder Berufspflichten (Disziplinarrecht) nicht unter Art6 MRK fällt (vgl. zB VfSlg. 4710/1964, 5033/1965, 5657/1968, 6239/1970, 7366/1974, 7907/1976).

Die dieser Judikatur zugrundeliegende Auffassung trifft jedoch in dieser Allgemeinheit nicht zu. Mit dem EGMR (Fall Engel, EuGRZ 1976, 221, 232; Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 62, 67; Fall Campbell und Fell, EuGrZ 1985, 538) ist der Verfassungsgerichtshof der Meinung, daß der Begriff des Strafrechts iSd Art6 MRK (Art6 Abs1 MRK: "strafrechtliche Anklage"; Art6 Abs2 MRK:

"strafbare Handlung") "autonom" anhand der Konvention entsprechend deren "Sinn und Zweck" zu verstehen ist. Danach kommt es zwar zunächst darauf an, ob der Text, der die fragliche Zuwiderhandlung umschreibt, nach dem jeweiligen staatlichen Rechtssystem dem Strafrecht angehört. Ist das nicht der Fall, so ist "die Art des Vergehens ebenso wie Art und Schwere der angedrohten Sanktion zu beurteilen, und zwar unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Art6, des Sinnes, der dieser Bestimmung gewöhnlich zukommt, sowie des Rechts der Vertragsstaaten" (EGMR, Fall Öztürk, aaO, 67). Dabei ist "die Natur der Zuwiderhandlung, gesehen auch im Zusammenhang mit der Natur der entsprechenden Sanktion" nach Meinung des EGMR "ein Beurteilungsfaktor von erheblich größerem Gewicht" als die Zuordnung zum Strafrecht durch das innerstaatliche Recht. Die Garantien (insbes die Organisationsgarantien) des Art6 MRK kommen ferner immer dann zum Tragen, wenn Strafen von bestimmter Schwere vorgesehen sind (vgl. die neue Judikatur des EGMR, etwa im Fall Engel, EuGRZ 1976, 221 ff), also auch dann, wenn sie im Disziplinarbereich verhängt werden (vgl. die neue Judikatur des EGMR, Fall Engel, EuGRZ 1976, 221 ff; Fall Campbell und Fell, EuGRZ 1985, 535 ff).

Um Entscheidungen über "strafrechtliche Anklagen" in der Bedeutung des Art6 Abs1 MRK handelt es sich jedenfalls dann, wenn längere Freiheitsstrafen zu verhängen sind, und zwar auch dann, wenn es sich dabei um disziplinäre Maßnahmen handelt (vgl. die neuere Judikatur des EGMR: Fall Engel, EuGRZ 1976, 221 ff, Fall Campbell und Fell, EuGRZ 1985, 535 ff; Fälle De Wilde, Ooms und Versyp (belgische Landstreicherfälle), Urteil vom 18.6.1971).

Gleiches gilt aber für Strafen anderer Art, die diesen Freiheitsstrafen in der Schwere des Übels annähernd gleichkommen, wenn nach der Natur der entsprechenden Sanktion kein Zweifel besteht, daß jener "Charakter einer Bestrafung beibehalten" wird, "durch den sich strafrechtliche Sanktionen gewöhnlich auszeichnen". (Dieses und die nachfolgenden Zitate aus EGMR, Fall Öztürk, aaO, 67). Diesen besonderen Strafrechtscharakter im Sinne der MRK besitzen Sanktionen nur, wenn sie "sowohl ahnden als auch abschrecken". Nach dem "allgemeinen Charakter" der Strafnorm muß "der sowohl präventive als auch repressive Zweck der Sanktion" und wohl auch der strafrechtlichen Sanktionen notwendig innewohnende Tadel deutlich werden. Um derartige, eindeutig als Strafe iSd Art6 MRK und nicht als sonstige administrative Maßnahmen zu qualifizierende, besonders gravierende Sanktionen handelt es sich bei einigen der im §23 Abs1 ApKG vorgesehenen Strafen, so zumindest bei jenen nach lite (die zeitliche oder dauernde Entziehung des Rechtes zur Leitung einer Apotheke) und nach litf (das Verbot der Ausübung des Apothekerberufes bis zur Dauer von drei Jahren); all diese Strafen können praktisch zur Gefährdung oder Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Bestraften führen. Sie zeichnen sich insgesamt nicht nur durch besondere Schwere der Bestrafung, sondern auch durch ein vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochenes Unwerturteil aus, das dem Wesen einer Strafe iSd Art6 MRK eigen ist.

In den Gesetzesprüfungsverfahren kommt es nicht darauf an, welche Sanktionen in den den Verfassungsgerichtshofbeschwerden zugrundeliegenden Disziplinarverfahren verhängt wurden, sondern darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt (vgl. EGMR, Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 67).

Das aber bedeutet, daß einige der im §23 Abs1 ApKG aufgezählten Strafen von Art6 MRK erfaßt werden und daher nur von Behörden verhängt werden dürften, die den Organisationsgarantien dieser Konventionsbestimmung genügen. Das wäre nur dann der Fall, wenn entweder der Disziplinarberufungssenat ein Tribunal wäre oder wenn im Wege der nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes diesen Anforderungen entsprochen würde.

Disziplinarberufungssenat der Apothekerkammer - kein Tribunal iSd Art6 MRK.

Die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates sind dem §21 Abs3 ApKG zufolge Personen, die in ihrer sonstigen Tätigkeit Beamte oder Apotheker sind. Der Senat ist, da er nicht als Gericht iSd B-VG eingerichtet ist, als Verwaltungsbehörde zu qualifizieren.

Das ApKG enthält darüber, ob die Senatsmitglieder weisungsfrei oder weisungsgebunden sind, keine explizite Aussage. Verwaltungsbehörden sind nun aber gemäß Art20 Abs1 B-VG, sofern nicht verfassungsgesetzlich anderes bestimmt wird, auch dann weisungsgebunden, wenn sie als Kollegialbehörden organisiert sind.

Der Disziplinarberufungssenat ist beim zuständigen BM eingerichtet; seine Mitglieder werden zum Teil nicht von den Kammerorganen, sondern vom BM bestellt. Das schließt aus, den Disziplinarberufungssenat als Einrichtung der Selbstverwaltung anzusehen. Es braucht daher nicht erörtert zu werden, ob dieser Senat ein unabhängiges Tribunal iSd Art6 MRK wäre, wenn er als oberstes Organ eines Selbstverwaltungskörpers zu qualifizieren sein sollte.

Es gibt keine spezielle Verfassungsbestimmung, die den Disziplinarberufungssenat weisungsfrei stellt. Er ist auch nicht als sogenannte Kollegialbehörde mit richterlichen Einschlag (Art20 Abs2, Art133 Z4 B-VG) konstruiert, gehört ihm doch kein Richter an.

Exkurs zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der einfachgesetzlich vorgesehenen Weisungsfreistellung der Mitglieder der für Bundesbeamte eingerichteten Disziplinarbehörden (VfSlg. 2311/1952, 3096/1956, 3136/1956) - keine analoge Anwendung dieser Judikatur auf andere Disziplinarbehörden möglich.

Das ApKG legt nach seinem Wortlaut nahe, daß die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates weisungsgebunden sind. Eine andere Interpretation verbietet sich, da das Gesetz - würde es die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates weisungsfrei stellen - dem Art20 Abs1 B-VG widerspräche; es ist danach unzulässig, durch einfaches Gesetz weisungsfreie Verwaltungsbehörden einzurichten (vgl. zB VfSlg. 2323/1952, 3054/1956, 3096/1956, 3134/1956, 4117/1961, 4455/1963, 5985/1969).

Dem Disziplinarberufungssenat fehlt sohin bereits wegen der Weisungsgebundenheit - und der damit fehlenden Unabhängigkeit in der Bedeutung des Art6 MRK - seiner Mitglieder die Eigenschaft eines Tribunals.

Nachprüfende Kontrolle im Strafverfahren genügt nicht der Garantie des Art6 MRK (VfSlg. 10291/1984).

Art6 Abs1 iVm Art5 Abs1 lita MRK verlangt, daß über die Stichhältigkeit strafrechtlicher Anklagen ein Tribunal selbst entscheidet. Ein Tribunal, das den Organisationsgarantien des Art6 MRK entspricht, hat also ein den Verfahrensgarantien desselben Artikels entsprechendes Verfahren durchzuführen und auf Grund der Ergebnisse dieses Verfahrens selbst zur Strafe zu verurteilen. Das gilt auch für Disziplinarstrafen, sofern diese auf Grund der Schwere der gesetzlich vorgesehenen Sanktionen und des ihnen innewohnenden strafrechtlichen Charakters von Art6 Abs1 MRK erfaßt sind. Das bedeutet, daß das Urteil (DisziplinarErk.) fällende Organ selbst ein Tribunal sein muß und daß die bloß nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal (etwa den Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof) dem Art6 Abs1 MRK nicht genügt.

Nach Art5 Abs1 lita MRK darf einem Menschen die Freiheit nur dann entzogen werden, "wenn er rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird". Aus dieser Formulierung ergibt sich zweifelsfrei, daß eine Verurteilung durch ein Tribunal im Sinne dieser Konventionsbestimmung Voraussetzung für die Haft ist. Aber auch der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK kann sinnvoll nicht anders verstanden werden. Danach werden dessen Bestimmungen mit der Maßgabe angewendet, daß die in den Verwaltungsverfahrensgesetzen, BGBl. 172/1950, vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges unter der in der österreichischen Bundesverfassung vorgesehenen nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof oder den Verfassungsgerichtshof unberührt bleiben. Diese Norm muß so gedeutet werden, daß die (bloß) nachprüfende Kontrolle durch die beiden Höchstgerichte in Strafsachen nicht hinreicht, um dem Art5 MRK zu entsprechen und daß deshalb durch einen entsprechenden Vorbehalt gesichert werden sollte, daß diese Kontrolle in Österreich in dem vom Vorbehalt erfaßten Bereich unberührt bleibt. Eine andere Auslegung ließe den Vorbehalt überflüssig erscheinen.

Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Judikatur (VfSlg. 6275/1970, 7210/1973, 7814/1976; 9409/1982, 10.237/1984) in Übereinstimmung mit der EKMR (E 3.3.1983, 8998/80, EuGRZ 1984, 74) angenommen, daß der zu Art5 MRK hinsichtlich der Verwaltungsverfahrensgesetze erklärte Vorbehalt bezüglich der unter diese Gesetze fallenden Verfahren auch die Anwendung des Art6 MRK ausschließt. Diese interpretative Ausdehnung des Vorbehalts ist nur unter der Annahme sinnvoll, daß "über die

Stichhaltigkeit der ... erhobenen strafrechtlichen Anklage" ein

Tribunal in der Sache zu entscheiden hat, soweit es sich eben nicht um "die in den Verwaltungsverfahrensgesetzen, BGBl. 172/1950, vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges" handelt. Der Verfassungsgerichtshof (VfSlg. 8234/1978) hat ferner mit Hilfe eines Größenschlusses die Anwendbarkeit des Vorbehaltes auf Geldstrafen ausgedehnt, da diese gemeinsam mit einer Ersatzarreststrafe verhängt werden und es widersinnig wäre, für Geldstrafen höhere Verfahrensgarantien zu gewähren als für Freiheitsstrafen. Wenn es sich als notwendig erwies, den Vorbehalt zu Art5 MRK wegen des Zusammenhangs dieser Bestimmung mit Art6 MRK auf dessen Verfahrensgarantien auszudehnen, so muß umgekehrt angenommen werden, daß für den vom Vorbehalt nicht erfaßten Teil strafrechtlicher Sanktionen im Sinne der MRK die (bloß) nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof oder Verfassungsgerichtshof nicht ausreicht. Soweit mithin eine vom geschilderten Vorbehalt nicht gedeckte "strafrechtliche Anklage" iSd Art6 Abs1 MRK vorliegt (wie dies auch im Erk. VfSlg. 10291/1984 hinsichtlich finanzstrafverfahrensrechtlicher Verfolgungshandlungen der Fall war), ist von der verfassungsrechtlichen Garantie eines "über die Stichhaltigkeit

der ... strafrechtlichen Anklage" entscheidenden Tribunals

auszugehen.

Der Einleitungsbeschluß geht davon aus, daß der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK Disziplinarverfahren nicht zu erfassen scheint. Diese vorläufige Annahme hat sich als zutreffend herausgestellt. Sanktionen für die Verletzung von Standespflichten wurden niemals als Strafen iSd VStG 1950 angesehen (s. ArtII Abs6 litc EGVG 1950).

Somit ist auf dem Gebiet des Disziplinarrechts der Apotheker Art6 MRK zu beachten, soweit es sich um Strafsachen im Sinne dieser Konventionsbestimmung handelt. In diesem Bereich vermag die nachprüfende Kontrolle von Disziplinarentscheidungen durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts den mangelnden Tribunalcharakter der Disziplinarbehörde selbst nicht zu ersetzen.

§21 Abs3 zweiter Satz und §21 Abs4 des BG vom 18.6.1947, BGBl. Nr. 152, betreffend die Errichtung einer Apothekerkammer (ApKG) werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Dem ApKG zufolge hat eine nicht den Garantien des Art6 MRK entsprechende Behörde, nämlich der Disziplinarberufungssenat, in vom österreichischen Vorbehalt zu Art5 MRK nicht erfaßten Strafsachen zu entscheiden. Die nachprüfende Kontrolle durch den Verfassungs- und den Verwaltungsgerichtshof reicht hier nicht aus, um diesen Mangel zu ersetzen. Daher widersprechen die die Organisation dieser Behörde regelnden, präjudiziellen Vorschriften dem auf Verfassungsstufe stehenden Art6 MRK.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Präjudizialität,VfGH / Prüfungsmaßstab, berufliche Vertretungen,Disziplinarrecht, Strafrecht, Strafprozeßrecht,Apotheken, Kammer, Disziplinarrecht, Selbstverwaltung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G181.1986

Zuletzt aktualisiert am

13.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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