TE Vfgh Erkenntnis 2005/3/11 B89/05

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Veröffentlicht am 11.03.2005
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Allg
ASVG §500 ff, §502 Abs4
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf Anrechnung der Emigrationszeit der Beschwerdeführerin nach den Bestimmungen des ASVG als verfolgungsbedingt; Gleichheitsverletzung durch Unterscheidung in Bezug auf die Verfolgungsgefahr von Personen jüdischer Abstammung zwischen dem 12. und dem 13. März 1938; Willkür durch auch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof fortgesetzte Außerachtlassung der ausschlaggebenden tatsächlichen historischen Ereignisse

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit EUR 2160,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen, angefochtenen Bescheid hat der Landeshauptmann von Wien den Antrag der bis zum 12. März 1938 in Wien wohnhaft gewesenen Beschwerdeführerin (einer nunmehrigen deutschen Staatsangehörigen) auf Anrechnung ihrer Emigrationszeit nach den Bestimmungen der §§500 ff ASVG als verfolgungsbedingt - wie schon die beteiligte Pensionsversicherungsanstalt - mit der Begründung abgelehnt, ein aus Gründen der Abstammung erlittener sozialversicherungsrechtlicher Nachteil habe "frühestens von der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich am 13.3. 1938 an als Begünstigungstatbestand nach §502 Abs1 und 4 ASVG gewertet" werden können (Hinweis auf ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. Oktober 1983, Zl. 08/3497/80). Die Beschwerdeführerin sei aber schon am 12. März 1938 in die Schweiz "ausgewandert" und habe daher Österreich schon vor dem 13. März 1938 verlassen.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Beschwerdeführerin geltend macht, durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und dem daraus abgeleiteten Verbot willkürlicher Behandlung von Fremden gemäß Art7 B-VG iVm dem Bundesverfassungsgesetz betreffend das Verbot rassischer Diskriminierung, BGBl. Nr. 390/1973, verletzt zu sein.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. §500 ASVG lautet:

"Personen, die in der Zeit vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung in ihren sozialversicherungsrechtlichen Verhältnissen einen Nachteil erlitten haben, werden nach Maßgabe der Bestimmungen der §§501, 502 Abs1 bis 3 und 5 und 506, Personen, die aus den angeführten Gründen ausgewandert sind, nach den §§502 Abs4 bis 6, 503 und 506 begünstigt."

§502 Abs4 ASVG bestimmt auszugsweise:

"Personen, die in der in §500 angeführten Zeit aus einem der dort angeführten Gründe ausgewandert sind und die vorher in der Zeit seit dem 1. Juni 1927 Beitragszeiten gemäß §226 oder Ersatzzeiten gemäß §228 oder 229 oder Zeiten nach dem Auslandsrenten-Übernahmegesetz zurückgelegt haben, können für die Zeit der Auswanderung, längstens aber für die Zeit bis 31. März 1959, Beiträge nachentrichten. ..."

1.2. Der Unterschied zwischen der keiner Begünstigung nach den §§500 ff ASVG zugänglichen sog. "Frühemigration" und der begünstigungstauglichen Auswanderung aus Gründen der Abstammung liegt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung: Ist die ausdrücklich erklärte oder aus den Umständen erschließbare dauernde Verlegung des Mittelpunktes der Lebensinteressen von Österreich in das Ausland vor der "nationalsozialistischen Machtergreifung" erfolgt, liegt (grundsätzlich anspruchsschädliche) "Frühemigration" vor (vgl. dazu aus jüngerer Zeit das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. November 2001, Z97/08/0054, unter Hinweis [ua.] auch auf das von der belangten Behörde zitierte Erkenntnis vom 27. Oktober 1983, Z08/3497/80).

1.3. Die belangte Behörde hat die am 12. März 1938 erfolgte Ausreise der Beschwerdeführerin (zunächst) in die Schweiz als eine "Frühemigration" im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung beurteilt und ihr demgemäß die Anerkennung der Emigrationszeit als Versicherungszeit nach §502 ASVG versagt.

1.4. Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und VfGH 11.10.2003, B679/03 ua.) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. Nr. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

1.4.1. Diesem durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet ein Bescheid, wenn er auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg. 16.214/2001), wenn die Behörde dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der - hätte ihn das Gesetz - dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg. 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat (zB VfSlg. 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001).

1.4.2. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

1.5. Der belangten Behörde ist ein willkürliches Verhalten in mehrfacher Hinsicht anzulasten:

1.5.1. Die von der Behörde anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen sehen eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung, ab welcher Ansprüche auf Begünstigung aus Gründen der Verfolgung wegen (jüdischer) Abstammung zuerkannt werden können, nicht vor. Es wird hinsichtlich aller in §500 ASVG genannten Gründe der Verfolgung ("aus politischen Gründen - außer wegen nationalsozialistischer Betätigung - oder religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung") ein einheitlicher Zeitraum vom 4. März 1933 bis 9. Mai 1945 festgelegt. Dieser Umstand steht allerdings einer Auslegung nicht entgegen, wonach in jedem Fall vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Ereignisse zu untersuchen ist, ab welchem Zeitpunkt frühestens eine Verfolgung der betreffenden Person aus den geltend gemachten Gründen objektiv zu besorgen gewesen ist.

1.5.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung den Zeitraum, innerhalb dessen eine Auswanderung aus Gründen der (jüdischen) Abstammung erfolgt sein musste, um als "begünstigungsfähig" im Sinne der §§500 ASVG zu gelten, zwar stets (formelhaft) mit dem "13. März 1938" beginnen lassen, hat aber dabei auch stets das von ihm in diesem Zusammenhang als bedeutsam angesehene Ereignis, nämlich die "Machtergreifung des Nationalsozialismus" in Österreich, benannt und stets ausdrücklich auf den Zeitpunkt abgestellt, zu dem eine Verfolgung aus Gründen der Abstammung in Österreich frühestens eintreten konnte. Er hat aus diesem Grund zwar wiederholt ausgesprochen, dass Auswanderungen vor dem 13. März 1938 (deren jeweiliges Datum aber - dies im Falle des von der belangten Behörde zitierten Erkenntnisses vom 27. Oktober 1983, Z08/3497/80 - spätestens im Februar 1938 lag) nicht begünstigungsfähig seien. Der Verwaltungsgerichtshof hatte allerdings einen Sachverhalt wie den hier vorliegenden (Auswanderung einer Person jüdischer Abstammung am 12. März 1938) - soweit überblickbar - bisher noch nicht zu beurteilen, sodass er auch noch nie zu der Frage Stellung zu nehmen hatte, ab welchem Tag im Zusammenhang mit dem am 13. März 1938 proklamierten sog. "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland von einem Beginn der Verfolgung von Personen jüdischer Abstammung auszugehen ist.

1.5.3. Mit dem Hinweis auf dieses staats- und völkerrechtlich bedeutsame Datum ist - anders als die belangte Behörde offenbar auch noch in ihrer Gegenschrift meint - keine adäquate Antwort auf die hier (auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und nach dem Gesetzeswortlaut) allein entscheidende Frage gegeben, ab welchem Zeitpunkt Personen jüdischer Abstammung in Österreich im Zusammenhang mit diesen historischen Ereignissen objektiv Grund zur Befürchtung hatten, dass sie mit Blick auf die "Nürnberger Rassegesetze" und deren Anwendung im damaligen Deutschen Reich Gefahr liefen, staatlich verordneter Ächtung und Verfolgung ausgesetzt zu werden. Dieser Zeitpunkt ist aber im Zusammenhang mit der Anwendung der §§500 ff ASVG maßgebend und für diesen Verfolgungsgrund auch allein sachlich vertretbar.

a) Anders als die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift ausführt, lag ihr nach dem Vorgesagten eine "Regelung, die auf [ergänze: den 13. März 1938 als] einen bestimmten Stichtag abstellt" gar nicht vor. Die belangte Behörde sieht sich auch noch veranlasst, in ihrer Gegenschrift der Beschwerde mit dem Argument zu begegnen, dass die Beschwerdeführerin am 12. März 1938 schon in Zürich geweilt und sich deshalb in keiner Verfolgungsgefahr befunden habe. Dieses Argument ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil es nicht darauf ankommt, ob die Beschwerdeführerin in der Schweiz verfolgt wurde, sondern ob sie, die nach den mit der Aktenlage übereinstimmenden Feststellungen der belangten Behörde an diesem Tag aus Wien geflüchtet ist, dies in berechtigter Furcht vor Verfolgung getan hat.

b) Der Gesetzgeber hat ein Datum als ausdrücklichen Bezugspunkt für die Verfolgung aus Gründen der Abstammung nicht einmal vorgesehen. Es kann auf Grund jedermann zugänglicher historischer Untersuchungen als notorisch gelten, dass die deutschen Truppen in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 in Österreich einmarschiert sind, sowie, dass es im Gefolge der allgemein bekannten Rundfunkansprache des damaligen Bundeskanzlers Schuschnigg nicht nur bereits am Nachmittag des 11. März 1938 in Wien zu entsprechenden Aktivitäten von bewaffneten SA-Einheiten zur Übernahme der Wiener Stadtregierung, sondern am 12. März 1938 auch schon zu ersten Verhaftungen u.a. von Personen jüdischer Abstammung gekommen ist (vgl. etwa Botz, Wien vom Anschluss bis zum Krieg, Wien 1978, 51 ff [55]). Auf diese Umstände wurde die belangte Behörde in einer Stellungnahme des Beschwerdevertreters im Einspruchsverfahren sogar ausdrücklich hingewiesen.

Es kann daher im hier zu beurteilenden Sinne nicht etwa erst der Zeitpunkt der Proklamation des "Anschlusses" am 13. März 1938 als jener Zeitpunkt gelten, zu dem die Verfolgung von Personen jüdischer Abstammung eingesetzt und somit eine allgemeine Verfolgungsgefahr für diesen Personenkreis bestanden hat.

c) Es ist dem Verfassungsgerichtshof daher unbegreiflich, wenn die belangte Behörde offenbar auch noch in ihrer Gegenschrift davon ausgeht, es habe für Personen jüdischer Abstammung (und damit auch für die Beschwerdeführerin) am 12. März 1938 keine allgemeine Gefahr einer Verfolgung bestanden. Nur auf diese Gefahr kommt es aber nach jenem Maßstab, der den §§500 ff ASVG und der dazu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu entnehmen ist, ausschließlich an, und nicht etwa darauf, dass die ab dem Einmarsch akut gefährdeten Personen auch noch ihre Verhaftung abzuwarten gehabt hätten.

1.6. Der belangten Behörde ist daher zusammenfassend in zweifacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. Nr. 390/1973, anzulasten:

a) Einerseits verletzt eine Gesetzesauslegung, die in Bezug auf die Verfolgungsgefahr von Personen jüdischer Abstammung zwischen dem 12. und dem 13. März 1938 einen Unterschied macht, den Gleichheitssatz, weil damit Gleiches ungleich behandelt wird.

b) Andererseits hat die belangte Behörde dadurch Willkür geübt, dass sie die ausschlaggebenden tatsächlichen historischen Ereignisse, obwohl ihr diese im Einspruchsverfahren noch eindringlich vor Augen geführt worden sind, vollkommen außer acht gelassen und das diesbezügliche Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Begründung ihres Bescheides nicht einmal erwähnt, geschweige denn, sich damit auseinandergesetzt hat. Sie hat sich zwar dem äußeren Anschein nach auf ein länger zurückliegendes Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs gestützt, dabei aber weder beachtet noch in der Begründung erkennbar gemacht, dass diesem Erkenntnis ein nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag.

2. Die Beschwerdeführerin ist daher durch den angefochtenen Bescheid in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von EUR 360,--. Die entrichtete Eingabengebühr war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit des Verfahrens (§110 ASVG) nicht zu ersetzen.

4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Nationalsozialismus, Sozialversicherung, Begünstigungen, Stichtag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:B89.2005

Dokumentnummer

JFT_09949689_05B00089_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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