TE Vfgh Erkenntnis 1983/11/25 B442/82

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Veröffentlicht am 25.11.1983
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
PersFrSchG §4
StPO §175 Abs1 Z2 - Z4
StPO §175 Abs2
StPO §177 Abs1 Z2

Leitsatz

Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit; rechtswidrige Verhaftung im Dienste der Strafjustiz; Untunlichkeit der Einholung eines richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug iS des §177 Abs1 Z2 StPO liegt nicht vor

Spruch

Die Bf. ist am 17. Juli 1982 in St. Stefan im Rosental dadurch, daß sie um etwa 11.15 Uhr von Organen des Gendarmeriepostenkommandos St. Stefan im Rosental festgenommen und bis 15.50 Uhr angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. E K begehrte in ihrer unter Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch Amtshandlungen von Gendarmeriebeamten des Gendarmeriepostenkommandos St. Stefan im Rosental, Bezirk Feldbach (Stmk.), nämlich ihre Festnahme am 17. Juli 1982, (etwa) 11.15 Uhr (in den Postenräumlichkeiten anläßlich einer freiwilligen Vorsprache) und Anhaltung in Haft bis 15.50 Uhr desselben Tages, demnach durch Akte unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, und zwar auf persönliche Freiheit (Art8 StGG), auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG, Art2 StGG) verletzt worden sei; zugleich wurde hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt.

1.2. Die Bezirkshauptmannschaft Feldbach als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift und beantragte darin der Sache nach die Zurückweisung der Beschwerde.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. Nr. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. Nr. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 8146/1977).

2.1.2.1. Die Bezirkshauptmannschaft Feldbach führte dazu aus, daß hier eine vor dem VfGH anfechtbare Festnehmung nicht stattgefunden habe, weil die Bf. in der besagten Gendarmeriedienststelle lediglich einvernommen, aber nicht festgenommen worden sei.

2.1.2.2. Der VfGH vermag sich dieser Auffassung aus folgenden Erwägungen nicht anzuschließen:

Aus den vorgelegten Administrativakten geht hervor, daß das Gendarmeriepostenkommando St. Stefan im Rosental die Bf. E K am 19. Juli 1982 unter der Z P 846/82 beim Bezirksgericht Feldbach wegen des Verdachtes des Vergehens des schweren Diebstahles (nach den §§127 Abs1, 128 Abs1 Z1 StGB) schriftlich anzeigte. In dieser Anzeige ist - auf S 4 - ausdrücklich beurkundet, daß die Verdächtige im Zuge der Gendarmerieerhebungen "am 17. Juli 1982 in der Zeit von 11.15 bis 15.50 Uhr bis zur Klärung des Sachverhaltes auf der Gendarmeriedienststelle verwahrt" wurde. Besonders Bezug genommen wird dabei auf Beilage 9 der Anzeige, die folgenden Wortlaut hat:

"Verwahrungsblatt

Zu- und Vorname: E K

geb. am 18. Juli 1934 Staatsangehörigkeit: Österreich

Wohnadresse: ...

Festgenommen am 17. Juli 1982 und 11.15 Uhr

von (Name des Beamten, Dienststelle):

GI M, BI F und I Sch.

wegen: Verd. d. Diebstahls (schweren)

Entlassen am 17. Juli 1982 und 15.50 Uhr"

2.1.3.1. Angesichts dieser Sachlage kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Bf. - wie sie geltend macht - nicht etwa nur als Verdächtige niederschriftlich einvernommen, sondern tatsächlich festgenommen wurde. Die in der Gegenschrift der bel. Beh. erwähnte Einlassung der in Rede stehenden Gendarmeriedienststelle, die Anlegung eines "Verwahrungsblattes" habe dazu gedient, dem Gericht die Dauer der Vernehmung einschließlich der Wartezeiten nachzuweisen und der Bf. die dortige Anwesenheit zu bestätigen, widerspricht der ständigen Übung sowie der allgemeinen Lebenserfahrung und entbehrt jeder inneren Wahrscheinlichkeit. Unter den obwaltenden Verhältnissen vermag schließlich auch der von der bel. Beh. herausgestellte Umstand, die Bf. sei damals vom Ortseinsatzleiter des Roten Kreuzes "medizinisch und menschlich betreut" worden und habe sogar telefonieren dürfen, an der durch die Festnahme verfügten Einschränkung der Bewegungsfreiheit, jedenfalls auf die Räume des Gendarmeriepostens, nichts zu ändern.

2.1.3.2. Zusammenfassend handelt es sich hier also um eine Festnahme und Anhaltung iS der einleitenden Ausführungen zu Punkt 2.1.1.

2.1.4. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.

2.2.1. Der VfGH geht in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes unter dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Bf. im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehls festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm. §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in den hier allein in Betracht kommenden Fällen des §175 Abs1 Z2 bis 4 und Abs2 StPO (s. §177 Abs1 Z2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung eines richterlichen Befehles wegen Gefahr im Verzuge nicht tunlich ist.

2.2.2.1. Für die Prüfung der Frage, ob Gefahr im Verzug besteht, gilt ein strenger Maßstab: Von der grundsätzlichen Regel, daß ein richterlicher (Haft-)Befehl einzuholen ist, darf nur in besonderen Fällen, dh. wenn besondere Umstände eine Einholung nicht erlauben, abgegangen werden (vgl. VfSlg. 8680/1979). Untunlich - wegen Gefahr im Verzug - ist die Einholung eines richterlichen Befehls zB im allgemeinen dann nicht, wenn mit dem Untersuchungsrichter des zuständigen Gerichts während der Dienst- und Journaldienststunden unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann (VfSlg. 4450/1963, 4624/1963).

2.2.2.2. Diese Möglichkeit war hier gegeben: Die Bf. hatte am Samstag, den 17. Juli 1982 das Gendarmeriepostenkommando St. Stefan im Rosental aus eigenem Antrieb aufgesucht. Vor ihrer Festnahme an Ort und Stelle hätten die amtshandelnden Gendarmerieorgane ohne weiteres an den - damals jederzeit erreichbaren - Journalrichter des zuständigen Landesgerichtes für Strafsachen Graz telefonisch herantreten können, um sogleich einen richterlichen Befehl einzuholen. Erst nach allfälligem Fehlschlagen eines - vor der Festnahme der Bf. zu unternehmenden - Versuches, mit dem Journalrichter das Einvernehmen zu pflegen, hätten die Gendarmeriebeamten selbständig zu prüfen gehabt, ob die (übrigen) gesetzlichen Bedingungen für eine Verhaftung vorlagen (s. VfSlg. 4624/1963).

2.2.3. Die Verhaftung ging demnach nicht dem Gesetz entsprechend vor sich; die Voraussetzungen des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürfen, treffen also nicht zu. Die Bf. wurde somit - Art8 StGG schützt vor rechtswidriger Verhaftung - in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Ob die bekämpfte Amtshandlung - wie die Beschwerde behauptet - auch noch in anderer Beziehung verfassungswidrig war, braucht unter den gegebenen Umständen nicht untersucht zu werden.

2.2.4. Aus diesen Erwägungen war spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1983:B442.1982

Dokumentnummer

JFT_10168875_82B00442_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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