TE Vfgh Erkenntnis 1980/6/6 B541/79

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Veröffentlicht am 06.06.1980
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

MRK Art5 Abs1
StGG Art8
PersFrSchG §4
StPO §175
StPO §177, §177 Abs1 Z1, §177 Abs2

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; zunächst rechtmäßige Anhaltung; ab dem Eintritt der vermeidbaren Verzögerung der Entlassung rechtswidrig (§177 Abs2 StPO)

Spruch

Die Beschwerdeführer sind dadurch, daß sie am 13. November 1979 um

21.15 Uhr in W., M-gasse 2, von Organen der Bundespolizeidirektion W. festgenommen, in der Folge zum Bezirkspolizeikommissariat F. überstellt und dort bis etwa 23 Uhr außerhalb des Arrestlokales angehalten wurden, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Hingegen sind die Beschwerdeführer durch die weitere, bis 14. November 1979, 11.30 Uhr, währende Anhaltung, und zwar zunächst im Arrestlokal des Bezirkspolizeikommissariates F., später im Bezirkspolizeikommissariat W., im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. Die Beschwerdeführer wurden am 13. November 1979 abends in W. von Sicherheitswachebeamten (SWB) der Bundespolizeidirektion W. festgenommen und in der Folge im Arrestlokal des Bezirkspolizeikommissariates (im folgenden kurz: Koat.) F. angehalten, ohne daß ihnen der Grund hiefür bekanntgegeben oder ihnen Gelegenheit geboten wäre, zu den - ihnen unbekannten - Anschuldigungen Stellung zu nehmen. Am Vormittag des 14. November 1979 wurden sie dem Koat. W. überstellt und nach Einvernahme entlassen.

2. Gegen die Festnahme und die nachfolgende Anhaltung wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit behauptet und beantragt wird, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen.

3. Die Bundespolizeidirektion W. als belangte Behörde, vertreten durch die Finanzprokuratur, vertritt in der Gegenschrift die Meinung, die Anhaltungen seien durch §175 Abs1 Z1 StPO gedeckt gewesen.

1. a) Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Einvernahmen folgender Beamter der Bundespolizeidirektion W. als Zeugen: Oberkommissär Mag. A. K., Kommissär Mag. Dr. P. St., Bezirksinspektor J. P., Bezirksinspektor Ch. G. Revierinspektor E. P., Inspektor W. K., Inspektor J. T., Inspektor F. H. und Gruppeninspektor J. W. Ferner hat der VfGH L. B. und E. S. als weitere Zeugen und die beiden Beschwerdeführer als Parteien einvernommen.

Der VfGH hat außerdem in die Akten der Bundespolizeidirektion W. Z D 1275-Wg/79, und der Staatsanwaltschaft beim Jugendgerichtshof Wien, Z St 4056/80, Einsicht genommen.

b) Aufgrund dieser Beweismittel, die in den für dieses verfassungsgerichtliche Verfahren bedeutsamen Punkten im wesentlichen übereinstimmen und an deren Richtigkeit zu zweifeln es keinen Anlaß gibt, steht fest:

Die Zeugen B. und S. glaubten am 13. November 1979 kurz vor 20 Uhr wahrzunehmen, daß in der im 1. Stock gelegenen Wohnung Nr. 9 des Hauses W., W-straße 132a, (die beiden Zeugen wohnen im selben Haus) ein Einbruchsdiebstahl begangen werde. Der Zeuge B. erblickte vom Hof des erwähnten Hauses aus zwei Männer die aus einem Gangfenster des 1. Stockes des gegenüberliegenden Hauses G-gasse 57 auf den Balkon der Wohnung schauten, in der nach Meinung des Zeugen eingebrochen wurde. Der Zeuge B. nahm an, es handle sich bei diesen beiden Männern um "Aufpasser". Die beiden Männer entfernten sich - wie der Zeuge B. meinte - weil sie ihn wahrgenommen hatten. Er ging auf die Straße und sah wiederum zwei Männer, in denen er die beiden "Aufpasser" wiederzuerkennen glaubte, und die sich seiner Annahme zufolge vor ihm versteckten. Nach einiger Zeit nahm er in der Nähe neuerlich zwei Männer (die beiden Beschwerdeführer) wahr, die den Kombi W ... bestiegen. Der Zeuge B. war überzeugt, daß es dieselben Männer waren, die er der Mittäterschaft am Wohnungseinbruch verdächtigt hatte. Die beiden Männer im Kraftfahrzeug fragten den Zeugen B., was denn los sei; er erwiderte: "Nichts!"

Inzwischen hatte die Gattin des Zeugen B. telefonisch die Polizei verständigt. Aufgrund dieses Anrufes traf kurz nach 20 Uhr der Funkwagen R. 1 (Besatzung: die Inspektoren T. und H.) am Tatort ein. Inspektor H. stellte aufgrund eigener Wahrnehmung fest, daß in der Wohnung W-straße 132a/1. Stock/Tür 9 eingebrochen worden war; der (die) Täter war(en) über den Balkon nach Einschlagen eines Fensters in die Wohnung eingedrungen. Ob etwas gestohlen worden war, oder ob der (die) Täter durch das Auftreten der Zeugen B. und S. vorher verscheucht worden waren, konnten die einschreitenden SWB nicht erheben, da der Wohnungsinhaber nicht anwesend war und auch nicht erreicht werden konnte.

Die Zeugen B. und S. berichteten den beiden SWB ihre oben dargestellten Wahrnehmungen.

Der von der Besatzung des Funkwagens R. 1 verständigte Informationsdienst der Bundespolizeidirektion W. veranlaßte eine Fahndung nach dem Kombi W ... Dieser wurde am selben Tag (13. November 1979) um etwa 21.15 Uhr vom Funkwagen T. 2 (Besatzung: Revierinspektor P. und Inspektor K.) in W., nächst dem Haus M-gasse 2 (dem Wohnhaus der Beschwerdeführer), angehalten. Die Insassen (die beiden Beschwerdeführer) wurden von den SWB aufgefordert zu warten, bis ein anderer Funkwagen eintreffe.

Mit dieser Aufforderung erfolgte die Festnahme beider Beschwerdeführer. Auch wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt ihrer Freiheitsbeschränkung möglicherweise noch gar nicht bewußt waren, war der Befehl der SWB zu warten, intentional doch eindeutig auf eine Freiheitsbeschränkung gerichtet. Die SWB hätten die Beschwerdeführer zweifellos - erforderlichenfalls unter Gewaltanwendung - daran gehindert, sich zu entfernen. Die tatsächliche Verhaftung der Beschwerdeführer fand also um etwa 21.15 Uhr statt, auch wenn sie verbal erst später als festgenommen erklärt wurden.

Die Besatzung des Funkwagens T. 2 verweigerte den Beschwerdeführern trotz wiederholter Fragen Auskunft darüber, weshalb sie gestoppt worden waren. Der Beschwerdeführer K. S. (der Vater des etwa 15 Jahre alten Beschwerdeführers A. S.) meinte: "Vielleicht glauben sie, wir haben eingebrochen."

Nachdem die beiden Beschwerdeführer und die Besatzung des Funkwagens T. 2 etwa eine halbe Stunde gewartet hatten, traf der Funkwagen R. 1 ein, in dem sich auch der Zeuge B. befand. Dieser gab den Inspektoren T. und H. (Besatzung des Funkwagens R. 1) gegenüber an, in den Beschwerdeführern mit Sicherheit jene beiden Männer wiederzuerkennen, die kurz zuvor in W. den Kombi bestiegen hatten. Beide Beschwerdeführer gaben zu verstehen, daß sie ihrerseits den Zeugen B. wiedererkannten.

Inspektor T. sprach um 21.45 Uhr die Festnahme der beiden Beschwerdeführer aus. Sie wurden dem Koat. F. überstellt. Trotz wiederholter Fragen, weshalb sie angehalten werden, gab keiner der anwesenden Polizeibeamten den Beschwerdeführern eine konkrete Antwort. Die Beschwerdeführer wurden auch nicht befragt. Um etwa 23 Uhr wurden sie ohne weitere Erklärung in das Arrestlokal des Koat. F. gesperrt.

Für die Aufklärung des Einbruchsdiebstahls in die Wohnung W-straße 132a/9 war nach den innerorganisatorischen Vorschriften der Bundespolizeidirektion W. das Koat. W. (Tatortkommissariat) berufen. Die Arresträume dieses Kommissariates waren damals besetzt, sodaß es nicht möglich war, die Beschwerdeführer dort anzuhalten.

Der Journalbeamte des Koat. W., Bezirksinspektor P., führte am Ort des Einbruchsdiebstahls Erhebungen durch, ohne wesentlich mehr als die SWB feststellen zu können. Seine Versuche, mit dem Wohnungsinhaber in Verbindung zu treten, mißlangen. Er holte die Prioren der beiden Beschwerdeführer ein.

Der Journalbeamte im Zentraljournaldienst der Bundespolizeidirektion W., Oberkommissär Mag. K., schaltete sich in die Amtshandlung nur insoweit ein, als er die Abgabe der Beschwerdeführer in das Arrestlokal des Koat. F. verfügte.

Am nächsten Tag (14. November 1979) pflog Bezirksinspektor G. (Koat. W.) am Tatort weitere Erhebungen, ohne wesentlich Neues feststellen zu können. Um etwa 10.30 Uhr wurden die beiden Beschwerdeführer dem Koat. W. überstellt und von Bezirksinspektor G. und Kommissär Dr. St. (der ab 8 Uhr Journalbeamter des Koat. W. war) einvernommen. Nunmehr erfuhren die beiden Beschwerdeführer erstmals, wessen sie beschuldigt wurden. Sie bestritten, etwas mit dem Einbruchsdiebstahl zu tun zu haben. Der Beschwerdeführer K. S., der Tapezierermeister ist, gab an, am 13. November 1979 in den Abendstunden in einer seinem früheren Meister gehörenden Werkstatt in W., G-gasse 68, gemeinsam mit seinem Sohn (dem Zweitbeschwerdeführer) Spezialarbeiten durchgeführt und sodann gegen 20 Uhr sein Fahrzeug bestiegen zu haben.

Nach Beendigung der Einvernahme gegen 11.30 Uhr entschuldigten sich die beiden Polizeibeamten bei den Beschwerdeführern für die (offenbar) irrtümlich erfolgte Anhaltung und bereiteten ihnen ein Mittagessen zu. Um ungefähr 12.30 Uhr verließen die Beschwerdeführer das Gebäude des Koat. W. Ihre Haft hat aber bereits um etwa 11.30 Uhr geendet. Im Hinblick auf die geschilderten Umstände steht fest, daß die beiden Beschwerdeführer ab 11.30 Uhr ungehindert das Polizeigebäude hätten verlassen können.

Um etwa 12.15 Uhr erschien der Inhaber der Wohnung, in die eingebrochen worden war, im Koat. W. Er gab an, es sei nichts gestohlen, sondern nur eine Scheibe zerbrochen worden. Er kenne die Beschwerdeführer nicht.

Das Koat. W. brachte den Vorfall der Staatsanwaltschaft beim Jugendgerichtshof W. zur Kenntnis, die jedoch die Anzeige gegen die Beschwerdeführer gem. §90 StPO zurücklegte. Das in der Folge eingeleitete Verfahren gegen unbekannte Täter wurde gem. §412 StPO abgebrochen.

2. Die Festnahmen und die folgenden Anhaltungen der Beschwerdeführer erfolgten durch Organe der Bundespolizeidirektion W. aus eigener Macht. Die Amtshandlungen wurden in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gesetzt; sie sind nach Art144 Abs1 B-VG beim VfGH bekämpfbar.

Die Beschwerde ist zulässig.

3. Der VfGH beurteilt den festgestellten Sachverhalt meritorisch wie folgt:

a) Die Beschwerdeführer wurden im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehls verhaftet. Es ist daher nach §177 iVm §175 StPO zu prüfen, ob die Verhaftung in einem der "vom Gesetz bestimmten Fälle" iS des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, erfolgt ist; ist dies der Fall, so hat eine Verletzung des Art8 StGG und des Art5 Abs1 MRK nicht stattgefunden (vgl. zB VfSlg. 7857/1976 und 8082/1977).

Nach §177 Abs1 Z1 StPO kann die Verhaftung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn der Verdächtige auf frischer Tat betreten oder unmittelbar nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt wird.

Diese Bestimmung erfordert nicht bloß im Falle der Betretung auf frischer Tat, sondern auch in den anderen von ihr umfaßten Fällen, einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Tat und dem behördlichen Einschreiten gegen den Verdächtigen (vgl. VfSlg. 7277/1974, S 123).

Die einschreitenden Beamten der Bundespolizeidirektion W. konnten, wie sich aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergibt, mit gutem Grund annehmen, daß in der Wohnung W., W-straße 132a, ein Einbruchsdiebstahl verübt worden war (Verbrechen nach §129 Z1 StGB) und daß die beiden Beschwerdeführer Mittäter (§12 StGB) seien. Die beiden Beschwerdeführer wurden kurz nach der Tat von den Zeugen B. und S. glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt und schon eine gute Stunde später festgenommen. Unter diesen Voraussetzungen war die Festnahme durch §177 Abs1 Z1 StPO gedeckt; jedenfalls unter diesen Umständen war auch der von dieser Gesetzesbestimmung verlangte enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Tat und dem behördlichen Einschreiten gegeben.

b) Nach §177 Abs2 StPO ist der durch Organe der Sicherheitsbehörden aus eigener Macht in Verwahrung Genommene durch die Sicherheitsbehörde unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen und, wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden ist, sogleich freizulassen, sonst aber binnen 48 Stunden dem zuständigen Gericht einzuliefern.

Es wäre, ohne den Erfolg der Amtshandlung - nämlich die Aufklärung des Einbruchsdiebstahls - zu gefährden, möglich gewesen, den Beschwerdeführern nach ihrer Überstellung ins Koat. F. (also bereits am 13. November 1979 gegen 23 Uhr) den gegen sie bestehenden Verdacht vorzuhalten und sie zur Rechtfertigung zu verhalten. Wäre dies geschehen, so hätten sie die Möglichkeit gehabt, den gegen sie vorliegenden Verdacht sofort zu entkräften. Die Gelegenheit zur Rechtfertigung - die dann zur sofortigen Enthaftung führte - wurde ihnen aber erst am nächsten Tag gegeben, ohne daß in der Zwischenzeit etwas eingetreten wäre, was aus dem Gesichtspunkt des Erfolges der Amtshandlung die Verschiebung der Einvernahme der Beschwerdeführer hätte geboten erscheinen lassen. Insb. kann die Verzögerung der Einvernahme (und die dadurch verursachte Verzögerung der Enthaftung) nicht damit motiviert werden, daß vorerst der Geschädigte befragt werden müßte, da - wie oben dargetan - die Beschwerdeführer noch vor dessen Auskunftserteilung enthaftet wurden.

Die Festnahmen und Anhaltungen der Beschwerdeführer waren sohin zunächst rechtmäßig. Ab dem Eintritt der vermeidbaren Verzögerung der Entlassung (13. November 1979, etwa 23 Uhr) wurden die Anhaltungen aber rechtswidrig (vgl. VfSlg. 7081/1973).

Die Verzögerung der Entlassung aus der Haft ist offenbar darauf zurückzuführen, daß mehrere Dienststellen der Bundespolizeidirektion W (die Koat. F und W, der Informationsdienst und der Zentraljournaldienst) zusammenwirkten, ohne daß sich eines der Organe tatsächlich für die Amtshandlung und für ihre möglichst rasche Durchführung verantwortlich fühlte. Das rechtfertigt aber keineswegs die weitere Anhaltung.

c) Die Beschwerdeführer sind also durch die am 13. November 1979 um etwa 21.15 Uhr erfolgte Festnahme und durch die Anhaltung bis etwa 23 Uhr nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit und auch nicht in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden. Der VfGH hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die dieser Amtshandlung zugrunde liegenden Rechtsvorschriften. Die Beschwerdeführer sind daher auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Hingegen stellt die folgende, bis 14. November 1979, 11.30 Uhr währende weitere Anhaltung eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit dar.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Anhaltung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1980:B541.1979

Dokumentnummer

JFT_10199394_79B00541_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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