RS Vfgh 1999/6/24 B191/99

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Veröffentlicht am 24.06.1999
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/03 Ärzte, sonstiges Sanitätspersonal

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art133 Z4
StGG Art5
EMRK 7. ZP Art4
EMRK Art6 Abs1 / Strafrecht
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art7
StGB §31
ÄrzteG §95 Abs2
ÄrzteG §98 Abs4
ÄrzteG §100 Abs1

Leitsatz

Keine Bedenken gegen die angewendeten Bestimmungen desDisziplinarrechts der Ärzte; keine Bedenken gegen die Zusammensetzungdes Disziplinarsenates; kein Verstoß gegen das Verbot derDoppelbestrafung; kein Verstoß gegen das Determinierungsgebot; keineVerletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durchVerhängung einer Disziplinarstrafe über einen Arzt nach bereitserfolgter gerichtlicher Verurteilung

Rechtssatz

Bestimmte schwere Disziplinarstrafen wie die befristete oder unbefristete Verhängung eines Berufsausübungsverbotes sind als Strafen im Sinne des Art6 EMRK zu qualifizieren (VfSlg. 11.506/1987).

Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn in Disziplinarsachen lediglich eine einzige Instanz vorgesehen ist, die als weisungsfreie Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag dem Tribunalbegriff des Art6 EMRK entspricht. Im Hinblick darauf vermag die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch keine Zweifel daran zu erwecken, daß es verfassungsrechtlich zulässig ist, ein Tribunal erst als zweite Instanz vorzusehen, das die Entscheidung einer (nicht den Erfordernissen des Art6 EMRK genügenden) Behörde erster Instanz überprüft.

Ein Richter im Ruhestand ist kein Richter im Sinne des Art133 Z4 B-VG. Demgemäß schließt es §98 Abs4 ÄrzteG 1984 bei verfassungskonformer Interpretation aus, daß ein nicht mehr dem aktiven Dienststand angehörender Richter zum richterlichen Mitglied des Disziplinarsenates bestellt wird. Der Verfassungsgerichtshof hat aber auch keine Veranlassung, von seiner in VfSlg. 11.933/1988 dargelegten Rechtsprechung abzugehen, wonach keine Verfassungsvorschrift den einfachen Gesetzgeber dazu verpflichtet, festzulegen, daß ein richterliches Mitglied einer nach Art133 Z4 B-VG eingerichteten Behörde, wenn es als Richter in den Ruhestand tritt, auch sein Amt als Mitglied dieser Behörde verliert oder davon zu entheben ist.

Der Verfassungsgerichtshof vermag die gegen §100 Abs1 ÄrzteG 1984 gerichteten Bedenken der Beschwerde nicht zu teilen. Die bloße Anordnung einer sinngemäßen Anwendung verwandter Rechtsvorschriften führt für sich genommen noch nicht zu einer rechtsstaatlich untragbaren Unklarheit. Dies umso weniger, wenn die Anordnung der sinngemäßen Anwendung durch präzisierende Maßgaben ergänzt wird, die eine nähere Bestimmung des Anwendungsbereiches der verwiesenen Normen erlauben.

Der Verfassungsgerichtshof hält es nicht für unsachlich, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, daß gerichtliche Verurteilungen der Schwere der in §95 Abs2 Z1 ÄrzteG 1984 genannten Art ein Verhalten des Beschwerdeführers voraussetzen, das geeignet ist, das Ansehen des Standes und das besondere Vertrauensverhältnis eines Arztes zu seinen Patienten empfindlich zu stören. Die Anknüpfung an eine gerichtliche Verurteilung gewährleistet auch, daß der Beschuldigte nur auf Grund eines Verfahrens bestraft werden kann, das allen Garantien des Art6 EMRK entspricht.

Es erscheint als legitimes Interesse der Standesgemeinschaft, sich im Falle schwerwiegender gerichtlicher Verurteilungen, denen Verhaltensweisen des Betroffenen zugrundeliegen, von denen regelmäßig auch eine Gefährdung des Ansehens des Standes oder der ordnungsgemäßen Erfüllung bestimmter standesspezifischer Berufspflichten ausgeht, sich in Wahrnehmung des sogenannten "disziplinären Überhanges" disziplinarrechtliche Reaktionen vorzubehalten. Es ist dies nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes ein eigener, eine gesonderte disziplinäre Bestrafung rechtfertigender Aspekt, weswegen §95 Abs2 Z1 ÄrzteG 1984 auch nicht gegen Art4 des 7. ZP zur EMRK verstößt.

Der Verfassungsgerichtshof sieht sich auch aus dem Blickwinkel des Determinierungsgebotes nicht veranlaßt, in eine amtswegige Prüfung von §95 Abs2 Z1 ÄrzteG 1984 einzutreten. Die Bestimmung knüpft hinreichend konkret an der tatsächlich ausgesprochenen Strafe an und ermöglicht eine einwandfreie Gesetzesanwendung, ohne die erkennende Disziplinarbehörde oder den beschuldigten Rechtsunterworfenen vor rechtliche Unklarheiten zu stellen.

§95 Abs2 Z1 ÄrzteG 1984 knüpft an die Tatsache gerichtlicher Verurteilung zu bestimmter Strafart und -höhe wegen einer oder mehreren mit Vorsatz begangenen Straftaten an. Vor dem Hintergrund einer solchen Tatbestandswirkung der Verurteilung hält der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung der belangten Behörde jedenfalls nicht für denkunmöglich, wonach eine Zusammenrechnung von Strafen aus mehreren gerichtlichen Verurteilungen, die zueinander im Verhältnis des §31 StGB stehen, geboten sei, um eine ansonsten bei völlig gleicher Sach- und Rechtslage eintretende unsachliche Verschiedenbehandlung von Verurteilten im Disziplinarverfahren zu vermeiden, je nachdem, ob die Aburteilung aller Straftaten zufälligerweise in einem Verfahren oder in mehreren Strafverfahren erfolgt ist.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Ärzte, Disziplinarrecht, Anwendbarkeit (eines Gesetzes),Strafen, Zusammentreffen strafbarer Handlungen,Doppelbestrafungsverbot, Kollegialbehörde, Behördenzusammensetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1999:B191.1999

Zuletzt aktualisiert am

13.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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