TE Vfgh Erkenntnis 1985/6/7 B654/84

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Veröffentlicht am 07.06.1985
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
StVO 1960 §82 Abs1
StVO 1960 §95 Abs1 litb
StVO 1960 §97 Abs1
StVO 1960 §99 Abs3 litd
VStG §26 Abs1
VStG §35
VStG §36 Abs1

Leitsatz

StVO; Zuständigkeit des Magistrats der Stadt Innsbruck in erster Instanz zur Ahndung von Übertretungen bezüglich Benützung der Straße zu verkehrsfremden Zwecken Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Aufforderung zum Mitkommen in die Amtsräume des Magistrats unter Androhung sofortiger Festnahme - einer "Verhaftung" iS des Art8 StGG gleichzuhalten VStG 1950 §35 litc; vertretbare Annahme einer Verwaltungsübertretung nach §99 Abs3 litd iVm. §82 Abs1 StVO 1960 - rechtmäßige, als Festnehmung zu wertende Amtshandlung

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. E G beantragte mit ihrer auf Art144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerde an den VfGH der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, sie sei am 21. Juli 1984 in Innsbruck ua. von Sicherheitswachebeamten der örtlichen Bundespolizeidirektion - wegen des Verdachtes einer Verwaltungsübertretung (nach §99 Abs3 litd iVm. §82 Abs1 StVO 1960) - in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt aus ihren Geschäftsräumlichkeiten in das Gebäude des Stadtmagistrats "verbracht", dort angehalten und hiedurch in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich insbesondere im Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK), verletzt worden.

1.2. Der Magistrat der Stadt Innsbruck als bel. Beh. (vgl. VfSlg. 5616/1967, 5663/1968; VwGH 30. Oktober 1979 Z 949, 963/79) erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerde.

Hiezu sei angemerkt, daß die "Untersuchung und Bestrafung" aller Übertretungen, deren Ahndung nicht anderen Verwaltungsbehörden oder den Gerichten zugewiesen ist, so auch der Übertretungen nach der StVO 1960, gemäß §26 Abs1 VStG 1950 in erster Instanz in die sachliche Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörden fallen, es sei denn, daß die Strafbefugnis den Bundespolizeibehörden im Rahmen ihres Wirkungsbereiches zukommt. Da §95 Abs1 litb StVO 1960 die Ausübung des Verwaltungsstrafrechtes wegen Übertretung der Bestimmungen (der StVO 1960) über die Benützung der Straße zu verkehrsfremden Zwecken - auch der hier bedeutsamen Vorschrift des §82 Abs1 StVO 1960 - von der Kompetenz der Bundespolizeibehörden ausdrücklich ausnimmt, ist also im Bereich der Stadt Innsbruck zur Ahndung solcher Übertretungen in erster Instanz der Magistrat zuständig; in diesem Umfang haben die Organe der Straßenaufsicht, insbesondere der Bundessicherheitswache, bei der Vollziehung der StVO 1960 mitzuwirken (§97 Abs1 StVO 1960). Derartige Amtshandlungen solcher Organe hat die Bezirksverwaltungsbehörde zu vertreten (vgl. VfSlg. 9098/1981).

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Der Beweis wurde erhoben durch Einvernahme der Zeugen Dr. H W, B K, F K und A R, ferner durch Einsichtnahme in die Administrativakten und Vernehmung der Bf. E G als Partei. Gestützt auf diese Aussagen und den Akteninhalt stellte der VfGH zunächst folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:

2.1.1. Die Bf. betreibt ein Geschenkartikelgeschäft in Innsbruck. Am Samstag, den 21. Juli 1984 nachmittags erschienen dort Beamte des Magistrats der Landeshauptstadt Innsbruck, darunter der Zeuge B K, mit zwei Sicherheitswachebeamten (F K und A R) und wiesen die Bf. darauf hin, daß sie im Straßenbereich (auf der Fahrbahn) vor ihrem Lokal ohne Erlaubnis Warenständer aufgestellt habe, die - als verkehrsbehindernd - sogleich entfernt werden müßten. Als die Bf. sich weigerte, diesem Ansinnen Folge zu leisten, wurde sie von F K - einem Ersuchen des Zeugen K entsprechend - abgemahnt und, da diese Maßnahme erfolglos blieb und K erklärte, daß die Verdächtigte dann "vorzuführen" sei, zum unverzüglichen Mitkommen zum Amtsgebäude des Stadtmagistrats aufgefordert, und zwar mit dem Beifügen, daß sie ansonsten (sofort) vorgeführt werde. Unter dem Druck dieser Erklärung ließ sich die Bf. daraufhin von den einschreitenden Beamten zur Behörde eskortieren, ohne Widerstand welcher Art immer zu leisten. In den Amtsräumen des Stadtmagistrats wurde das Strafverfahren unverzüglich in mündlicher Verhandlung (§43 Abs1 VStG 1950) unter Leitung des provisorischen Rats Dr. W durchgeführt. Die Amtshandlung endete mit der Verkündung eines Straferk.: Über E G wurden wegen der Verwaltungsübertretung nach §99 Abs3 litd StVO 1960 eine Primärarreststrafe von 14 Tagen und eine Geldstrafe von 10000 S, im Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzarreststrafe in der Dauer von vierzehn Tagen, verhängt (dieser Bescheid erwuchs nach der Aktenlage zunächst nicht in Rechtskraft, das Berufungsverfahren endete mit einer Maßnahme nach §21 VStG 1950).

2.1.2. Die eingangs getroffenen Feststellungen gründen sich in erster Linie auf die mit den Einlassungen der Bf. in wesentlichen Punkten übereinstimmende unbedenkliche und glaubhafte Aussage des Zeugen K, der ausdrücklich bekundete, daß die Verdächtigte vom Sicherheitswachebeamten K zwar nicht formal festgenommen, aber - nach ausdrücklicher Abmahnung - unter Androhung sofortiger Festnahme zum Mitkommen in die Amtsräume des Stadtmagistrats aufgefordert wurde. Den eher zurückhaltenden Aussagen der Zeugen K und R, die darauf hinauslaufen, der Bf. sei das Aufsuchen der Behörde vollkommen freigestellt worden, vermochte der VfGH in dieser Beziehung nicht zu folgen. Das vom Zeugen K gezeichnete Bild des Ablaufs der Amtshandlung fügt sich nahtlos an die Vorgeschichte des Falls: Wie der Zeuge Dr. W deponierte, fand bereits vor dem 21. Juli 1984 beim Stadtmagistrat Innsbruck eine Dienstbesprechung statt, bei der festgelegt wurde, daß in der Altstadt zur Bekämpfung aktueller Mißstände, und zwar auch der unbefugten Verstellung von Verkehrsflächen vor Geschäftslokalen, Kontrollen einzuleiten und verantwortliche Personen, die trotz Abmahnung in ihrem strafbaren Verhalten verharren, der zuständigen Behörde - das ist vorliegend dem Magistrat der Stadt Innsbruck - zwangsweise vorzuführen seien. Der Abteilungskommandant der Sicherheitswache wurde im gegebenen Zusammenhang ersucht, den kontrollierenden Magistratsbeamten jeweils Sicherheitsorgane zur Assistenzleistung beizuordnen; dies mit dem Ziel einer Vorführung der in den Verdacht einer entsprechenden Verwaltungsübertretung geratenen Geschäftsleute zum Magistrat. Einen speziellen Auftrag, die Beamten des städtischen Erhebungsdienstes (K ua.) zu unterstützen und ihnen notfalls Hilfe zu leisten, hatten - wie aus den Verwaltungsakten erhellt - demgemäß auch die Sicherheitswachebeamten K und R am 21. Juli 1984, und zwar von Bezirksinspektor H A, erhalten.

2.2.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies auf sicherheitsbehördliche Befehle zutrifft, die durch die Androhung unmittelbar folgenden physischen Zwangs sanktioniert sind (VfSlg. 7829/1976, 8145/1977, 8146/1977, 8231/1977, 8289/1978, 8359/1978, 8688/1979, 8689/1979, 9457/1982, 9494/1982, 9614/1983, 9770/1983, 9922/1984; VfGH 21. Juni 1982 B291, 292/79). Unverzichtbares Inhaltsmerkmal eines verfahrensfreien Verwaltungsaktes in der Erscheinungsform eines - alle Voraussetzungen des Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF BGBl. 302/1975 aufweisenden - "Befehls", dh. der "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt", bildet also der Umstand, daß dem Befehlsadressaten eine bei Nichtbefolgung unverzüglich einsetzende physische Sanktion - so etwa eine Festnehmung oder Vorführung - angedroht wird (VfSlg. 9922/1984).

Diese Bedingungen sind nach den einleitenden Sachverhaltsfeststellungen erfüllt.

2.2.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

2.3.1. Nach der Bestimmung des Art8 StGG, auf die sich die Bf. in erster Linie beruft, ist die Freiheit der Person gewährleistet. Diese Verfassungsnorm und das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, schützen jedoch - ebenso wie Art5 MRK - nicht vor jeglicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit schlechthin, sondern nur vor willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inverwahrnahme sowie rechtswidriger Internierung und Konfinierung (VfSlg. 8815/1980). Eine - nach der konkreten Fallkonstellation allein in Betracht zu ziehende - "Verhaftung" liegt hier aber in der Tat vor. Denn die Bf. lief nach Lage der Dinge Gefahr, daß sie ohne Verzug physischem (Polizei-)Zwang unterworfen werde, wenn sie den ihr erteilten Befehl unbefolgt lasse. Damit griff der - in der festgestellten, international auf eine Freiheitsbeschränkung gerichteten Aufforderung (zum "Mitkommen") liegende - Verwaltungsakt in Wahrheit über einen bloßen "Befehl" iS des Art144 Abs1 Satz 2 B-VG hinaus: Vielmehr ist das behördliche Vorgehen in seiner Gesamtheit ungeachtet des Umstandes, daß eine Festnahme formal nicht ausgesprochen wurde, angesichts des nur durch die Androhung der unverzüglichen Vorführung erzwungenen anstandslosen Mitkommens der Bf. zum Stadtmagistrat - materiell gesehen - einer "Verhaftung" iS des Art8 StGG gleichzuhalten (vgl. VfSlg. 7829/1976, 8145/1977, 8359/1978, 8816/1980, 9114/1981).

2.3.2.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung verüben und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei das erste dieser beiden Erfordernisse bereits erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung - hier: nach §99 Abs3 litd iVm.

§82 Abs1 StVO 1960 - mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974, 9921/1984).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.3.2.2.1. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob der - ersichtlich gemäß §97 Abs1, zweiter Anwendungsfall, StVO 1960 (: "bei der Vollziehung dieses Bundesgesetzes") - als Organ der Straßenaufsicht einschreitende Sicherheitswachebeamte F K mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß die Bf. sich die Übertretung nach §99 Abs3 litd iVm. §82 Abs1 StVO 1960 zuschulden kommen ließ.

Nach (der mit "Benützung von Straßen zu verkehrsfremden Zwecken" überschriebenen Bestimmung des) §82 Abs1 StVO 1960 ist für "die Benützung von Straßen einschließlich des darüber befindlichen, für die Sicherheit des Straßenverkehrs in Betracht kommenden Luftraumes zu anderen Zwecken als zu solchen des Straßenverkehrs, zB zu gewerblichen Tätigkeiten und zur Werbung, ... unbeschadet sonstiger Rechtsvorschriften eine Bewilligung nach diesem Bundesgesetz erforderlich".

Gemäß §99 Abs3 litd StVO 1960 begeht eine Verwaltungsübertretung, wer Straßen ohne Bewilligung zu verkehrsfremden Zwecken benutzt.

2.3.2.2.2. Angesichts der gegebenen Sach- und Beweislage (s. Abschn. 2.1.1. und 2.1.2.) konnte nun der Zeuge F K mit gutem Grund annehmen, daß die Bf. - schon im Hinblick auf ihre eigenen Einlassungen an Ort und Stelle - eine Verwaltungsübertretung nach §99 Abs3 litd iVm. §82 Abs1 StVO 1960 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens der Bf. als Verwaltungsübertretung vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Verharren in der strafbaren Handlung trotz besonderer Abmahnung ganz offenkundig der Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte, inhaltlich als Festnehmung zu wertende Amtshandlung dem Gesetz, und zwar ungeachtet der wohl fehlerhaften, dem Verwaltungsakt aber nicht seine freiheitsbeschränkende Wirkung und damit sein materielles Gewicht nehmenden Unterlassung einer formalen Festnahmeerklärung.

2.3.2.3. Unter den obwaltenden Umständen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Grund für die anschließende verwaltungsbehördliche Verwahrung der Bf. - sofern von einer solchen (zwangsweisen) Anhaltung nach dem Eintreffen bei der Behörde überhaupt noch gesprochen werden kann - schon vor dem Ende der Verhandlung entfallen wäre.

Gemäß §36 Abs1 VStG 1950 hat die Behörde - im konkreten Fall zu Recht der Magistrat der Stadt Innsbruck (vgl. §94b und §95 Abs1 litb StVO 1960) - den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen vierundzwanzig Stunden nach der Übernahme zu vernehmen:

Vorliegend wurden die Vernehmung und die (Straf-)Verhandlung aber mit aller gebotenen Beschleunigung bis längstens 17.20 Uhr durchgeführt, wie die Bf. in ihrer Beschwerdeschrift selbst einräumt.

2.4. Demgemäß wurde die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.5. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da weder die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hervorkam noch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften entstanden - als unbegründet abzuweisen.

Schlagworte

Behördenzuständigkeit, Zuständigkeit Verwaltungsstrafrecht, Verwaltungsstrafrecht, Festnehmung, Straßenpolizei, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:B654.1984

Dokumentnummer

JFT_10149393_84B00654_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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