RS Vfgh 1990/12/15 G33/89, G34/89, G35/89, G36/89, G37/89, G38/89, G46/89, G47/89, G48/89, G49/89, G

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 15.12.1990
beobachten
merken

Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
ASVG §94
ASVG §253a
ASVG §253b

Leitsatz

Aufhebung bzw Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Regelung über Ruhensbestimmungen für Pensionen im Sozialversicherungsrecht wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz; Gleichheitswidrigkeit der Gesamtregelung aufgrund der Unvereinbarkeit von nahezu drei Viertel der Ruhensfälle (Witwen- und Witwerpensionen) mit dem Gleichheitsgebot; Aufgabe der bisherigen Erwerbstätigkeit bei Anfall einer Witwen- oder Witwerpension nicht zumutbar; geringe arbeitsmarktpolitische Effektivität der aufgehobenen Ruhensbestimmung; Einsparungen im Haushalt der Pensionsversicherungsträger und somit mittelbar im Bundeshaushalt gering

Rechtssatz

§94 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes - ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, in den Fassungen von der 31. Novelle, BGBl. Nr. 775/1974, bis zur 48. Novelle, BGBl. Nr. 642/1989, war verfassungswidrig.

§94 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes - ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung der 49. Novelle, BGBl. Nr. 294/1990, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. März 1991 in Kraft.

Eine Ruhensbestimmung der gegebenen Art ist unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes im grundsätzlichen verfassungsrechtlich unbedenklich (siehe VfSlg. 5241/1966).

Der Gerichtshof hat sich im Antragsverfahren auf Gesetzesprüfung auf die Erörterung der aufgeworfenen Bedenken zu beschränken (zB VfSlg. 5636/1967, S. 673, und 9911/1983, S. 674, mit weiteren Judikaturhinweisen). Dies bedeutet, daß der Verfassungsgerichtshof, wenn er sich mit den inhaltlich grundlegend neuen Argumentationslinien des antragstellenden Obersten Gerichtshofs befaßt, trotz des Festhaltens an den prinzipiellen Aussagen seiner bisherigen Rechtsprechung (siehe VfSlg. 5241/1966) zu einem von dieser abweichenden Ergebnis gelangen kann. Im gegebenen Zusammenhang ist auch festzuhalten, daß sich der Verfassungsgerichtshof im Rahmen dieses Gesetzesprüfungsverfahrens ausschließlich mit der angefochtenen Ruhensbestimmung des §94 ASVG (welche die Pensionen der geminderten Arbeitsfähigkeit, die Alterspensionen und die Witwen(Witwer)pensionen betrifft) zu befassen hatte; nicht aber hatte er auf die verwandten Rechtseinrichtungen im §253a Abs2 und §253b Abs2 ASVG einzugehen, welche sich auf die vorzeitigen Alterspensionen bei Arbeitslosigkeit sowie bei langer Versicherungsdauer beziehen und regelmäßig den Wegfall dieser Pensionen im Fall vorsehen, daß der Versicherte eine unselbständige oder selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt.

Nahezu drei Viertel der Ruhensfälle entfallen auf Witwen(Witwer)pensionen (und bloß das restliche Viertel auf Eigenpensionen). Es ist bei abgeleiteten Pensionen begrifflich ausgeschlossen, die für das Ruhen der Pension maßgeblichen Bestimmungen als Modifikation des nur für Eigenpensionen relevanten Grundgedankens des Gesetzes anzusehen, daß Pensionsleistungen nur gebühren, wenn die die Pensionsversicherungspflicht begründende Tätigkeit aufgegeben wird (oder nicht ausgeübt werden kann).

Die vorrangige arbeitsmarktpolitische Zielsetzung (bei der Schaffung von Ruhensbestimmungen) besteht in der Abstandnahme des Pensionsbeziehers von einer Erwerbstätigkeit nach dem Anfall der Pension, was zu einer Besserung der Situation am Arbeitsmarkt führen soll. Die Einsparung finanzieller Mittel, welche zur Arbeitsplatzschaffung eingesetzt werden können, ist dagegen bloß ein sekundärer Effekt, welcher daraus resultiert, daß der Pensionist entgegen der vom Gesetz angedrohten finanziellen Sanktion eine Erwerbstätigkeit aufnimmt und deswegen einen Teil der ihm gebührenden Pension nicht erhält. Aus diesem Zusammenhang der beiden Aspekte arbeitsmarktpolitischer Zielsetzung folgt (bei gebotener Durchschnittsbetrachtung), daß das Eintreten einer Einsparung im Haushalt des Pensionsversicherungsträgers und - in weiterer Folge - im Bundeshaushalt nur dort zur sachlichen Rechtfertigung einer Ruhensbestimmung herangezogen werden kann, wo das Absehen von einer Erwerbstätigkeit durch den Pensionsbezieher arbeitsmarktpolitisch wirksam und ihm zumutbar ist.

Mit Recht verneint nun der Oberste Gerichtshof die arbeitsmarktpolitische Wirksamkeit der Ruhensbestimmungen bei Witwen(Witwer)pensionen mit dem unmittelbar einsichtigen und offenkundig auch aus der Erfahrung seiner Rechtsprechung bestätigten Argument, daß es sich bei den wegen einer Erwerbstätigkeit ruhenden Witwen(Witwer)pensionen naturgemäß in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle um solche handelt, in denen die Empfänger der Leistung schon bisher (neben ihren verstorbenen Ehegatten) berufstätig waren. Bei einer solchen Lage bewirken die Ruhensbestimmungen wohl kaum das Freiwerden von Arbeitsplätzen und es ist dem Pensionsberechtigten im Hinblick sowohl auf die Beibehaltung seines Lebensstandards als auch die Wahrung seiner Anwartschaft auf eine Eigenpension regelmäßig unzumutbar, die - häufig schon durch lange Zeit vor der Verwitwung ausgeübte - Erwerbstätigkeit plötzlich aufzugeben.

Der Verfassungsgerichtshof ist der Meinung, daß die Ruhensbestimmungen des §94 ASVG als eine einheitliche, auf den gesamten Arbeitsmarkt bezogene Rechtseinrichtung gesehen und gewertet werden müssen. Erweisen sie sich in bezug auf die nahezu drei Viertel der Ruhensfälle ausmachenden Fälle des Ruhens der Witwen(Witwer)pension als mit dem Gleichheitsgebot nicht vereinbar, so ist schon daraus zwingend die Gleichheitswidrigkeit der Gesamtregelung abzuleiten.

Der Pensionsanspruch soll vom Aufgeben der bisherigen Erwerbstätigkeit abhängen (siehe auch VfSlg. 5241/1966). Die zu dieser Voraussetzung des Pensionsanfalls hinzutretenden Ruhensbestimmungen entfalten jedoch weitergehende Wirkungen. Sie sollen verhindern, daß der Pensionist Nebentätigkeiten ausübt, die einer Fortsetzung der bisherigen Erwerbstätigkeit nicht gleichkommen, ja vielfach schon neben der bisherigen Erwerbstätigkeit ausgeübt wurden.

Die arbeitsmarktpolitische Effektivität (einschließlich der Ersparnis im Haushalt der Pensionsversicherungsträger und - in weiterer Folge - im Bundeshaushalt) muß als gering angesehen werden. Dies fällt besonders ins Gewicht, weil einerseits (entsprechend dem gewonnenen Teilergebnis) das Ruhen von Witwen(Witwer)pensionen bei der weiteren Beurteilung außer Betracht zu bleiben hat und andererseits der relative Anteil ruhender Alterspensionen an der Gesamtzahl dieser Pensionen gering ist.

Pensionisten üben (nach dem Aufgeben ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit) häufig Beschäftigungen aus, die von anderen Arbeitskräften nicht ohne weiters übernommen werden können (zB besonders qualifizierte Angestellte, die im Ruhestand als Konsulenten weiter tätig sind, typische Nebentätigkeiten, zB Nachtportier, Stundenbuchhalter, Billeteur, Halbtagskräfte beim Botendienst).

Daß Pensionisten dann, wenn sie eine selbständige Tätigkeit ausüben, überhaupt niemandem einen Arbeitsplatz wegnehmen (sondern daß diese Pensionisten vielmehr häufig durch ihre Tätigkeit sogar zusätzliche Arbeitsplätze schaffen), wird durch die beigeschafften statistischen Unterlagen erhärtet.

Der Vollzug von Ruhensbestimmungen bedingt erhebliche Mehrausgaben; den Einsparungen steht ein Kaufkraftverlust dieser Versichertengruppe sowie der Entfall von Sozialversicherungsbeiträgen und von Abgaben (zB von Einkommensteuer) gegenüber. Ruhensvorschriften führen ferner häufig zu einem Ausweichen des Pensionisten in nichtgemeldete Erwerbstätigkeit, was nicht nur schwer kontrollierbar ist, sondern auch einen weiteren Entfall von Einnahmen des Staates bedingt. Das Eintreten einer Haushaltsersparnis kann nur dort zur sachlichen Rechtfertigung einer Ruhensbestimmung herangezogen werden, wo das Absehen von einer Erwerbstätigkeit durch den Pensionsbezieher arbeitsmarktpolitisch wirksam und ihm zumutbar ist.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei allerdings betont, daß sich aus dem vorliegenden Erkenntnis nichts gegen das in der Vorjudikatur (VfSlg. 5241/1966) hervorgehobene Erfordernis ergibt, als Voraussetzung für den Anfall der Alterspension die die Pensionsversicherungspflicht begründende bisherige Erwerbstätigkeit aufzugeben.

Die Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit können als der gleichsam verbliebene Rest die Rechtseinrichtung der Ruhensbestimmungen nicht tragen, und zwar weder im Hinblick auf die Relation zur Gesamtzahl der ruhenden Pensionen noch in Ansehung des Verhältnisses zur Zahl der Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit insgesamt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Ruhensbestimmungen, VfGH / Prüfungsumfang, Bindung (des VfGH an Bedenken im Normenprüfungsantrag)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:G33.1989

Dokumentnummer

JFR_10098785_89G00033_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten