RS Vfgh 1990/6/28 G315/89, G67/90

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Veröffentlicht am 28.06.1990
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Index

14 Organisationsrecht
14/02 Gerichtsorganisation

Norm

B-VG Art18 Abs1 B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag B-VG Art140 Abs1 / Verwerfungsumfang B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität ASGG §46 Abs1 Z1 idF BGBl 343/1989 AußStrG §14 Abs1 idF BGBl 343/1989 OGHG §14 Abs2 OGHG §15 Abs2 OGHG §7 Abs2 litd StPO §82 ZPO §219 ZPO §502 Abs1 idF BGBl 343/1989 ZPO §528 Abs1 idF BGBl 343/1989

Leitsatz

Aufhebung der Beschränkungen der Einsichtsmöglichkeit in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes auf bestimmte Universitätsprofessoren wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip; Kenntnis der Rechtsprechung des OGH als Voraussetzung für die Beurteilung der Zulässigkeit bestimmter Rechtsmittel; verfassungsrechtliches Gebot der Effizienz des Rechtsschutzes; Zurückweisung eines Individualantrages auf Aufhebung dieser Bestimmung mangels Legitimation; Zumutbarkeit des Rechtsweges

Rechtssatz

§15 Abs2 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1968, BGBl. Nr. 328, über den Obersten Gerichtshof wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, daß die Gewährung der Einsicht in die nicht gemäß §15 Abs1 OGHG amtlich veröffentlichten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in beim Obersten Gerichtshof nicht mehr anhängigen Rechtssachen in §15 Abs2 OGHG geregelt ist. §14 Abs2 OGHG hat nämlich nur die Gewährung der Einsicht in die vom Evidenzbüro des Obersten Gerichtshofes geführte Kartei der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zum Gegenstand, während §7 Abs2 litb OGHG seinem Wortlaut nach die (die Glaubhaftmachung eines rechtlichen Interesses voraussetzende; vgl. dazu Nowak-Schwaighofer, Das Recht auf öffentliche Urteilsverkündung in Österreich, EuGRZ 1985, S 725 ff., hier S 730) "Erteilung von Ausfertigungen, Auszügen oder Abschriften oberstgerichtlicher Entscheidungen" betrifft.

Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, daß §15 Abs2 OGHG, indem er die Gewährung der Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes nur für den dort umschriebenen Personenkreis ermöglicht, implizit alle anderen Personen von dieser Einsichtgewährung (soweit sie nicht im Rahmen der Gewährung von Akteneinsicht iS der §§219 ZPO bzw. 82 StPO erfolgt) ausschließt (vgl. in diesem Zusammenhang etwa VfSlg. 8017/1977, 8533/1979, 8806/1980, 10384/1985, 10705/1985, S 734).

Eine Auslegung des §15 Abs2 OGHG in dem Sinn, daß er die Einsichtsmöglichkeit für den dort umschriebenen Personenkreis ausdrücklich statuiere, ohne damit alle anderen Personen davon auszuschließen, erscheint schon deshalb nicht vertretbar, weil bei einem solchen Normverständnis diese Vorschrift schlechthin überflüssig wäre und dem Gesetzgeber nicht zugemutet werden kann, er habe eine überflüssige Vorschrift erlassen wollen (vgl. in diesem Zusammenhang etwa VfSlg. 7338/1974, S 381; ferner VwSlg. 9370 A/1977).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum rechtsstaatlichen Prinzip (s. zuletzt VfSlg. 11196/1986; ferner etwa VfSlg. 8279/1978 mit Bezugnahme auf VfSlg. 2929/1955; s. auch VfSlg. 2455/1952) gipfelt dessen Sinn darin, daß alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein müssen und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen Gewähr dafür bietet, daß nur solche Akte in ihrer rechtlichen Existenz als dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe erlassen wurden. Immanent ist dem rechtsstaatlichen Prinzip insbesondere auch, daß die unabdingbar geforderten Rechtsschutzeinrichtungen ihrer Zweckbestimmung nach ein bestimmtes Maß an Effizienz für den Rechtsschutzwerber aufweisen müssen (vgl. VfSlg. 11196/1986, S 909 f.).

Der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kommt durch Art92 Abs1 B-VG im Interesse der Wahrung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit begründeter Funktion als oberster Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen für die Auslegung der Normen des Zivil- und des Strafrechts (einschließlich der betreffenden Verfahrensvorschriften) eine besondere Bedeutung zu. Die Judikatur des Obersten Gerichtshofes hat demnach eine über den jeweiligen Einzelfall hinausreichende wesentliche Funktion für die Rechtskonkretisierung, die Sinnermittlung von Rechtsnormen und den Rechtsschutz.

Nach den Vorschriften des §502 Abs1, 528 Abs1 ZPO, 14 Abs1 AußStrG, 46 Abs1 Z1 ASGG, alle idF der Erweiterten Wertgrenzen-Novelle 1989, BGBl. 343 - sie lassen zugleich erkennen, welche Bedeutung die Rechtsordnung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung beimißt - setzt die Beurteilung der Zulässigkeit der Revision bzw. des Revisionsrekurses die Kenntnis der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes voraus. Es liegt auf der Hand, daß in Fällen dieser Art eine verläßliche Beurteilung der Zulässigkeit des in Betracht kommenden Rechtsmittels nur bei Möglichkeit der Kenntnisnahme der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (und zwar nicht allein der amtlich veröffentlichten) besteht.

Die rechtliche Sicherung dieser Möglichkeit ist daher im Interesse der durch das Rechtsstaatsprinzip geforderten Effizienz des Rechtsschutzes verfassungsrechtlich geboten.

Aus diesen Gründen erweist sich die Vorschrift des §15 Abs2 OGHG wegen des Widerspruches zum rechtsstaatlichen Prinzip als verfassungswidrig.

Da §15 Abs2 OGHG die Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes an Personen, die nicht dem dort umschriebenen Personenkreis angehören, verwehrt, ist mit der Aufhebung dieser Bestimmung die darin normierte Beschränkung der Einsichtgewährung auf diesen Personenkreis beseitigt und somit das Hindernis weggefallen, das - unbeschadet der allenfalls durch sonstige Rechtsvorschriften gezogenen Grenzen - der von Verfassungs wegen gebotenen Zugänglichkeit der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes entgegensteht.

Der zu G315/89 protokollierte Antrag, "den §15 Abs1 und/oder 2 und/oder den §23 Abs3" des Bundesgesetzes über den Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig aufzuheben, wird zurückgewiesen.

Dem Antragsteller, der mit Schreiben vom 24. November 1989 an den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes das Ersuchen um Zusendung einer Ausfertigung einer näher bezeichneten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gerichtet hatte, stand ein Weg offen, dessen Beschreitung zumutbar war und der die Herantragung der vom Antragsteller vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken an den Verfassungsgerichtshof ermöglicht hätte.

Entscheidungstexte

  • G 315/89,G 67/90
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 28.06.1990 G 315/89,G 67/90

Schlagworte

Gerichtshof Oberster, Grundprinzipien der Verfassung, Rechtsstaatsprinzip, Rechtssicherheit, Rechtsprechung OGH, Einsichtnahme in Rechtsprechung OGH, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Individualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:G315.1989

Dokumentnummer

JFR_10099372_89G00315_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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