TE Vfgh Erkenntnis 1983/12/15 B210/80

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Veröffentlicht am 15.12.1983
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Index

L8 Boden- und Verkehrsrecht
L8200 Bauordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
Wr BauO 1930 §69

Leitsatz

Wr. BauO; keine Bedenken gegen §69 insbesondere im Hinblick auf Art18 Abs1 B-VG; keine willkürliche Anwendung

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. a) Die I. VermögensverwaltungsgesmbH (die beteiligte Partei des vorliegenden Beschwerdeverfahrens) richtete an den Magistrat der Stadt Wien ein Ansuchen um Erteilung der Bewilligung zur Errichtung eines Wohn- und Bürogebäudes auf den in ihrem Eigentum stehenden Grundstücken 532/9 und 532/15 in EZ 104 KG M (Liegenschaft Wien, E K-Gasse, im folgenden als Baufläche bezeichnet).

b) Für die Baufläche wurden mit dem Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 16. Jänner 1979 gemäß §9 der Bauordnung für Wien, LGBl. 11/1930 (in der nach der Nov. LGBl. 18/1976 geltenden Fassung, im folgenden BauO), die sich aus dem vom Gemeinderat am 26. Juni 1975 beschlossenen Bebauungsplan (Plandokument Nr. 5360) ergebenden Bebauungsbestimmungen (die Baulinie zur E K-Gasse, die Baufluchtlinien und Grenzlinien) in einem einen Bestandteil des Bescheides bildenden Plan bekanntgegeben. Danach stimmt der Verlauf der Grundstücksgrenze zwischen der Baufläche und der nordöstlich angrenzenden Anrainerliegenschaft St. J-Gasse (E K-Gasse) der Bf., von der Baulinie zur E K-Gasse aus gesehen, mit dem Verlauf der Grenzlinie überein, durch die das für die Anrainerliegenschaft festgesetzte Wohngebiet von der für die Baufläche festgelegten Widmung "Geschäftsviertel" getrennt wird. Die Baufläche und die angrenzende Liegenschaft der Bf. sind in der Tiefe von 15 m verbaut. In der Fortsetzung stimmen der Verlauf der Grundstücksgrenze und der Baufluchtlinie (das ist nach §5 Abs6 lite BauO die Grenze, über die mit einem Gebäude oder einem Gebäudeteil mit Ausnahme der gemäß §84 zulässigen Vorbauten nicht vorgerückt werden darf) nicht mehr überein. Die Baufluchtlinie verläuft vielmehr auf der Baufläche in einem Abstand von 4 m südwestlich der Grundstücksgrenze bis zur südöstlich angrenzenden Liegenschaft M-Straße.

Für den 4 m breiten Streifen zwischen Baufluchtlinie und Grundstücksgrenze ist die Bauklasse I mit einer Firsthöhe von 4,50 m und geschlossene Bauweise, für den übrigen Teil der Baufläche die Bauklasse IV und die "geschlossene Bauweise" festgelegt.

Im Bauansuchen wird bemerkt, daß zur Verbesserung des Lichteinfalles für das Hintergebäude des Hauses M-Straße (hinterer Anrainer) der Bauwerber die volle Grundstückstiefe, die von der Baulinie zur E K-Gasse aus bis zur Grundstücksgrenze zur Liegenschaft M-Straße 31,61 m ausmacht, nicht ausnützt, sondern die Gebäudetiefe auf 25 m ab E K-Gasse beschränkt. Aus funktionellen Gründen müsse hiefür die seitliche (4 m von der Grundstücksgrenze entfernt verlaufende) Baufluchtlinie bis zur Grundstücksgrenze der Anrainerliegenschaft der Bf. überschritten werden. Dadurch werde der Lichteinfall für die Bf. nicht beeinträchtigt. Die freiwillige Baubeschränkungszone zur Verbesserung des Lichteinfalles für den hinteren Anrainer betrage "114 Quadratmeter = 100 vH", die Ersatzfläche, mit der die Baufluchtlinie überschritten werden müsse, betrage "38 Quadratmeter = 33 vH".

Wie sich somit aus den eingereichten Bauplänen ergibt, wird damit für die Errichtung des von der beteiligten Partei beabsichtigten Gebäudes ein Teil des zwischen der Hoffluchtlinie und der Grundstücksgrenze gelegenen Streifens, für den nach dem Bebauungsplan die Beschränkung auf Bauklasse I mit einer Bauhöhe von 4,50 m festgelegt ist, in der vollen vorgesehenen Höhe des Gebäudes von 19,32 m in Anspruch genommen.

c) Bei der vom Magistrat anberaumten öffentlichen Bauverhandlung erhoben die Bf. als Miteigentümer der Anrainerliegenschaft St. J-Gasse (E K-Gasse) Einwendungen gegen das Bauvorhaben, und zwar, "daß die Bestimmungen des §75 Abs1 und 4 und des §81 der BauO für Wien nicht eingehalten werden, daß die geplante Feuermauer keine spiegelnde Verkleidung erhalten darf, daß die Terrasse der im obersten Geschoß befindlichen Sauna nicht über den Umriß des Hauses St. J-Gasse ragen darf und daß eine Ausnahmebewilligung zur Überschreitung der inneren Baufluchtlinien nicht zulässig" sei.

d) Nach Einholung der erforderlichen Zustimmung durch die Bezirksvertretung des 5. Wr. Gemeindebezirkes erging der Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 3. Jänner 1980, mit dem der beteiligten Partei "gemäß §70 der BauO für Wien und in Anwendung der Wr. Garagengesetzes ... aufgrund der Zustimmung der Bezirksvertretung vom 14. Dezember 1979, Z BV 5-Bau 3/79, gemäß §69 litf BauO zur Abweichung von den Bestimmungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Ausnützbarkeit des Bauplatzes nach den mit dem Genehmigungsvermerk versehenen Plänen die Bewilligung erteilt" wurde, auf der Baufläche unter Bezugnahme auf die mit dem Bescheid vom 16. Jänner 1979 bekanntgegebenen Bebauungsbestimmungen in der endgültigen Höhenlage ein Wohn- und Bürogebäude mit einem Kellergeschoß, 7 Hauptgeschoßen und 2 Terrassengeschoßen zu errichten. Unter Anführung mehrerer Bedingungen und Auflagen wurde "unter einem ... die Bauführung in öffentlichrechtlicher Beziehung für zulässig erklärt".

Die Einwendungen sämtlicher Miteigentümer der Anrainerliegenschaft Wien, St. J-Gasse, wurden als unbegründet abgewiesen.

2. Die von den Bf. gegen den Bescheid des Magistrates vom 3. Jänner 1980 erhobene Berufung wurde von der Bauoberbehörde für Wien mit dem Bescheid vom 27. März 1980 gemäß §66 Abs4 AVG als unbegründet abgewiesen.

In der Begründung des Bescheides wird ausgeführt, daß die von den Bf. als Berufungswerber behaupteten Überschreitungen der Gebäudehöhe entweder nicht gegeben oder in den Bestimmungen des §81 Abs2, 4, 5 und 6 gedeckt seien. Sodann heißt es:

"Daß zum Zeitpunkt des Bauansuchens das Projekt im Hinblick auf die fehlende Zustimmung der Bezirksvertretung iS des §69 der BauO für Wien nicht genehmigungsfähig gewesen wäre, ist deshalb irrelevant, weil es ja gerade Zweck einer Ausnahmegenehmigung iS dieser Gesetzesstelle ist, in sachlich gerechtfertigten Ausnahmefällen Abweichungen von den Bestimmungen des Bebauungsplanes zu bewilligen, die den Umfang einer unwesentlichen Abänderung desselben nicht überschreiten, wenn öffentliche Rücksichten dem nicht entgegenstehen oder öffentliche Interessen für die Abweichung sprechen und die Bebaubarkeit der Nachbargrundflächen ohne nachgewiesene Zustimmung des Nachbarn nicht vermindert wird.

Die zuständige Bezirksvertretung hat, da sich aus dem Magistratsantrag in schlüssiger Weise ergab, daß die Voraussetzungen einer ausnahmsweisen Zustimmung iS des §69 der BauO für Wien gegeben waren, der hier in Rede stehenden Abweichung von den Bestimmungen des Bebauungsplanes anläßlich der Errichtung des Wohn- und Bürogebäudes auf der Liegenschaft E K-Gasse zugestimmt. Damit erweist sich die vorgesehene Verbauung auch in dem Bereich, in welchem ansonsten nur die Errichtung eines Gebäudes mit 4,50 m Firsthöhe zulässig gewesen wäre, im vorliegenden Fall als rechtmäßig."

3. Gegen den Bescheid der Bauoberbehörde vom 27. März 1980 richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde. Die Bf. behaupten, durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden zu sein. Zur Begründung dieser Behauptung wird vorgebracht, daß von den für die Anwendung des §69 BauO erforderlichen fünf Voraussetzungen nur zwei Voraussetzungen (die Zustimmung der Bezirksvertretung und die Verbesserung des Lichteinfalles für die Anrainerliegenschaft M-Straße) gegeben seien. Die Voraussetzungen für die Überschreitung der Baufluchtlinien zur Anrainerliegenschaft der Beschwerdeführer seien jedoch nicht gegeben. Die Baubewilligung sei in denkunmöglicher Anwendung des §69 BauO erlassen worden; sie sei als Willkürakt zu qualifizieren. Sofern sich der VfGH dieser Auffassung nicht anschließen können sollte, werde geltend gemacht, daß §69 BauO "dem Prinzip der inhaltlichen Bestimmtheit von Gesetzen" nicht entspreche. Sollte es nämlich denkmöglich sein, diese Gesetzesbestimmung so anzuwenden, wie die bel. Beh. es getan habe, dann seien ihr unübersehbare Möglichkeiten der Auslegung eingeräumt. Es gebe dann faktisch kein Bauvorhaben, das nicht als sachlich gerechtfertigter Ausnahmefall betrachtet werden könnte und es gebe keine Abänderung des bebauungsplanes, die man nicht als unwesentlich betrachten könnte. Doch abgesehen von dieser Unbestimmtheit der gesetzlichen Voraussetzungen für die Abweichungen vom Bebauungsplan seien die vorgesehenen Abweichungen selbst ebenso unübersehbar. Diese eine Gesetzesbestimmung gebe der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit in die Hand, sämtliche Bestimmungen der BauO im konkreten Einzelfall abzuändern. Die Bf. regten daher die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens an. Es wird die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt.

Die bel. Beh. hat in ihrer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt. Ebenso hat die beteiligte I. VermögensverwaltungsgesmbH in ihrer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde begehrt.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (zB VfSlg. 8823/1980, 9186/1981) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

2. Der (mit "Abweichungen vom Bebauungsplan" überschriebene) §69 BauO lautet (in dem für die Beurteilung der Beschwerde erforderlichen Umfang):

"In sachlich gerechtfertigten Ausnahmefällen sind für das einzelne Bauvorhaben mit Zustimmung der örtlich zuständigen Bezirksvertretung folgende Abweichungen von den Bestimmungen des Bebauungsplanes zu bewilligen, wenn der Umfang einer unwesentlichen Abänderung des Bebauungsplanes (§1) nicht überschritten wird, öffentliche Rücksichten nicht entgegenstehen oder öffentliche Interessen für die Abweichung sprechen und die Bebaubarkeit der Nachbargrundflächen ohne nachgewiesene Zustimmung des Nachbarn nicht vermindert wird:

a) ...

...

f) Abweichungen von den Bestimmungen des Bebauungsplanes nach §5 Abs4 litd, i, m, n, o, p, q, r und y für jede Art von Baulichkeiten ..."

Für den Beschwerdefall kommt die Anwendung des §5 Abs4 litd in Betracht. Nach dieser Bestimmung können die Bebauungspläne zusätzlich Bestimmungen über die Ausnützbarkeit der Bauplätze bzw. der Baulose enthalten.

3. In den EB zur RV für die Bauordnungs-Nov. 1976 wird zu den Bestimmungen der §§68 und 69 BauO ausgeführt, daß in diesen die Ausnahmetatbestände zusammengefaßt seien. Diese Bestimmungen gingen im wesentlichen auf die bisher in der BauO enthaltenen Ausnahmeregelungen zurück und würden in solche Ausnahmen unterteilt, die von der Behörde im Baubewilligungsverfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen erteilt werden können (§68), und solche, die sich als Abweichung vom Bebauungsplan darstellen und daher nur mit Zustimmung der örtlich zuständigen Bezirksvertretung gewährt werden können (§69). Beiden Ausnahmetatbeständen sei jedoch gemeinsam, daß die Ausnahmen nur gewährt werden können, wenn öffentliche Rücksichten nicht entgegenstehen oder öffentliche Interessen für die Ausnahme sprechen. Ein weiteres wesentliches Tatbestandsmerkmal sei, daß die Gewährung der Ausnahme sachlich gerechtfertigt sein müsse, was insbesondere dann als gegeben anzunehmen sei, wenn sich der vorliegende Sachverhalt von gleichartigen durch objektive Merkmale unterscheide und die Nichtgewährung der Ausnahme im Einzelfall zu einer vom Gesetz nicht gewollten Härte führe. Die Kompetenz der Bezirksvertretung für die Gewährung einer Ausnahme gemäß §69 entspreche ihrer Zuständigkeit zur Beschlußfassung über unwesentliche Abänderungen und Ergänzungen der Flächenwidmungspläne und Bebauungspläne (§1).

In ihrer Gegenschrift verweist die bel. Beh. darauf, daß die vor der BauO Nov. 1976 geltenden Bestimmungen über Ausnahmetatbestände - insbesondere §71 - jahrzehntelang von den Baubehörden angewendet und von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen worden seien.

Es trifft zu, daß in §69 der Behörde für die Beurteilung, ob im Einzelfall ein sachlich gerechtfertigter Ausnahmefall vorliegt, bei dem Abweichungen vom Bebauungsplan bewilligt werden dürfen, ein Spielraum eingeräumt ist. Der VfGH ist aber der Auffassung, daß aus dem Zusammenhang der für die Bewilligung einer Ausnahme erforderlichen Kriterien das Verhalten der Behörde so weitgehend bestimmt ist, daß im Einzelfall ihr Vorgehen durchaus am Gesetz gemessen werden kann. Diese Auffassung findet auch in der Judikatur eine Stütze (vgl. VwSlg. 5881 (A)/1962, VwGH 7. September 1970 Z 595/1969, 14. Juni 1965 Z 381/1964 ua.). Das Verhalten der Behörde ist dem Erfordernis des Art18 Abs1 B-VG entsprechend bestimmt.

Unter dem Blickwinkel des vorliegenden Beschwerdefalles bestehen gegen §69 BauO auch sonst keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

4. Den Vorwurf, durch den angefochtenen Bescheid im Gleichheitsrecht verletzt worden zu sein, begründen die Bf. damit, daß ein Willkürakt vorliege, weil bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides §69 denkunmöglich angewendet worden sei.

Eine solche - allenfalls Willkür indizierende - denkunmögliche Gesetzesanwendung könnte nur vorliegen, wenn die bel. Beh. so fehlerhaft vorgegangen wäre, daß die Fehlerhaftigkeit mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe gestellt werden müßte (vgl. VfSlg. 5096/1965, 7038/1973, 7962/1976).

Für die Annahme eines solchen Verhaltens der bel. Beh. ist weder in der Beschwerde eine Begründung enthalten noch hat sich aus den Verwaltungsakten und dem Ablauf des Verwaltungsgeschehens ein Anhaltspunkt ergeben, nach dem auf ein willkürliches Vorgehen der bel. Beh. bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides geschlossen werden könnte.

Ob dabei das Gesetz auch richtig angewendet wurde, hat nicht der VfGH, sondern der VwGH zu prüfen (VwGH 17. Mai 1983 ZO 5/1234/80).

Die Bf. sind durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nicht verletzt worden.

5. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß die Bf. in sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurden. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, daß sie in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurden.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

Schlagworte

Baurecht, Bebauungsplan, Ausnahmebewilligung (Baurecht), Rechtsbegriffe unbestimmte

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1983:B210.1980

Dokumentnummer

JFT_10168785_80B00210_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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