RS Vfgh 2006/2/28 B831/05

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 28.02.2006
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs3 litd
DSt 1872 §12 Abs2
VfGG §82 Abs1
ZPO §63 Abs1, §68

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft für die Dauer von sechs Monaten wegen mehrerer Disziplinarvergehen vor allem im Zusammenhang mit der Bezahlung bzw Verwendung von Klientengeldern; Erklärung der bewilligten Verfahrenshilfe für erloschen

Rechtssatz

Der angefochtene Bescheid wurde dem Beschwerdeführer zwar durch die mündliche Verkündung - zumindest inhaltlich - bekannt, er ist ihm aber - wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt - niemals zugestellt worden. Aus diesem Grund wurde die sechswöchige Beschwerdefrist iSd §82 Abs1 VfGG nicht in Gang gesetzt.

Der Beschwerdeführer bringt vor, er sei am 13.07.05 auf den angefochtenen Bescheid "gestoßen", als er in seine Disziplinarakten Einsicht nahm. Die Beschwerde wurde sohin rechtzeitig eingebracht, ohne dass untersucht werden musste, ob damit eine Zustellung vorlag, weil die Beschwerde jedenfalls innerhalb von sechs Wochen ab Einsichtnahme in die Disziplinarakten erfolgte.

Keine Willkür; ausreichende Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Ermittlungsverfahren.

Die belangte Behörde hat den Spruch des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich abgeändert, sodass deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, dass der Beschwerdeführer in einem Strafverfahren gemäß §259 Z3 StPO rechtskräftig freigesprochen worden war.

Der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung anzuwendende §12 Abs2 DSt 1872 legt die maßgeblichen Kriterien für die Strafbemessung fest. Den Disziplinarbehörden ist bei der Festsetzung von Strafen ein (Auswahl-)Ermessen eingeräumt.

Keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art6 EMRK.

Der EGMR sieht das Recht, die Ladung von Entlastungszeugen zu verlangen, nicht als absolut an (EGMR 22.04.92, Fall Vidal gegen Belgien). Die Beurteilung, ob ein Zeuge zu laden ist, weil er "wesentlich" ist, obliegt zunächst den nationalen Gerichten. Der EGMR stellt nur darauf ab, ob das Verfahren insgesamt fair war. Der belangten Behörde kann aus verfassungsrechtlicher Sicht daher nicht entgegen getreten werden, wenn sie davon ausgeht, dass sich der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich "bei der Zeugeneinvernahme ein unmittelbares Bild machen" konnte und die vom Beschwerdeführer beantragte Einvernahme einer Zeugin als "überflüssig" qualifizierte.

Keine Verletzung des Art6 EMRK im Hinblick auf eine überlange Verfahrensdauer bzw des Art13 EMRK. Der Beschwerdeführer hat nichts unternommen, um die Zustellung des am 02.04.90 in seiner Anwesenheit verkündeten Erkenntnisses zu bewirken.

Repressive Maßnahmen, etwa die disziplinäre Behandlung wegen Verletzung von Standespflichten, verletzen nicht das Recht auf Freiheit der Erwerbsbetätigung gemäß Art6 StGG.

Mit B v 21.09.05 wurde dem Beschwerdeführer die Verfahrenshilfe bewilligt. In der Folge brachte er seine Beschwerde durch einen selbst gewählten Vertreter ein und beantragte, die Verfahrenshilfe für erloschen zu erklären, weil er nunmehr in der Lage sei, die Kosten des Verfahrens ohne Beeinträchtigung seines notwendigen Unterhalts zu bestreiten. Die Bevollmächtigung eines Wahlvertreters zeigt im vorliegenden Fall den Wegfall der Voraussetzungen des §63 Abs1 ZPO. Da somit die Voraussetzungen des §68 ZPO vorliegen, war dem Antrag des Beschwerdeführers Folge zu geben.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Rechtsanwälte, Disziplinarrecht, Strafbemessung, fair trial, VfGH / Fristen, Beschwerdefrist, Zustellung, VfGH / Verfahrenshilfe, Bescheid mündlicher

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2006:B831.2005

Dokumentnummer

JFR_09939772_05B00831_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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