RS Vfgh 2002/12/2 B942/02

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Veröffentlicht am 02.12.2002
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art46
DSt 1990 §77
StPO §363a, §363b

Leitsatz

Beschwerdelegitimation gegeben infolge noch nicht erfolgter Tilgung einer Disziplinarstrafe; keine Verfassungswidrigkeit der auch im Disziplinarverfahren der Rechtsanwälte anwendbaren Bestimmung der Strafprozeßordnung über die Erneuerung eines Strafverfahrens infolge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Zurückweisung eines Antrags auf Erneuerung eines Disziplinarverfahrens nach Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch den EGMR aufgrund der denkmöglichen Verneinung eines nachteiligen Einflusses der Verfahrensdauer auf das Disziplinarstraferkenntnis

Rechtssatz

Die Beschwerde ist aufgrund des Umstandes, daß hier die Disziplinarstrafe noch nicht getilgt ist und daher die Beschwer - anders als im B v 10.03.00, VfSlg 15760/2000 ("Gradinger") - nicht weggefallen ist, zulässig.

Keine Verfassungswidrigkeit der gem §77 DSt 1990 auch im Disziplinarverfahren der Rechtsanwälte anwendbaren Bestimmung des §363a StPO über die Erneuerung eines Strafverfahrens infolge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Nach Art46 EMRK (vormals Art53 EMRK) sind die Vertragsstaaten in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, verpflichtet, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen. Mit §363a StPO ist im Wege des Strafrechtsänderungsgesetzes 1996, BGBl 762/1996, eine Regelung geschaffen worden, die die Einhaltung dieser Verpflichtung für den Bereich der Strafrechtspflege innerstaatlich gewährleisten soll.

Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung, daß es dem betroffenen Staat obliege, die Mittel zu wählen, die in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung heranzuziehen sind, um seinen Verpflichtungen gemäß Art46 EMRK nachzukommen (EGMR 13.06.79, Marckx gg. Belgien, EuGRZ 1979, 454 ff. [460]; EGMR 26.10.88, Norris gg. Irland, ÖJZ 1989, 628 ff. [631]; EGMR 25.02.97, Z gg. Finnland, ÖJZ 1998, 152 ff. [155]). Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes kann daher ein verfassungsrechtliches Gebot, wonach in jedem Fall einer vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung (so auch im Fall der festgestellten überlangen Verfahrensdauer) das Verfahren innerstaatlich wiederaufzunehmen ist, aus der EMRK nicht abgeleitet werden.

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Zurückweisung eines Antrags auf Erneuerung eines Disziplinarverfahrens nach Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch den EGMR.

Ein gehäuftes Verkennen der Rechtslage kann der belangten Behörde nicht vorgeworfen werden, wenn sie davon ausgeht, daß allein die Länge der Verfahrensdauer keinen für den Beschwerdeführer nachteiligen Einfluß auf den Inhalt des Disziplinarstraferkenntnisses der OBDK vom 25.01.93, Bkd 43,88/90, 10 Bkd 4/92 iS des §363a StPO haben könne. Die belangte Behörde hat sich ausführlich und in nachvollziehbarer Weise mit dem Antragsvorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Ob dabei die Auslegung des §363a StPO iVm. §77 Abs1 DSt 1990 in jeder Hinsicht rechtsrichtig ist, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen eine Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl etwa VfSlg 13419/1993, 14408/1996).

Die Feststellung der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer erstreckt sich nur auf jenes Disziplinarverfahren, das nach der Berechnung des EGMR sieben Jahre und vier Monate gedauert hat. Eine Neudurchführung käme daher von vorneherein nur für dieses (eine) Verfahren in Betracht.

Es hat selbst nach Auffassung des EGMR die festgestellte Konventionsverletzung keine Auswirkung auf die Begründetheit der mit Erkenntnis der OBDK vom 25.01.93 erfolgten (und bereits vom Verfassungsgerichtshof in VfSlg 13920/1994 als verfassungsmäßig erachteten) Verurteilung des Beschwerdeführers, sodaß auch aus diesem Blickwinkel die "Erneuerung" des in Frage kommenden Disziplinarverfahrens nicht geboten erscheint.

Auch Zurückweisung des Antrags zulässig gemäß §363b StPO.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Rechtsanwälte, Disziplinarrecht, Strafprozeßrecht, VfGH / Legitimation, Entscheidung in angemessener Zeit, Verfahrensdauer überlange

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B942.2002

Dokumentnummer

JFR_09978798_02B00942_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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