TE Vfgh Beschluss 1983/2/28 B471/79, G53/79

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Veröffentlicht am 28.02.1983
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Index

L1 Gemeinderecht
L1010 Stadtrecht

Norm

B-VG Art83 Abs2
B-VG Art115 Abs2
B-VG Art117 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs1 / Bescheid
Innsbrucker Stadtrecht 1975 §29 Abs6
Innsbrucker Stadtrecht 1975 §30 Abs3

Leitsatz

Art140 Abs1 B-VG; Individualantrag auf Aufhebung des §29 Abs6 und eines Satzteiles in §30 Abs3 des Innsbrucker Stadtrechtes 1975; keine Legitimation - keine Berührung der Rechtssphäre des Antragstellers, sondern Regelung einer Organfunktion Art144 Abs1 B-VG; Zurückweisung eines nach §29 Abs6 des Innsbrucker Stadtrechtes gestellten Begehrens, einen Beschluß des Stadtsenates dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen - keine nach Art144 B-VG anfechtbare Maßnahme

Spruch

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

I. 1. Nach dem Stadtrecht der Landeshauptstadt Innsbruck 1975 (Anlage zur Kundmachung der Landesregierung LGBl. 53/1975 über die Wiederverlautbarung des Stadtrechtes der Landeshauptstadt Innsbruck) - fortan Stadtrecht - sind als Gemeindeorgane ua. der aus der Mitte des Gemeinderates gewählte Stadtsenat (§§9 und 11) sowie die aus der Mitte des Gemeinderates gewählten Verwaltungsausschüsse für wirtschaftliche Unternehmungen (§§9 und 30 Abs3) vorgesehen.

Dr. W. St. gehört der Wählergruppe (Gemeinderatspartei) "Fraktion Innsbrucker Liste für Ordnung und Fortschritt (TAB)" im Gemeinderat der Landeshauptstadt Innsbruck an und ist seit 31. März 1978 Mitglied des Stadtsenates (Stadtrat) sowie mehrerer Ausschüsse des Gemeinderates, darunter des im Mai 1979 aus dem Verwaltungsausschuß für die Versorgungsunternehmungen und dem Verwaltungsausschuß für die Wirtschaftsunternehmungen gebildeten (gemeinsamen) Verwaltungsausschusses für die Stadtwerke, und zwar jeweils als einziges Mitglied seiner Partei.

2. Über den Geschäftsgang im Stadtsenat und in den Ausschüssen des Gemeinderates enthält das Stadtrecht nachstehende Bestimmungen:

§29 Abs6:

"(6) Eine Berufung gegen Beschlüsse des Stadtsenates an den Gemeinderat ist nicht zulässig. Ist jedoch eine Partei (Wählergruppe) durch mindestens zwei Mitglieder im Stadtsenat vertreten, so kann jedes von ihnen begehren, einen gefaßten Beschluß - mit Ausnahme von Personalangelegenheiten - dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen. Ein solches Begehren, das spätestens bis zum Schluß der Sitzung gestellt werden kann und in die Niederschrift aufzunehmen ist, hemmt den Vollzug des Beschlusses. Erfolgt kein Widerruf, so ist der Beschluß als Antrag des Stadtsenates ohne Verzug dem Gemeinderat vorzulegen."

§30 Abs3, vierter bis sechster Satz:

"(3) ... Eine Berufung gegen Beschlüsse der Verwaltungsausschüsse an den Gemeinderat ist nicht zulässig; wenn jedoch eine Partei (Wählergruppe) durch mindestens zwei Mitglieder in einem Verwaltungsausschuß vertreten ist, so kann jedes von ihnen begehren, einen gefaßten Beschluß - mit Ausnahme von Personalangelegenheiten - dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen. Ein solches Begehren, das spätestens bis zum Schluß der betreffenden Sitzung gestellt werden kann und in die Niederschrift aufzunehmen ist, hemmt den Vollzug des angefochtenen Beschlusses. Erfolgt kein Widerruf durch den Gemeinderat, so ist der Beschluß unverzüglich zu vollziehen."

3. In der Sitzung des Stadtsenates am 10. Oktober 1979 stellte Stadtrat Dr. W. St. zum Tagesordnungspunkt "Ausbau der Maria-Theresien-Straße, Projektierungsarbeiten" den "Minderheitsantrag", den vom Stadtsenat gefaßten Beschluß, ein namentlich genanntes Zivilingenieurbüro mit der Erarbeitung eines generellen und eines Detailprojektes einschließlich der erforderlichen Vermessungsarbeiten zu beauftragen, dem Gemeinderat vorzulegen.

Laut der Niederschrift über diese Sitzung hat der Bürgermeister den Antrag zurückgewiesen, "da er iS des Stadtrechts nicht möglich ist, weil nicht zwei Mandatare des TAB im Stadtsenat sitzen".

4. Dr. W. St. hält den §29 Abs6 und die dem Strichpunkt im vierten Satz des §30 Abs3 des Stadtrechtes folgenden Worte dieses Absatzes für verfassungswidrig und macht diese Verfassungswidrigkeit prozessual in zweifacher Weise geltend:

Er erhebt eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen die - von ihm als einen Akt unmittelbarer Befehlsgewalt gewertete - Zurückweisung seines im Stadtsenat gestellten Antrages durch den Bürgermeister; er erachtet sich dadurch in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes verletzt (Beschwerde zu B471/79);

er stellt weiters einen auf Art140 B-VG gestützten Individualantrag auf Aufhebung der für verfassungswidrig gehaltenen vorstehenden genannten Bestimmungen des Stadtrechtes (Antrag zu G53/79).

a) In der Beschwerde zu B471/79 ist - auf das Wesentliche zusammengefaßt - ausgeführt:

Der Beschwerdeführer qualifiziert die Zurückweisung seines Antrages im Stadtsenat durch den Bürgermeister als Bescheid bzw. eine "faktische Amtshandlung i.S. Art144 B-VG". Maßgebend für die Qualifikation eines Rechtsaktes als Bescheid sei nicht dessen Form, sondern der Inhalt des vom Verwaltungsorgan gesetzten Handelns. Maßnahmen des Vorsitzenden einer Kollegialbehörde, die ein Mitglied des Kollegiums betreffen (wie Worterteilung, Ruf zur Sache, Entziehung des Wortes usw.), seien zwar keine Bescheide, da es sich dabei um Vorgänge interner Natur handle, die dem Bereich der Willensbildung der Behörde angehörten (etwa VfSlg. Anh. 3/1955 oder 6110/1969). Die Grenzen des internen Bereiches der Willensbildung seien jedoch fließend (VfSlg. 6110/1969).

Die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers gehe über den Bereich der internen Willensbildung hinaus. Dadurch werde nämlich vom Bürgermeister als Vorsitzendem des Stadtsenates normativ festgestellt, daß ein subjektives Recht - das in §29 Abs6 Stadtrecht normierte Recht des einzelnen Stadtrates, die Vorlage eines Beschlusses des Stadtsenates an den Gemeinderat zur Entscheidung zu verlangen - vom Beschwerdeführer nicht ausgeübt werden dürfe.

Die angefochtene Zurückweisung könne nicht als bloße Mitteilung über Tatsachen angesehen werden. Es sei damit durch einen hoheitlichen Akt für den Beschwerdeführer rechtsverbindlich festgestellt worden, daß die Ausübung der in §29 Abs6 Stadtrecht normierten Befugnisse ihm nicht zustehe. In diesem Sinne besitze die Verfügung des Bürgermeisters die normative Kraft eines individuellen Verwaltungsaktes iS des Art144 Abs1 B-VG.

Der Instanzenzug sei erschöpft. Der Bürgermeister habe als Vorsitzender des Stadtsenates, somit als Teil des Kollegiums, bescheidmäßig über einen Verfahrensakt dieser Behörde entschieden. Eine Berufungsmöglichkeit gegen Verfahrensakte des Stadtsenates sei im Stadtrecht nicht vorgesehen und könne auch aus keiner anderen Rechtsquelle abgeleitet werden. §81 Stadtrecht schließe eine Vorstellung an die Landesregierung aus. Dem Beschwerdeführer habe sohin auch diese Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung nicht offengestanden.

Gegen die Verfassungsmäßigkeit "des §29 Abs6 sowie des gleichgerichteten §30 Abs3 Stadtrecht" ergäben sich eine Reihe von Bedenken.

§29 Abs6 schließe im ersten Satz eine Berufung gegen Beschlüsse des Stadtsenates an den Gemeinderat grundsätzlich aus. Im zweiten Satz werde jedoch eine Ausnahme dergestalt festgelegt, daß dem einzelnen Mitglied des Stadtsenates, das einer Partei angehört, die mindestens zwei Mitglieder in den Stadtsenat entsendet, das Recht zuerkannt werde, einen gefaßten Beschluß des Stadtsenates dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen. Da durch ein so gestelltes Begehren der Gemeinderat zur Sachentscheidung zuständig werde, stelle dieses Recht inhaltlich ein subjektives politisches Kontrollrecht der einzelnen Stadträte dar. Dies sei in der Weise angeordnet, daß eine Berufung zwar generell unzulässig sei, ein dem aber völlig gleichzuhaltendes Recht solchen Stadräten zustehe, die einer Partei angehörten, die mindestens zwei Mitglieder in den Stadtsenat entsende.

Diese Bestimmung verstoße zunächst gegen das auch den Gesetzgeber bindende Grundrecht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Die Differenzierung nach der Parteizugehörigkeit verstoße in mehrfacher Hinsicht gegen die Verpflichtung des Gesetzgebers, keine anderen als objektive, d.h. sachlich gerechtfertigte Unterscheidungsmerkmale bei der rechtlichen Behandlung der Staatsbürger heranzuziehen.

Der Stadtsenat habe die in §28 Stadtrecht bezeichneten Aufgaben zu erfüllen. Dabei komme ihm der Charakter einer Kollegialbehörde zu. Durch die angefochtene Bestimmung würden einzelne Mitglieder dieses Kollegialorgans besser gestellt als andere, wobei die Besser- bzw. Schlechterstellung darauf beruhe, welcher Partei das einzelne Mitglied angehöre. Nun könne aber die Zugehörigkeit eines Stadtrates zu einer großen bzw. mittelgroßen oder kleinen Partei sicherlich nicht als sachliche Grundlage dafür angesehen werden, ein individuelles Verfahrensrecht ausüben zu dürfen oder nicht.

Die Ungleichbehandlung der Stadträte nach ihrer Parteizugehörigkeit müsse vielmehr als Willkürmaßnahme gegen konkrete Parteien gesehen werden. Eine verfahrensrechtliche Schlechter- bzw. Besserstellung einzelner Senatsmitglieder bloß auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit sei sohin als gleichheitswidrige, weil unsachliche Privilegierung bzw. Diskriminierung einzelner Teilorgane eines kollegialen Verwaltungsorgans zu werten.

Träger der Funktion "Mitglied des Stadtsenates" sei die vom Gemeinderat gewählte Person und nicht die politische Partei. Die Person sei Organwalter und Teil der Kollegialbehörde. Durch die angefochtene Besser- bzw. Schlechterstellung einzelner Stadträte werde aber der Anknüpfungspunkt der Rechtsstellung des Teilorgans von diesem auf die außerhalb des verwaltungsrechtlichen Geschehens stehende Partei verlagert. Dadurch werde eine Diskriminierung bzw. Privilegierung geschaffen, die im Tatsächlichen, also in der Tätigkeit des Organs, keine sachlich fundierte Grundlage finde. Gesichert solle durch diese Bestimmung lediglich der parteipolitische Einfluß gewisser Parteien auf das Verwaltungshandeln durch Ausschaltung gewisser Verfahrensrechte einzelner Mitglieder des Stadtsenates werden.

Der rechtspolitische Sinn der angefochtenen Regelung liege offenbar darin, daß streitige Beschlüsse des Stadtsenates dem Gemeinderat, dem obersten Gemeindeorgan, zur Entscheidung vorgelegt werden könnten. Das Recht sei als Individualrecht konstruiert, was im Hinblick auf Art118 Abs5 B-VG, der von der Verantwortlichkeit der Mitglieder des Stadtsenates, sohin von einer Individualverantwortung spreche, als solches verfassungskonform sei.

Zusammenfassend könne festgehalten werden, daß die Mitgliedschaft in der Kollegialbehörde Stadtsenat zweifellos von der Angehörigkeit zu einer Partei abhängig gemacht werden könne (Art117 Abs5 B-VG). Daß aber die Ausübung der Mitgliedsrechte einer Kollegialbehörde von der Zugehörigkeit zu bestimmten politischen Parteien abhängig gemacht werden solle, widerspreche sowohl dem Gleichheitsgrundsatz als auch einer auf Rechtsverwirklichung hinorientierten Verwaltungsorganisation.

Da die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers auf einer verfassungswidrigen Norm basiere, sei er auch im Recht auf den gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt, da der Bürgermeister keine Kompetenz zu dieser Entscheidung gehabt habe.

Der Beschwerdeführer beantrage daher, der VfGH möge kostenpflichtig erkennen, daß die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers rechtswidrig gewesen sei.

b) In dem Individualantrag zu G53/79 ist - auf das Wesentliche zusammengefaßt - ausgeführt:

Der Antragsteller sei Mitglied des Innsbrucker Stadtsenates. Als einzigem Mitglied der TAB komme ihm nach den angefochtenen Gesetzesstellen des §29 Abs6 und Teilen des §30 Abs3 Stadtrecht das Recht, Anträge auf Vorlage von Beschlüssen des Stadtsenates bzw. der Verwaltungsausschüsse an den Gemeinderat zu stellen, nicht zu. Insoweit sei er durch diese angefochtenen Bestimmungen unmittelbar in seinen Rechten betroffen.

Die Fällung einer gerichtlichen Entscheidung auf Grund dieser Normen sei nicht möglich.

Auch die Erlassung eines Bescheides sei nicht möglich. Die Zurückweisung des in der Sitzung des Stadtsenates vom 10. Oktober 1979 gestellten Antrages, einen Beschluß an den Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen, könne nicht als Bescheid bzw. für das Verfahren nach Art144 B-VG gleichzuhaltende Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt gewertet werden. Nach der Rechtsprechung (etwa VfSlg. 6110/1969 oder Anh. 3/1955) handle es sich bei der Zurückweisung um einen bloß verfahrensleitenden Akt behördeninterner Natur, der weder als Bescheid noch als eine vor dem im VfGH im Verfahren nach Art144 B-VG anfechtbare faktische Amtshandlung gewertet werden könne.

Somit sei der Antragsteller durch die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen unmittelbar in seinen Rechten verletzt, ohne daß eine gerichtliche Entscheidung ergangen oder ein Bescheid gefällt worden sei.

Die behauptete Verfassungswidrigkeit "des §29 Abs6 sowie des gleichgerichteten §30 Abs3 Stadtrecht" begründet der Antragsteller mit den gleichen Worten, wie sie zur gleichen Frage in der Beschwerde zu B471/79 gebraucht sind. Lediglich ein am Beginn der Darlegungen stehender Satz ist anders formuliert: während in der Beschwerde davon die Rede ist, daß das einem Mitglied des Stadtsenates eingeräumte Recht zu begehren, einen Beschluß des Stadtsenates dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen, "ein subjektives politisches Kontrollrecht der einzelnen Stadträte" darstelle, wird hier ausgeführt, dieses Recht sei "inhaltlich einem Berufungsrecht völlig gleichzuhalten".

Der auf Grund dieser Erwägungen gestellte Antrag geht dahin, der VfGH möge den §29 Abs6 Stadtrecht zur Gänze und vom §30 Abs3 die nach dem Strichpunkt im vierten Satz stehenden Worte dieses Absatzes wegen Verfassungswidrigkeit aufheben.

5. a) Zur Beschwerde (B471/79) erstattete der belangte Bürgermeister der Landeshauptstadt Innsbruck eine Äußerung, in der - auf das Wesentliche zusammengefaßt - ausgeführt ist:

Der Gebrauch des Ausdruckes "Berufung" im Zusammenhang des §30 Abs3 Stadtrecht sei zweifellos nicht unproblematisch. Die Bestimmung habe die Wirkung, daß primär die Willensbildung im Stadtsenat sistiert werde, sodaß diese (vorerst) nach außen hin nicht in Erscheinung treten könne und daß sekundär dann, wenn der Stadtsenat auf seiner Auffassung beharre, die Kompetenz zur Regelung der fraglichen Angelegenheit auf den Gemeinderat übergehe. Ob die in der Niederschrift über die Sitzung des Stadtsenates vom 10. Oktober 1979 protokollierte Verfügung bzw. Äußerung des Bürgermeisters ihrer Rechtsnatur nach als (mündlicher) Bescheid bzw. faktische Amtshandlung des Bürgermeisters einzustufen sei, oder ob sie im konkreten Zusammenhang in eventu den Charakter einer bloßen Belehrung habe, sein ein Problem, welches einer Klärung durch den VfGH anhand des Prozeßergebnisses bedürfe. Zur Sache selbst werde vorweg deponiert, daß dem Bürgermeister keine Ingerenz zukomme, die Verfassungskonformität von Landesgesetzen zu erörtern; er habe vielmehr gültige Normen zu vollziehen.

b) Zum Individualantrag (G53/79) erstattete die Tir. Landesregierung eine Äußerung. Darin wird - auf das Wesentliche zusammengefaßt - ausgeführt:

Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH komme es für die Legitimation zur Stellung eines Individualantrages darauf an, ob die bekämpfte Rechtsvorschrift die Rechtssphäre der antragstellenden Partei berühre und diese - im Falle der Verfassungswidrigkeit - verletze. Im gegebenen Fall scheine diese Voraussetzung hinsichtlich des §29 Abs6 erster Satz Stadtrecht nicht zuzutreffen. Nach §28 Abs2 Stadtrecht kämen dem Stadtsenat einzelne behördliche Zuständigkeiten in Personalangelegenheiten, im übrigen jedoch ausschließlich Aufgaben im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung zu. Den Verwaltungsausschüssen könnten, wie sich aus §30 Abs3 ergebe, nur privatwirtschaftliche Aufgaben übertragen werden. Die systematische Stellung der die Berufung gegen Beschlüsse des Stadtsenates ausschließenden Bestimmung - sie finde sich in dem mit "Geschäftsgang" überschriebenen, die Geschäftsordnung des Stadtsenates in ihren Grundzügen regelnden §29 - spreche dafür, daß es sich hiebei um eine dem Geschäftsordnungsrecht angehörende Regelung handle, die sich nicht etwa an die "Parteien" eines dem Beschluß zugrunde liegenden "Verwaltungsverfahrens" richte, sondern sich auf die Mitglieder des Stadtsenates beziehe. Dabei komme dieser Bestimmung nur deklarative Bedeutung zu. Es fehle ihr die Eigenschaft einer Norm, die geeignet wäre, in die Rechtssphäre einer Person einzugreifen.

Dazu komme noch ein Weiteres. Im vorliegenden Fall richte sich das Vorbringen des Antragstellers nicht gegen den ersten Satz des §29 Abs6 Stadtrecht. Der Antragsteller bringe Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit nur der näher bezeichneten Worte des §30 Abs3 sowie der gleichartigen Bestimmungen des §29 Abs6 zweiter bis vierter Satz vor, nicht aber auch Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des §29 Abs6 erster Satz.

Soweit sich die Anfechtung gegen §29 Abs6 erster Satz Stadtrecht richte, fehle es mithin auch deshalb an einer Prozeßvoraussetzung, weil der Antragsteller es unterlassen habe, Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung darzulegen.

Zur Frage der Antragslegitimation hinsichtlich der übrigen vom Antrag erfaßten Bestimmungen sowie zur Frage der Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen werde von der Abgabe einer Äußerung abgesehen.

II. Der VfGH hat erwogen:

Der Stadtsenat ist bei Städten mit eigenem Statut - gleich dem Gemeinderat - ein vom Landesgesetzgeber (Art115 Abs2 B-VG) von Verfassungs wegen (Art117 Abs1 lita und b B-VG) jedenfalls vorzusehendes gemeindliches Kollegialorgan. Bei der Instituierung von sonstigen Ausschüssen des Gemeinderates als gemeindlichen Kollegialorganen hat der Landesgesetzgeber einen weiten Spielraum (VfSlg. 8447/1978 S 398). Innerhalb dieses Spielraumes hat der Tir. Landesgesetzgeber im Stadtrecht zur Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen der Stadt oder zur Erfüllung allgemeiner wirtschaftlicher Aufgaben die Einsetzung von Verwaltungsausschüssen mit selbständigem Beschlußrecht vorgesehen und solche Ausschüsse als Gemeindeorgane instituiert (§§9 und 30 Abs3), während er hingegen jene Ausschüsse, die nur zur Vorbereitung der der Beschlußfassung des Gemeinderates unterliegenden Angelegenheiten vorgesehen sind, nicht mit Organeigenschaft ausstattet (§§9 und 30 Abs1).

2. Eine Kollegialbehörde kann ihren Willen nur durch Beschluß bilden, der durch Abgabe der Stimmen der Mitglieder zustandekommt (VfSlg. 7837/1976 S 392).

Diese Willensbildung ist somit das Ergebnis eines "gleichzeitigen und gleichartigen, wenngleich verschieden gerichteten Zusammenwirkens einer Mehrzahl von Einzelorganen" (Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Neudruck 1969, S 325 ff.), sie ist das "Resultat einer gemeinschaftlichen Willensbildung (Abstimmungsergebnis) mehrerer Organwalter" (Adamovich - Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1980, S 252).

In dem Bereich der Willensbildung einer Kollegialbehörde haben die einzelnen Mitglieder dieser Behörde eine staatliche Funktion auszuüben, die - sofern nicht gesetzlich anderes normiert ist - ihre subjektive Rechtssphäre nicht berührt. Die die Willensbildung regelnden Normen haben nämlich nicht die Rechtsstellung der Organwalter, sondern deren Funktion zum Gegenstand. Diese schon in VfSlg. 5433/1966 (S 840) und 6110/1969 (S 969) zum Ausdruck gebrachten Überlegungen wurden in der späteren Rechtsprechung des VfGH noch verdeutlichlicht (VfSlg. 8187/1977 S 354, 8210/1977 S 447, 8385/1978 S 107, 8774/1980 S 168).

Im Bereich der kollegialen Willensbildung steht somit auch der diesen Verfahrensvorgang leitende Vorsitzende des Kollegiums dessen Mitgliedern nicht als Verwaltungsbehörde gegenüber (vgl. VfSlg. Anh. 3/1955 S 536, 4864/1964 S 759, 6837/1972 S 812). Würde der Vorsitzende eines Kollegialorganes durch Maßnahmen normativer Art subjektive Rechte eines Mitgliedes berühren - etwa das im passiven Wahlrecht liegende Recht auf Ausübung des Mandates durch Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, die Ausübung des Mandates schlechthin zu verhindern, beispielsweise durch zwangsweise Entfernung eines Mitgliedes aus dem Sitzungssaal -, so läge ein solches Verhalten nicht mehr innerhalb des Bereiches der kollegialen Willensbildung (vgl. VfSlg. 6110/1969 S 969).

3. Die in §29 Abs6 und §30 Abs3 Stadtrecht getroffene Regelung, daß ein Mitglied des Stadtsenates oder eines Verwaltungsausschusses begehren kann, einen Beschluß dieser Organe dem Gemeinderat zur Entscheidung vorzulegen, wodurch der Vollzug des Beschlusses gehemmt wird, ist eine im Bereich der kollegialen Willensbildung liegende Regelung. Es soll damit ermöglicht werden, daß Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Stadt, die primär von einem dem Gemeinderat nachgeordneten Kollegialorgan zu beschließen sind, vom Gemeinderat als dem obersten zur Beschlußfassung in diesen Angelegenheiten berufenen Organ der Stadt (§18 Stadtrecht) beschlossen werden.

Das Gesetz bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß es dem einzelnen Mitglied mit der Möglichkeit, ein solches Begehren zu stellen, ein subjektives Recht einräumen würde, das durch Zurückweisung des Begehrens verletzt werden könnte; bei Gebrauchnahme von dieser Möglichkeit übt das Mitglied lediglich eine Organfunktion (dieser Begriff wird zB in den Beschlüssen VfSlg. 8210/1977 und 8385/1978 verwendet) aus.

4. Die Beschwerde (B471/79) richtet sich somit nicht gegen eine Maßnahme, die mit einer Beschwerde nach Art144 B-VG vor dem VfGH angefochten werden kann.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen, ohne daß das Vorliegen der übrigen Prozeßvoraussetzungen zu prüfen und auf das Sachvorbringen einzugehen war.

5. Der Individualantrag (G53/79) richtet sich nicht gegen gesetzliche Bestimmungen, durch die subjektive Rechte des Antragstellers gestaltet oder berührt werden. Es fehlt daher die grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation, daß das Gesetz die Rechtssphäre der betreffenden Person berührt, daß es in deren Rechtssphäre eingreift und diese - im Falle seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt (VfSlg. 8009/1977 und die seitherige ständige Rechtsprechung).

Der Antrag war daher zurückzuweisen, ohne daß das Vorliegen der übrigen Prozeßvoraussetzungen zu prüfen und auf das Sachvorbringen einzugehen war.

Schlagworte

Gemeinderecht Organe, Gemeinderat, Statutarstadt, Stadtsenat, Gemeindevorstand, Kollegialbehörde, Organwalter, VfGH / Individualantrag, VfGH / Zuständigkeit, VfGH / Bescheid

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1983:B471.1979

Dokumentnummer

JFT_10169772_79B00471_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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