RS Vfgh 1994/10/1 V65/93, V9/94

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Veröffentlicht am 01.10.1994
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Individualantrag
PflanzenschutzmittelverbotsV §4 Abs2
PflanzenschutzmittelG §10
ChemikalienG §14 Abs1
VfGG §57 Abs1 zweiter Satz

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung der PflanzenschutzmittelverbotsV betreffend das Verbot der Herstellung, Inverkehrsetzung und Verwendung von Atrazin oder atrazinhältigen Zubereitungen mangels Zuständigkeit des Bundesministers für Umwelt, Jugend und Familie zur Erlassung eines generellen Verbots von nach dem PflanzenschutzmittelG weiter zugelassenen Pflanzenschutzmitteln; Derogation der allgemeinen Verbotsermächtigung des ChemikalienG durch die speziellere gesetzliche Ermächtigung des PflanzenschutzmittelG zur Aufhebung der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels durch den Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft

Rechtssatz

Zurückweisung der zu V65/93 gestellten Individualanträge auf Aufhebung des §4 Abs2 PflanzenschutzmittelverbotsV.

Die angefochtene Bestimmung verbietet die Herstellung, das Inverkehrsetzen und die Verwendung von Atrazin und von Zubereitungen, die Atrazin enthalten, ab 01.01.94. Der Antrag zu V65/93 wurde jedoch am 28.07.93 beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Zum Zeitpunkt der Antragstellung waren die antragstellenden Gesellschaften sohin (noch) nicht aktuell betroffen.

Bei den von den antragstellenden Gesellschaften ins Treffen geführten, vorgeblich bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bestehenden negativen Wirkungen des Verbots handelt es sich um faktische, wirtschaftliche Wirkungen, die keinen Eingriff im Sinne des Art139 Abs1 letzter Satz B-VG begründen.

Zurückweisung der zu V65/93 gestellten Eventualanträge auf Aufhebung des §4 Abs2 erster Satz, des §4 Abs2 und §4 Abs1 letzter Satz sowie des §4 Abs2, §4 Abs1 letzter Satz und §4 Abs3 der PflanzenschutzmittelverbotsV.

Da der Verfassungsgerichtshof die lediglich in eventu vorgetragene Meinung der antragstellenden Gesellschaften nicht teilt, daß die beiden Sätze des §4 Abs2 der PflanzenschutzmittelverbotsV trennbar sind, oder daß die Bestimmung des §4 Abs2 in einem untrennbaren Zusammenhang mit den anderen, in den Eventualanträgen mitangefochtenen Bestimmungen steht, selbständige rechtliche Bedenken gegen die in den Eventualanträgen über §4 Abs2 der Verordnung hinausgehenden Vorschriften aber nicht vorgetragen wurden, war der Antrag auf Aufhebung dieser Bestimmungen schon gemäß §57 Abs1 zweiter Satz VfGG zurückzuweisen, weil insoweit keine "gegen die Gesetzmäßigkeit der Verordnung sprechenden Bedenken im einzelnen" dargelegt wurden.

Zulässigkeit des zu V9/94 gestellten Individualantrags auf Aufhebung des §4 Abs2 PflanzenschutzmittelverbotsV.

§4 Abs2 der PflanzenschutzmittelverbotsV greift kraft seiner ab 01.01.94 geltenden Anordnung, Atrazin und atrazinhältige Zubereitungen nicht (mehr) herzustellen, in Verkehr zu setzen oder zu verwenden, ab dem genannten Zeitpunkt aktuell in die Rechtssphäre der antragstellenden Gesellschaften ein, weil diese auf Grund entsprechender Gewerbeberechtigungen und pflanzenschutzrechtlicher Zulassungsbescheide atrazinhältige Produkte erzeugen und vertreiben.

Es ist nicht zumutbar, durch Übertretung der Verordnungsbestimmung ein Strafverfahren zu provozieren, um die Frage der allfälligen Gesetzwidrigkeit an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen.

Die Möglichkeit der Erwirkung eines im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Feststellungsbescheides beseitigt die Zulässigkeit eines Individualantrages dann nicht, wenn - wie hier - der einzige Zweck des Feststellungsbescheides darin bestehen würde, damit ein Mittel zu gewinnen, um die gegen die Gesetzmäßigkeit der Verordnung bestehenden Bedenken an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen.

§4 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Umwelt, Jugend und Familie über ein Verbot bestimmter gefährlicher Stoffe in Pflanzenschutzmitteln, BGBl 97/1992, (PflanzenschutzmittelverbotsV) wird als gesetzwidrig aufgehoben.

§4 Abs2 PflanzenschutzmittelverbotsV ist schon deswegen aufzuheben, weil das Verbot, ab 01.01.94 Atrazin und Zubereitungen, die Atrazin enthalten, weder herzustellen noch in Verkehr zu setzen oder zu verwenden, nicht gemäß §14 Abs1 ChemikalienG vom Bundesminister für Umwelt, Jugend und Familie (sei es auch im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft gemäß §63 Abs1 Z2 ChemikalienG) ausgesprochen werden durfte.

Wenn und insoweit §14 Abs1 ChemikalienG und das PflanzenschutzmittelG voraussetzungs- und inhaltsgleiche Ermächtigungen zum Verbot von Pflanzenschutzmitteln enthalten, ist davon auszugehen, daß nach den allgemeinen Derogationsregeln, die der gesamten Rechtsordnung implizit zugrundeliegen, im Verhältnis der allgemeinen, für alle gefährlichen Stoffe, Zubereitungen und Fertigwaren geltenden Verordnungsermächtigung des §14 Abs1 ChemikalienG und einer entsprechenden Bestimmung des PflanzenschutzmittelG dieses als späteres und überdies speziell nur für Pflanzenschutzmittel geltendes Gesetz jenem vorgeht. Schon wegen der notwendigen verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen verbietet sich auch die Annahme zweier nebeneinander und gleichzeitig geltender inhalts- und voraussetzungsgleicher gesetzlicher Verbotsermächtigungen an zwei verschiedene Verwaltungsorgane, weil derartige miteinander konkurrierende Zuständigkeitsbestimmungen das verfassungsrechtliche Gebot strikter Zuständigkeitsgrenzen, wie es sowohl dem Art18 Abs1 und Abs2 B-VG als auch Art83 Abs2 B-VG zu entnehmen ist, zuwiderlaufen. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß dem jeweils anderen Verwaltungsorgan eine Einvernehmenskompetenz bei Erlassung der Verbotsverordnung durch das dafür vom Gesetzgeber für zuständig erklärte Verwaltungsorgan eingeräumt wurde.

Der Rechtsanwender hat davon auszugehen, daß bei zwei in ihrem sachlichen Geltungsbereich einander teilweise überschneidenden Gesetzen, wie dem ChemikalienG und dem PflanzenschutzmittelG, die spätere und speziellere Gesetzesbestimmung im Umfang ihres zeitlichen und sachlichen Geltungsbereiches der früheren und allgemeineren Gesetzesvorschrift derogiert.

Angesichts der speziellen Vorschriften des PflanzenschutzmittelG über die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln sowie insbesondere über die Aufhebung der Zulassung gemäß §10 PflanzenschutzmittelG, die an dieselben tatbestandlichen Voraussetzungen wie eine Verordnung nach §14 Abs1 ChemikalienG gebunden ist, ist es ausgeschlossen, daß die mit der Zulassung von Stoffen und Zubereitungen als Pflanzenschutzmittel verbundene Erlaubnis zum Inverkehrbringen des Pflanzenschutzmittels durch ein Verbot nach §14 Abs1 ChemikalienG widerrufen wird. Insoweit derogieren vielmehr die speziellen gesetzlichen Ermächtigungen, für die zum Verkehr zugelassenen Pflanzenschutzmittel die Zulassung durch Bescheid oder durch Verordnung aufzuheben, "wenn dies nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Vermeidung von Gefahren für die Gesundheit von Menschen oder für die Umwelt erforderlich ist", gemäß §10 Abs1 und Abs3 PflanzenschutzmittelG der allgemeinen Verbotsermächtigung für gefährliche Stoffe nach §14 Abs1 ChemikalienG, die an die gleichen Voraussetzungen geknüpft ist.

Ein generelles Verbot bestimmter, weiter zugelassener Pflanzenschutzmittel auszusprechen, ist nicht der Bundesminister für Umwelt, Jugend und Familie gemäß §14 Abs1 ChemikalienG, sondern ausschließlich der Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft durch Aufhebung der Zulassung des betreffenden Pflanzenschutzmittels gemäß §10 Abs1 oder Abs3 PflanzenschutzmittelG (unter Wahrung der Einvernehmenskompetenz gemäß §38 Abs1 Z2 und Z3 PflanzenschutzmittelG) zuständig.

Entscheidungstexte

  • V 65/93,V 9/94
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 01.10.1994 V 65/93,V 9/94

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, VfGH / Formerfordernisse, Pflanzenschutz, Chemikalien, Derogation, lex specialis, Auslegung verfassungskonforme, Verordnungserlassung, lex posterior, Behördenzuständigkeit, Determinierungsgebot, Einvernehmen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:V65.1993

Dokumentnummer

JFR_10058999_93V00065_2_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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