TE Vfgh Erkenntnis 2005/3/3 B1414/04

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Veröffentlicht am 03.03.2005
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Index

60 Arbeitsrecht
60/03 Kollektives Arbeitsrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
ArbVG §97 Abs1 Z2, §144, §146 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Genehmigung einer nachträglich widerrufenen Betriebsvereinbarung betreffend die Gleitzeit in einem Betrieb mangels ausreichender Begründung des Bescheides durch eine Schlichtungsstelle; keine Interessenabwägung im Sinne des Arbeitsverfassungsrechtes

Spruch

Der beschwerdeführende Betriebsrat ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, dem beschwerdeführenden Betriebsrat zu Handen seines Vertreters die mit 2.340 Euro bestimmten Kosten des Verfahrens bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Über Antrag der P GmbH erließ die nach §144 Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) gebildete Schlichtungsstelle beim Landesgericht Ried im Innkreis am 25. August 2004 eine Betriebsvereinbarung betreffend Gleitarbeitszeit für Arbeiter bei durchlaufendem Schichtbetrieb mit einer Geltungsdauer vom 1. Oktober 2004 bis 31. März 2006. Dieser Entscheidung war ein bedingter Vergleich der Streitteile vorausgegangen, der jedoch mit Schriftsatz vom 9. September 2004 vom Arbeiterbetriebsrat wirksam widerrufen wurde. Die für diesen Fall in Aussicht genommene Entscheidung - sie entspricht inhaltlich dem widerrufenen Vergleich - wurde am 5. Oktober 2004 zugestellt.

1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde des Arbeiterbetriebsrates, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit vor dem Gesetz gerügt wird. Im Verfahren habe keine Erörterung von Sachthemen stattgefunden, es seien keine Beweise über strittige Punkte aufgenommen worden, ein am 23. Juli 2004 erstatteter Gegenvorschlag werde gänzlich verschwiegen und das mit dem Widerruf des Vergleichs verbunden gewesene Gegenangebot sei unbeachtet geblieben, die Behörde gehe nur auf einzelne Kritikpunkte ein, ohne den Problemlösungsvorschlag des Antragsgegners auch nur zur Kenntnis zu nehmen, und habe ihm so das Gehör im Wesentlichen verweigert.

Es fehlten auch Feststellungen zur Frage betrieblicher Gegebenheiten, aus welchen die Notwendigkeit oder auch nur Zweckmäßigkeit der bescheidmäßig verfügten Arbeitszeitordnung mit den strittigen Klauseln hervorgehe, auf das über einzelne Teile erzielte Einvernehmen werde nicht eingegangen, vielmehr lasse die Entscheidung eine volle und völlig einseitige Identifizierung mit der Arbeitgeberseite erkennen. Deshalb sei auch - ohne Erörterung - fälschlich angenommen worden, dass eine frühere Betriebsvereinbarung ("Lengauer Modell 2000") nicht mehr in Geltung sei, die eine Nachtarbeit vermieden habe.

Diese willkürliche Vorgangsweise führe auch zu gehäufter materiell-rechtlicher Gesetzwidrigkeit:

"Der angefochtene Bescheid verstösst klar gegen §4b Abs1 AZG. Schon die Präambel de[s] mit ihm festgelegten Betriebsvereinbarungstextes sieht vor, dass die Arbeitnehmer verpflichtet sind, Schwankungen der täglichen Aufträge von +/- 20 % verbindlich abzuarbeiten. Gemäss §6 Abs4 dieses Betriebsvereinbarungstextes muss das Gleiten der Arbeitszeit so gestaltet werden, dass die Tageskapazitäten des Betriebssystems RAP, also der vom Arbeitgeber vorgegebenen Arbeitsmenge, gewährleistet wird. Es ist eklatant gesetzwidrig, die Anordnung von kapazitätsorientierter variabler Arbeitszeit (KA-POVAZ) auf die gesetzliche Ermächtigung zur Vereinbarung gleitender Arbeitszeit zu stützen, eine solche Anordnung ist vielmehr verboten (§19c AZG, DRdA 2002/48 = 8 ObA 277/01w).

Dass die Nachtarbeit angeordnet wird ... beruht auf keinerlei auch nur vom Arbeitgeber behaupteten Erfordernis und stellt sich daher ebenfalls als gänzlich gesetzwidrig dar.

Gleiches gilt für die Anordnung von Samstagarbeit durch einseitige Anordnung des Arbeitgebers und Zulassung von Sonntagarbeit durch Individualvereinbarung entgegen den Bestimmungen des Arbeitsruhegesetzes (§6 Abs5 des Betriebsvereinbarungstextes).

Der Bescheid enthält keinerlei Interessenabwägung iSd §146 Abs2 ArbVG. Nach dem gesamten Bescheidinhalt muss davon ausgegangen werden, dass die belangte Behörde eine konkrete Erwägung von Arbeitnehmerinteressen überhaupt nicht in seine [sic!] Entscheidungsfindung hat einfliessen lassen. Die blosse Floskel 'Abwägung der Interessen des Betriebes einerseits und der Belegschaft andererseits' ist bedeutungslos, wenn und weil mit keinem Wort angegeben wird, welche Interessen von Arbeitnehmern inwieweit berücksichtigt worden sein sollen."

2. Die Schlichtungsstelle hat die Akten vorgelegt, auf eine Gegenschrift aber verzichtet.

Die beteiligte P GmbH räumt ein, dass das "Lengauer Modell 2000" (wie eine weitere Betriebsvereinbarung aus 2001) noch gilt; es betreffe aber nur rund 15 % der Arbeiter. Der Betriebsrat unterstütze dieses Modell mit zwei zehnstündigen Schichten, weil die mögliche Gesundheitsbeeinträchtigung durch eine höhere Entlohnung abgegolten

werde. Das neue Modell reduziere die Tagesarbeitszeit auf acht Stunden; es falle keine Wochenendarbeit mehr an, dafür müsse in drei Schichten 24 Stunden gearbeitet werden; die überwältigende Mehrheit

der Arbeiter akzeptiere die neue Gleitzeit-Betriebsvereinbarung und erachte sie sogar als zweckmäßiger. Die Behörde habe sich zu Recht an

einem sozialpartnerschaftlichen Vergleich orientiert und dies auch ohne Widerspruch des beschwerdeführenden Betriebsrates angekündigt.

Die infolge verspäteter Zustellung eingetretene Rückwirkung habe sich durch einvernehmlichen Beginn mit dem Vollzug erst am 1. November 2004 nicht ausgewirkt.

In einer weiteren Stellungnahme tritt die GmbH den Vorwürfen gehäufter materieller Gesetzwidrigkeit im Einzelnen entgegen.

II. Die Beschwerde ist zulässig, da gegen die Entscheidung der Schlichtungsstelle kein Rechtsmittel zulässig ist (§146 Abs2 letzter Satz ArbVG); auch die übrigen Prozessvoraussetzungen sind gegeben.

Sie ist auch begründet.

1. Nach §97 Abs1 Z2 ArbVG können Betriebsvereinbarungen zwischen Betriebsinhaber und Betriebsrat unter anderem zur generellen Festsetzung des Beginnes und Endes der täglichen Arbeitszeit, der Dauer und Lage der Arbeitspausen und der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage abgeschlossen werden. Kommt in den im Abs1 Z1 bis 6 und 6a bezeichneten Angelegenheiten eine Einigung über den Abschluss, die Abänderung oder Aufhebung einer solchen Betriebsvereinbarung nicht zustande, so entscheidet auf Antrag eines der Streitteile die Schlichtungsstelle (§97 Abs2). Die am Sitz des mit Arbeits- und Sozialrechtssachen in erster Instanz befassten Gerichtshof zu errichtende Schlichtungsstelle (§144 ArbVG) hat die Entscheidung nach §146 Abs2 ArbVG

"möglichst rasch innerhalb der durch die Anträge der Parteien bestimmten Grenzen und unter Abwägung der Interessen des Betriebes einerseits und der Belegschaft andererseits zu fällen. Sie ist dabei an das übereinstimmende Vorbringen und die übereinstimmenden Anträge der Streitteile gebunden. ..."

2. Der angefochtene Bescheid, dessen Spruch die erlassene Betriebsvereinbarung enthält, weist auf den gestellten Antrag, zwei außerhalb des Schlichtungsverfahrens geführte "Verhandlungsrunden" und die Einwendungen des Antragsgegners hin, trifft sodann Feststellungen über die bisherigen Arbeitszeitvereinbarungen, deren groben Inhalt und die jeweilige Geltungsdauer, und beendet diese Feststellungen mit folgender Aussage:

"Im Werk Lengau der P... Gesellschaft m.b.H. wird seit dem Jahr 2001 zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und Verbesserung des Lieferservice das Produktionskonzept RAP umgesetzt. Hiebei handelt es sich um eine kundenorientierte Auftragsabwicklung. Mit diesem Konzept RAP (Rapid Process) wird eine Vernetzung von Arbeitszeit, Gruppenarbeit und Prämienentlohnung angestrebt.

Diese Feststellungen ergeben sich aus den von den Parteien vorgelegten Urkunden."

An sie schließt unter der Rubrik "Rechtliche Beurteilung" ein Hinweis auf §97 ArbVG und dann die folgende Begründung an:

"Die Voraussetzungen liegen im gegenständlichen Fall vor.

Die Schlichtungsstelle hat ihre Entscheidung innerhalb der durch die Parteienanträge bestimmten Grenzen und unter Abwägung der Interessen des Betriebes einerseits und der Belegschaft andererseits zu fällen. Die gegenständliche Betriebsvereinbarung entspricht diesen Grundsätzen. Entgegen der Ansicht des Arbeiterbetriebsrates der P... Gesellschaft m.b.H. verstößt diese Betriebsvereinbarung auch nicht gegen die Bestimmungen des Arbeiterkollektivvertrages für die eisen- und metallerzeugende und -verarbeitende Industrie (insbesondere gegen Abschnitt VI, Punkt 19a litd bzw. Punkt 21). Auch die im §4b des Arbeitszeitgesetzes normierten Voraussetzungen und Eckpunkte der gleitenden Arbeitszeit sind durch die gegenständliche Betriebsvereinbarung nicht verletzt. Dabei wird allerdings nicht |bersehen, dass es möglicherweise einer gewissen Anlaufzeit bedarf, um vor allem im Schichtbetrieb durch entsprechende Koordination die Selbstbestimmung über Beginn und Ende der täglichen Normalarbeitszeit zu sichern. Diese möglicherweise vorübergehende Einschränkung der Gleitzeitautonomie wird aber bei weitem durch die Interessen des Unternehmens überwogen.

Von besonderer Bedeutung ist schließlich noch der Umstand, dass für den gesamten Standort Lengau ein einheitliches Arbeitszeitmodell besteht.

Unbeachtlich in diesem Zusammenhang ist das von der Antragsgegnerin nach der Verhandlung vom 25.8.2004 eingebrachte verbindliche Anbot. Bereits in dieser Verhandlung vom 25.8.2004 wurde beschlossen, dass für den Fall des Widerrufes des Vergleiches vom 25.8.2004 die gegenständliche Entscheidung ergeht."

3. Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz wird nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes unter anderem durch ein willkürliches Verhalten der Behörde verletzt. Ein solches liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 16.876/2003 mwN).

Das ArbVG enthält selbst keine näheren Regelungen über den Inhalt der Entscheidung, womit eine nicht zustande gekommene Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeiteinteilung ersetzt wird. Im Rahmen der durch die Anträge der Parteien bestimmten Grenzen und in Bindung an deren übereinstimmendes Vorbringen und übereinstimmende Anträge bilden zwar die gesetzlichen Regelungen über die Arbeitszeit eine zu beachtende Schranke (und im dispositiven Bereich eine gewisse Richtschnur); Grundlage der Entscheidung ist aber die Abwägung der Interessen des Betriebes einerseits und der Belegschaft andererseits, wie sie im konkreten Fall bestehen. Es handelt sich bei diesem Verfahren nicht um einen Rechts-, sondern um einen Regelungsstreit (zur ausreichenden Determinierung des behördlichen Handelns in solchen Fällen vgl. VfSlg. 15.177/1998).

Die Aufgabe der Schlichtung eines Regelungsstreits im Sinne des §146 Abs2 ArbVG kann die Behörde jedoch nur erfüllen, wenn sie die Interessen beider Teile tatsächlich ermittelt, im Einzelnen darstellt und bewertend gegeneinander abwägt. Gerade das Fehlen genereller normativer Vorgaben verpflichtet die Schlichtungsstelle zur näheren Darlegung ihrer Beweggründe. Dabei muss sie auf das Vorbringen und die Vorschläge der Parteien konkret eingehen. Einwendungen gegen die Zulässigkeit der begehrten Regelung hat sie im Einzelnen zu widerlegen.

Diesen allgemeinen Anforderungen an die Schlichtung eines Regelungsstreits kommt der angefochtene Bescheid auch nicht ansatzweise nach. Die Begründung beschränkt sich auf die Behauptung, es habe eine Abwägung stattgefunden, und lässt nicht erkennen, was wogegen abgewogen wurde und warum die Abwägung so ausgefallen ist. Sie tut auch nicht dar, warum welcher Einwand gegen die Zulässigkeit der Anordnung nicht zutrifft, sondern begnügt sich mit der bloßen Feststellung, es lägen keine Rechtsverletzungen vor.

Entgegen der Einlassung der GmbH - die belangte Behörde äußert sich in dieser Richtung nicht ausdrücklich - erübrigt der abgeschlossene Vergleich eine einlässliche Begründung nicht, weil dessen Widerruf zulässig war und rechtzeitig erfolgt ist, so dass eine Einigung nicht mehr besteht. An der daraus folgenden Unbeachtlichkeit des Vergleichversuches konnte auch der Umstand nichts ändern, dass für den Widerrufsfall die Erlassung der Entscheidung ohne weitere Verhandlung in Aussicht gestellt wurde (wobei ihr zu erwartender Inhalt entgegen der Behauptung der GmbH ohnedies nicht angekündigt war). Aus formellen Gründen allein durfte die Behörde ein mit dem Widerruf erstattetes Vorbringen nicht schlechthin ignorieren.

Dass die Entscheidung der Behörde keinem Rechtsmittel unterliegt und auch eine Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen ist (VfSlg. 15.058/1997), ändert nichts an der Verpflichtung der Behörde, die für die gebotene Interessenabwägung notwendigen Feststellungen und Erwägungen nachvollziehbar darzulegen.

Der beschwerdeführende Betriebsrat wurde daher durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt. Der Bescheid ist aufzuheben.

Von einer mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag sind 360 Euro an Umsatzsteuer und 180 Euro an Eingabengebühr gemäß §17a VfGG enthalten.

Schlagworte

Arbeitnehmerschutz, Arbeitszeit, Betriebsvereinbarung, Bescheidbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:B1414.2004

Dokumentnummer

JFT_09949697_04B01414_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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