RS Vfgh 1995/3/9 G181/94

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 09.03.1995
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Index

22 Zivilprozeß, außerstreitiges Verfahren
22/01 Jurisdiktionsnorm

Norm

B-VG Art87 Abs1
B-VG Art94
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
ZPO §539 Abs2

Leitsatz

Keine Aufhebung der Regelung der Entscheidung des Zivilrichters über eine Wiederaufnahmeklage erst nach Beendigung des Strafverfahrens in der ZPO; keine verfassungswidrige Bindung des Zivilrichters; kein Verstoß gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit der Gerichte und der Gewaltentrennung

Rechtssatz

Der Antrag auf Aufhebung der ersten drei Sätze des §539 Abs2 ZPO ist nur in bezug auf die Wortfolge "oder wegen Mangels an Beweisen" zulässig.

Im konkreten Fall ist es aus Mangel an Beweisen nicht zu einer Verurteilung gekommen. Die Vorschrift, gegen deren Anwendung das antragstellende Gericht Bedenken hat, kann also nur mit jenem Teil maßgeblich sein, der das Ausbleiben einer Verurteilung wegen Mangels an Beweisen betrifft. Da dieser Teil in Gestalt der Wortfolge "oder wegen Mangels an Beweisen" ersichtlich ohne wesentliche Änderung des Sinnes der verbleibenden Teile aus dem Gesetzestext entfernt werden könnte und es offenkundig ausgeschlossen ist, daß das Gericht auch die anderen Teile der angegriffenen Bestimmung anzuwenden hätte, erweist sich nur diese Wortfolge als präjudiziell und der Antrag im übrigen als unzulässig.

Kann der Antrag nur zur Entfernung der genannten Wortfolge führen, behält der restliche Teil der ersten drei Sätze des §539 Abs2 ZPO weiterhin seine Bedeutung.

Keine Aufhebung der Regelung der Entscheidung des Zivilrichters über eine Wiederaufnahmeklage erst nach Beendigung des Strafverfahrens (hier: keine Verurteilung aus Mangel an Beweisen) in §539 Abs2 ZPO; keine verfassungswidrige Bindung des Zivilrichters.

Der Zweck des §539 ZPO ist nicht die Vermeidung einer "Überprüfung des Strafprozesses durch den Civilrichter" - wie das bei §268 ZPO der Fall war (vgl. VfSlg. 12504/1990) -, sondern die Sicherstellung des Vorranges der zuständigen Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden.

Es geht hier um die selbständige verfahrensrechtliche Frage, ob die Streitteile trotz rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens über ihre Sache neuerlich gehört werden sollen und ihnen abermals Rechtsschutz zu gewähren ist. Diese Frage ist - wenn auch nicht nur, so doch auch ganz wesentlich - eine Sache des den Rechtsschutz gewährenden Staates. Wenn dieser im Widerstreit zwischen Rechtskraft und Rechtsrichtigkeit die von einer Partei angestrebte Wiederaufnahme eines Verfahrens (soweit sie hier in Rede steht) nur wegen begangener Straftaten vorsieht und dafür Sorge trägt, daß der Vorwurf der Begehung solcher Straftaten durch die dafür vorgesehenen Organe der Strafrechtspflege mit Rückwirkung auf das Wiederaufnahmeverfahren geprüft wird, so folgt das aus dem Umstand, daß Gegenstand dieses Zwischenverfahrens die Rechtspflege selbst ist, vergleichsweise losgelöst vom konkreten Rechtsstreit und den Ansprüchen und Verpflichtungen der Streitteile.

Angesichts dieser begrenzten verfahrensrechtlichen Aufgabe und der strikten Beschränkung auf strafgerichtlich zu verfolgende Tatbestände lassen sich die zu §268 ZPO angestellten Erwägungen auf §539 ZPO schlechthin nicht übertragen. Die angegriffene Regelung verstößt nicht gegen Art6 EMRK (vgl. im Ergebnis auch EKMR vom 13.07.89, ÖJZ 1990, 216 E 6 mwN).

Die zur Prüfung gestellte Regelung verstößt auch nicht gegen Art87 Abs1 und Art94 B-VG.

Weder kann die Maßgeblichkeit der Entscheidung des zuständigen Strafgerichtes über die Frage der Begehung einer die Wiederaufnahme des Zivilprozesses rechtfertigenden strafbaren Handlung gegen das Gebot der Unabhängigkeit der Gerichte noch kann die gleichartige Auswirkung der einschlägigen Beschlüsse der in §539 Abs2 Satz 4 ZPO genannten kraft des Anklageprinzips den Strafgerichten vorgeschalteten staatsanwaltschaftlichen Behörden gegen den Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung verstoßen. Es ist Sache des Gesetzgebers festzulegen, ob und unter welchen Umständen ein Zivilgericht das Vorliegen einer als Wiederaufnahmsgrund in Betracht kommenden strafbaren Handlung als Vorfrage selbständig beurteilen darf.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Zivilprozeß, Wiederaufnahme, Bindung (der Gerichte), Gewaltentrennung, Gericht, richterliche Garantien, Gerichtsbarkeit Trennung von der Verwaltung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G181.1994

Dokumentnummer

JFR_10049691_94G00181_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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