TE Vfgh Erkenntnis 1980/6/13 G5/80

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Veröffentlicht am 13.06.1980
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Index

L9 Sozial- und Gesundheitsrecht
L9210 Behindertenhilfe, Pflegegeld, Rehabilitation

Norm

B-VG Art2 Abs1
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art10-12
B-VG Art10 ff
B-VG Art15 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
Wr BehindertenG §33a Abs2 idF LGBl 10/1975

Beachte

vgl. Kundmachung LGBl. 34/1980 am 1. Oktober 1980; s. Anlaßfall B487/76 v. 23. Oktober 1980

Leitsatz

Wr. Behindertengesetz; §33a Abs2 idF LGBl. 10/1975 gleichheitswidrig

Spruch

1. §33a Abs2 des Behindertengesetzes, LGBl. für Wien 22/1966, idF der 2. Behindertengesetz-Nov., LGBl. 10/1975, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Der Landeshauptmann von Wien ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Landesgesetzblatt verpflichtet.

2. Im übrigen wird das Gesetzesprüfungsverfahren eingestellt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. Beim VfGH ist zu B487/76 das Verfahren über eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, die sich gegen einen im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Amtes der Wr. Landesregierung wendet.

Mit diesem Bescheid war der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Ausweises für Behinderte gem. §33a Abs1 des Wr. Landesgesetzes vom 8. Juli 1966, LGBl. 22, über die Hilfe für Behinderte (Behindertengesetz), idF der 2. Behindertengesetz-Nov., LGBl. 10/1975 (im folgenden kurz: BehindertenG), gem. §33a Abs2 leg. cit. abgewiesen worden.

2. Bei der Beratung des VfGH über diese Beschwerde haben sich Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des §33a BehindertenG ergeben.

Der VfGH hat daher beschlossen, aus Anlaß der erwähnten Beschwerde von Amts wegen nach Art140 B-VG ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetzesbestimmung einzuleiten.

3. Gem. §1 Abs1 BehindertenG gelten als Behinderte iS dieses Gesetzes Personen, die infolge eines Leidens oder Gebrechens in ihrer Fähigkeit, eine angemessene Erziehung und Schulbildung zu erhalten oder einen Erwerb zu erlangen oder beizubehalten, dauernd wesentlich beeinträchtigt sind.

Nach §1 Abs2 ist Voraussetzung für eine Hilfeleistung, daß der Behinderte

a) die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt,

b) seinen Wohnsitz in Wien hat und

c) aufgrund anderer Rechtsvorschriften - mit Ausnahme des Wiener Sozialhilfegesetzes, LGBl. 11/1973 - keine Möglichkeit auf Erlangung gleichartiger oder ähnlicher Leistungen besitzt.

In dem durch die 2. Behindertengesetz-Nov. neu eingeführten, unter der Überschrift "Ausweise für Behinderte" stehenden §33a Abs1 ist vorgesehen, daß Behinderten, die die Voraussetzungen des §1 Abs1 und 2 lita und b erfüllen, und infolge eines Leidens oder Gebrechens iS des §2 in ihrer Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 vH eingeschränkt sind, auf Antrag ein Lichtbildausweis (Behindertenausweis) auszustellen ist.

§33a Abs2 lautet:

"Von der Ausweisstellung sind Personen ausgeschlossen, bei denen das Leiden oder Gebrechen als anspruchsbegründender Tatbestand nach anderen Rechtsvorschriften - ausgenommen das Wiener Blindenbeihilfengesetz 1969, LGBl. für Wien Nr. 14 - festgestellt wurde."

Dem §33a Abs3 zufolge sind nähere Bestimmungen über die Form des Ausweises durch Verordnung der Landesregierung zu treffen.

4. Der VfGH hat in dem dieses Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschluß vom 20. Oktober 1979 vorläufig angenommen, daß er bei seiner Entscheidung im Anlaßverfahren - ebenso wie die belangte Behörde - jedenfalls §33a Abs2 BehindertenG anzuwenden habe und daß die Abs1 und 3 des §33a mit dem Abs2 eine untrennbare Einheit darstellen. Der VfGH ist daher im Einleitungsbeschluß davon ausgegangen, daß §33a BehindertenG zur Gänze präjudiziell sei.

Der VfGH hat die Bedenken gegen diese Gesetzesvorschrift wie folgt umschrieben:

"a) §33a Abs1 BehindertenG sieht die Ausstellung von besonderen Ausweisen für alle Behinderten im Sinne des §1 Abs1 - also für alle Personen, die infolge eines Leidens oder Gebrechens in ihrer Fähigkeit, eine angemessene Erziehung und Schulbildung zu erhalten oder einen Erwerb zu erlangen oder beizubehalten, dauernd wesentlich beeinträchtigt sind - vor, sofern sie österreichische Staatsbürger sind, den Wohnsitz in Wien haben und sofern ihre Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 v. H. eingeschränkt ist. Der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, daß dieser Ausweis nicht etwa die Funktion eines Feststellungsbescheides hat, der den Behörden gegenüber die Anspruchsberechtigung nach dem BehindertenG dartut, sondern daß das mit einem Lichtbild zu versehende Dokument dazu dient, es dem Behinderten zu erleichtern, sich der Öffentlichkeit gegenüber als Behinderter auszuweisen (vgl. die Verordnung der Wiener Landesregierung vom 22. April 1975, LGBl. 16, über die Form der Ausweise für Behinderte; danach hat es im Ausweis unter anderem zu lauten: Dieser Leidenszustand erfordert Rücksichtnahme und Entgegenkommen.). Der Sinn dieser Gesetzesbestimmung ist anscheinend - unabhängig von sonstigen zugunsten der Behinderten vorgesehenen Maßnahmen (§3 Abs1 BehindertenG) - eine besondere Art der Hilfeleistung einzuführen, nämlich den Behinderten durch Vorweis eines speziellen Ausweises zu ermöglichen, ohne peinliche Erklärungen im Hinblick auf das Leiden oder Gebrechen von den Mitmenschen die gebotene Rücksichtnahme zu erlangen.

b) Der Verfassungsgerichtshof vermag vorerst nicht einzusehen, worin die sachliche Rechtfertigung gelegen sein könnte, diesen Vorteil nicht allen Schwerbehinderten in gleicher Weise zuteil werden zu lassen, sondern von der Ausweisleistung Personen auszuschließen, die nach anderen Rechtsvorschriften - ausgenommen nach dem Wiener Blindenbeihilfengesetz 1969 - aufgrund des Leidens oder Gebrechens einen Anspruch auf Hilfeleistung haben. Diese Hilfeleistung muß nämlich anscheinend nicht auch den Anspruch auf Ausstellung eines gleichartigen Ausweises in sich schließen. Es scheint sohin, daß die getroffene Regelung dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz zuwiderläuft.

c) Offenbar ist der Wiener Landesgesetzgeber davon ausgegangen, daß ihm die Bundesverfassung nicht die Kompetenz einräume, die Ausstellung von Ausweisen für alle Schwerbehinderten vorzusehen, sondern daß ihm die Regelungszuständigkeit dann fehle, wenn die Ausweisausstellung in Zusammenhang mit einer Angelegenheit stehe, die der Gesetzgebung nach Bundessache ist (vgl. Blg. Nr. 2 aus 1975 zu den Prot. des Wr. Landtages, Seiten 2, 3 und 19 der Erläuternden Bemerkungen).

Im Gesetzesprüfungsverfahren wird zu klären sein, ob und in welcher Richtung diese Überlegungen zutreffen.

So wäre es denkbar anzunehmen, daß der Landesgesetzgeber die Ausstellung von Behindertenausweisen nur für jene Personen vorsehen darf, für die er (sonstige) Behindertenhilfe leisten darf. Es könnte also etwa die Meinung vertreten werden, der Landesgesetzgeber dürfe die Ausstellung solcher Ausweise für alle Behinderten vorsehen, soweit deren Betreuung nicht der Gesetzgebung nach dem Bund vorbehalten ist. (In diesem Fall wäre der Landesgesetzgeber beispielsweise zuständig, eine Ausweisausstellung für im Ruhestand befindliche Landesbeamte vorzusehen, die aufgrund ihrer Behinderung einen Hilflosenzuschuß - §27 der Wiener Pensionsordnung 1966, LGBl. 19/1967 - erhalten.)

Andererseits könnte aber auch der Standpunkt eingenommen werden, daß für die Normierung von Behindertenausweisen überhaupt keine kompetenzrechtlichen Schranken gesetzt seien und es unter dem Gesichtspunkt der Behindertenhilfe dem Landesgesetzgeber unbeschränkt freistehe, zumindest die Ausstellung von Ausweisen, die eine Behinderung dem Publikum gegenüber dokumentieren, vorzusehen, dies ungeachtet des Umstandes, daß auch der Bundesgesetzgeber berechtigt sei, unter anderen Gesichtspunkten (etwa der Fürsorge für Kriegsteilnehmer und deren Hinterbliebene, der Sozialversicherung oder des Dienstrechtes der Bundesbediensteten) Fürsorgeleistungen im Falle der Behinderung für denselben Personenkreis zu normieren."

5. Die Wr. Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Gesetzesstelle mit folgenden Argumenten verteidigt:

"Die im Abs2 des §33a Behindertengesetz getroffene Ausschließung von Personen, bei denen das Leiden oder Gebrechen als anspruchsbegründender Tatbestand nach anderen Rechtsvorschriften festgestellt wurde, hat der Landesgesetzgeber - wie auch aus den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien ersichtlich - aus kompetenzrechtlichen Erwägungen getroffen. Faßt man nämlich die Maßnahmen der Ausweisausstellung als Annex zum Leistungsrecht auf, so fehlt dem Landesgesetzgeber die Zuständigkeit, die Ausweisausstellung auch bei den Personen vorzusehen, deren Behinderung nach bundesgesetzlichen Vorschriften (zB. ASVG, Kriegsopferversorgungsgesetz, Opferfürsorgegesetz, Pensionsgesetz des Bundes) anerkennt ist und die aufgrund dieser Vorschriften Leistungen erhalten. Es können daher für die Ausstellung von Behindertenausweisen verschiedene Gebietskörperschaften zuständig sein. Im Bereich des Bundes gibt es bereits einheitliche Ausweise für Schwerkriegsbeschädigte und Schwerbeschädigte des Bundesheeres, für Opfer politischer Verfolgung, überdies Amtsbescheinigungen und Opferausweise. Nach der letzten Novelle zum Invalideneinstellungsgesetz, BGBl. Nr. 111/1979, ist ebenfalls die Ausstellung von Ausweisen an begünstigte Invalide gemäß §14a vorgesehen.

Da es in der österreichischen Rechtsordnung keinen einheitlichen Begriff des Behinderten oder der Behinderung und damit auch keinen eigenen Kompetenztatbestand Ausstellung von Ausweisen für Behinderte gibt, ist die Ausstellung von solchen Ausweisen als Annex der entsprechenden Leistungsgesetze, in denen der Begriff Behinderter verwendet wird, anzusehen. Für das Wiener Behindertengesetz ergibt sich dies auch daraus, daß die Ausweisausstellung nicht als eigene Leistung im Leistungskatalog gemäß §3 Abs1 angeführt ist.

Nach diesen Überlegungen sind dem Landesgesetzgeber für die Normierungen von Behindertenausweisen kompetenzrechtliche Schranken gesetzt und liegt in dem Ausschluß jener Behinderten, deren Betreuung der Gesetzgebung des Bundes vorbehalten ist, kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz."

Die Wr. Landesregierung beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung nicht verfassungswidrig ist.

6. Äußerungen haben auch die Landesregierungen von OÖ, Sbg. und Vbg. abgegeben.

II. Der VfGH hat zur Zulässigkeit des Gesetzesprüfungsverfahrens erwogen:

1. Die im Anlaßbeschwerdeverfahren belangte Behörde hat ihre ablehnende Entscheidung in materieller Hinsicht auf §33a Abs2 BehindertenG gestützt. Auch der VfGH hätte diese Gesetzesstelle bei seiner Entscheidung im Anlaßverfahren anzuwenden. Sie ist präjudiziell.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Durchführung des von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens in Ansehung dieser Bestimmung zulässig.

2. Die Bedenken des VfGH richten sich nicht gegen die Regel des §33a Abs1 BehindertenG, sondern gegen die Ausnahmebestimmung des §33a Abs2 (s. o. I.4.).

Die Abs1 und 3 nehmen weder ihrem Wortlaut noch ihrem Inhalt nach auf den Abs2 Bezug. Im Falle der Aufhebung des Abs2 würde der verbleibende Gesetzestext nicht unanwendbar und auch nicht im Inhalt völlig geändert. Die Abs1 und 3 sind daher - entgegen der Annahme im Einleitungsbeschluß - von Abs2 durchaus trennbar (vgl. zB VfSlg. 6674/1972, 7376/1974, 8155/1977; s. auch VfSlg. 8806/1980 - diesem Erk. lag aber ein Sachverhalt zugrunde, der sich von dem hier gegebenen dadurch wesentlich unterscheidet, daß dort in den Anlaß-Beschwerdefällen ausschließlich die Regel angewendet wurde, während hier die Ausnahmebestimmung zum Tragen kam).

Das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §33a Abs1 und 3 war sohin einzustellen.

III. In der Sache selbst hat der VfGH erwogen:

1. Die Wr. Landesregierung rechtfertigt die Ausnahmebestimmung des §33a Abs2 BehindertenG ausschließlich damit, daß dem Landesgesetzgeber für die Normierung von Behindertenausweisen kompetenzrechtliche Schranken gesetzt seien und daher im Ausschluß jener Behinderten, deren Betreuung der Gesetzgebung des Bundes vorbehalten ist, kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz vorliege (s. o. I.5.).

Es ist daher zunächst zu untersuchen, ob die von der Wr. Landesregierung angenommenen Schranken für eine umfassende Regelung der Ausstellung von Ausweisen für Behinderte bestehen.

a) Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Bestimmung, daß die Hilfe für Behinderte, im besonderen die Ausstellung von Ausweisen für diesen Personenkreis, in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt, besteht nicht. Ebensowenig gibt es eine ausdrückliche Bestimmung, die die Regelung der Behindertenhilfe der Landesgesetzgebung zuweist.

Die Generalkompetenz zur Gesetzgebung liegt nach dem System der Bundesverfassung bei den Ländern. Von der Zuständigkeit der Bundesländer sind nur diejenigen Angelegenheiten ausgenommen, welche ausdrücklich in die Zuständigkeit des Bundes verwiesen sind. Trotz dieses Umstandes und obgleich die Behindertenhilfe kein eigener Kompetenztatbestand nach den Bestimmungen des B-VG ist und auch durch andere verfassungsgesetzliche Bestimmungen nicht ausdrücklich dem Bund zur Regelung übertragen wurde, ist eine vollständige oder teilweise Unterstellung unter einen anderen Kompetenztatbestand als den des Art15 Abs1 B-VG nicht ausgeschlossen.

In der österreichischen Verfassungsordnung sind konkurrierende Kompetenzen nicht vorgesehen. Damit wird aber nicht ausgeschlossen, daß ein Lebenssachverhalt unter verschiedenen, sich aus bestimmten Sachgebieten ergebenden Gesichtspunkten zum Gegenstand mehrerer gesetzlicher Regelungen gemacht wird, auch wenn sich diese auf verschiedene kompetenzrechtliche Grundlagen stützen (vgl. hiezu die ständige Judikatur des VfGH, zB VfSlg. 2674/1954, 7792/1976, 7936/1976 und 8005/1977).

b) Die Ausstellung von Ausweisen für Behinderte ist kein eigener Kompetenztatbestand. Die Zuständigkeit zur Regelung einer solchen Ausweisausstellung ist ein Annex zur Kompetenz, Regelungen über Leistungen für Behinderte zu treffen.

Die Zuständigkeit zu einer derartigen Leistungsregelung wiederum ergibt sich als Ausfluß der Kompetenz zur Regelung der einzelnen Sachgebiete, die mit der Hilfe und Unterstützung für Behinderte zusammenhängen.

Es können daher sowohl der Bund als auch die Länder der Behindertenhilfe dienende Maßnahmen vorsehen, jede dieser Autoritäten jedoch immer nur auf Sachgebieten, die nach der Kompetenzverteilung der Bundesverfassung in ihre Zuständigkeit fallen.

Die vom bundesstaatlichen Prinzip her gebotene Trennung der Gesetzgebung in eine solche des Bundes und in eine solche der Länder verhält aber jeden zuständigen Gesetzgeber, bei seiner Regelung alle in Betracht kommenden Rechtsvorschriften der gegenbeteiligten Gebietskörperschaften zu berücksichtigen.

c) Aus der Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers zur Regelung der in den Kompetenzbestimmungen der Art10 bis 12 B-VG umschriebenen Sachgebiete - etwa "Sozialversicherungswesen" (Art10 Abs1 Z11), "Gesundheitswesen" (Art10 Abs1 Z12), "Fürsorge für Kriegsteilnehmer und deren Hinterbliebene" (Art10 Abs1 Z15), "Dienstrecht der Bundesbediensteten" (Art10 Abs1 Z16) und "Armenwesen" (Art12 Abs1 Z1) - fließt auch seine Kompetenz, Maßnahmen zur Behindertenhilfe vorzusehen, soweit sie mit diesen Sachgebieten im Zusammenhang stehen.

Für den Landesgesetzgeber besteht die Zuständigkeit, im Rahmen seiner Generalkompetenz (Art15 Abs1 B-VG) Maßnahmen zur Behindertenhilfe dann vorzusehen, wenn sie nicht (vornehmlich) auf Gesichtspunkte zurückzuführen sind, die sich aus einem dem Bund zur Regelung vorbehaltenen Sachgebiet ergeben.

d) Der im §33a BehindertenG vorgesehene Ausweis für (Schwer)Behinderte beurkundet keinen Anspruch auf Maßnahmen iS des §3 des Gesetzes, sondern dient ausschließlich dazu, es dem Behinderten zu erleichtern, sich der Öffentlichkeit gegenüber als Behinderter auszuweisen. Der Sinn dieser Gesetzesbestimmung ist - unabhängig von sonstigen zugunsten der Behinderten vorgesehenen Maßnahmen (§3 Abs1 Behindertengesetz) - eine besondere Art der Hilfeleistung einzuführen, nämlich den Behinderten durch Vorweis eines speziellen Ausweises zu ermöglichen, ohne peinliche Erklärungen über das Leiden oder Gebrechen von den Mitmenschen die gebotene Rücksichtnahme zu erlangen.

Eine solche Bestimmung greift nicht in ein Sachgebiet ein, das dem Bund zur Regelung vorbehalten ist. Wie die Vbg. Landesregierung in ihrer Äußerung zutreffend hervorhebt, ist der wesentliche Gesichtspunkt dieser Regelung, das Zusammenleben von Behinderten (ohne jede Spezifikation, etwa nach der Art der Entstehung der Behinderung, der finanziellen Leistungsfähigkeit des Behinderten oder seiner beruflichen Zugehörigkeit) und Nicht-Behinderten zu regeln. Der Landesgesetzgeber ist daher zuständig, die Ausstellung von Ausweisen für alle Behinderten vorzusehen, auch wenn diese Fürsorgeleistungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften erhalten (vgl. hiezu auch die in ähnliche Richtung gehenden Erk. VfSlg. 4609/1963, S 882, und 4766/1964, S 440).

2. Die Ausnahmeregelung des §33a Abs2 Behindertengesetz wird sohin nicht durch kompetenzrechtliche Überlegungen erzwungen.

Es ist daher noch zu prüfen, ob sie durch andere Erwägungen sachlich gerechtfertigt werden kann.

Die Wr. Landesregierung bringt in dieser Hinsicht nichts vor.

Der nach §33a BehindertenG vorgesehene Ausweis beurkundet - wie dargetan - lediglich, daß sein Inhaber schwer behindert ist, nicht aber, daß ein Anspruch auf sonstige Hilfeleistung besteht. Es gibt keine sachliche Rechtfertigung dafür, Schwerbehinderte von der Ausstellung eines Ausweises nur deshalb auszuschließen, weil sie aufgrund anderer Rechtsvorschriften Anspruch auf Hilfeleistungen haben. Ein derartiger Anspruch gewährleistet nämlich nicht mit Sicherheit auch das Recht auf Ausstellung eines Ausweises, der dem nach §33a BehindertenG ähnlich ist. Sachlich wäre etwa eine Regelung, wonach von der Ausweisausstellung Personen ausgeschlossen sind, denen aufgrund anderer Rechtsvorschriften ein gleichartiger Ausweis zusteht. Sachlich wäre aber beispielsweise auch eine Regelung, die diese Einschränkung nicht enthält und demnach die Möglichkeit eröffnet, daß jemand aufgrund seiner Behinderung zwei Ausweise erhält; ein einheitlicher Ausweis für alle Wiener Behinderten kann durchaus sinnvoll sein, um den oben geschilderten Zweck zu erfüllen.

3. §33a Abs2 BehindertenG widerspricht also dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebot und war daher als verfassungswidrig aufzuheben.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Kompetenz Bund - Länder, Auslegung Verfassungs-, Bundesstaat, Behinderte, Sozialhilfe, Kompetenz Bund - Länder Behindertenhilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1980:G5.1980

Dokumentnummer

JFT_10199387_80G00005_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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