TE Vfgh Erkenntnis 1985/9/26 B38/83

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Veröffentlicht am 26.09.1985
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art5
StGG Art8
VStG §35 litc
VStG §35

Leitsatz

Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Art5 StGG; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme nach §35 litc VStG 1950 ohne vorausgehende Abmahnung und nachfolgende Anhaltung; Verletzung im Eigentumsrecht durch Abnahme dem Bf. gehöriger Fahrnisse und Wertgegenstände während der - rechtswidrigen - Haft

Spruch

Der Bf. ist dadurch, daß er am 15. Dezember 1982 um zirka 5.15 Uhr durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und anschließend bis 10.10 Uhr im Bezirkspolizeikommissariat Schmelz angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bf. ist weiters dadurch, daß ihm im Bezirkspolizeikommissariat Schmelz für die Dauer seiner Anhaltung die Verfügungsgewalt über in seinem Eigentum stehende Fahrnisse und Wertgegenstände entzogen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Bf. begehrt in seiner unter Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich seine Festnahme am 15. Dezember 1982 um zirka 5.15 Uhr vor dem Lokal ... in Wien, N-Gasse, und seine anschließende Anhaltung bis 10.10 Uhr im Gebäude des Bezirkspolizeikommissariates Schmelz in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz und dadurch, daß ihm im Bezirkspolizeikommissariat Schmelz durch Abnahme die Verfügungsgewalt über ihm gehörige Wertgegenstände und Fahrnisse für die Dauer seiner Anhaltung entzogen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt wurde.

1.2. Der Bf. bringt vor, er habe sich am 15. Dezember 1982 um zirka 5 Uhr früh beim "S-Wirt" in Wien, N-Gasse, mit einigen Studienkollegen eingefunden, da vom Gastwirt angekündigt worden sei, daß es aus Anlaß einer Jubiläumsfeier von 5 bis 8 Uhr ein Gratisschnitzelessen geben werde. Obwohl reger Andrang herrschte, habe er einen Sitzplatz im Lokal erlangen können. Nach einiger Zeit sei jedoch von einer Serviererin bekanntgegeben worden, daß jemand vor dem Lokal eine Bierflasche auf die Straße geworfen hätte, was eine vorbeifahrende Funkstreifenbesatzung gesehen und daraufhin die Schließung des Lokals angeordnet habe. Nachfolgend sei auch der Gastwirt erschienen und habe erklärt: "Es ist Sperrstunde meine Herren. Kommen Sie um 6 Uhr wieder."

Der Aufforderung des Wirtes Folge leistend sei er mit seinen Kollegen um zirka 5.15 Uhr zum Ausgang des Gasthauses gegangen, wo sich eine größere Anzahl Polizeibeamter befunden hätte. Als der Bf. das Gasthaus verlassen wollte, sei er von Polizeibeamten an den Ärmeln gepackt und ohne Angabe von Gründen in einen "Panzerwagen" verfrachtet worden. Seinen Kollegen sei es ebenso ergangen. Er sei anschließend zum Bezirkspolizeikommissariat Schmelz gebracht worden, wo ihm seine Wertgegenstände, Ausweise, Schuhbänder usw. abgenommen wurden. In der Folge sei er in eine Zelle gesperrt und, erst nachdem er durch einen Polizeijuristen vernommen worden war, um 10.10 Uhr entlassen worden.

2. Sowohl die Bundespolizeidirektion Wien als auch der Magistrat der Stadt Wien haben - unter Vorlage der Administrativakten - Gegenschriften erstattet, erstere hinsichtlich des Einschreitens ihrer Organe wegen strafbarer Handlungen gemäß ArtIX Abs1 Z1 EGVG, letzterer betreffend das Einschreiten der genannten Organe hinsichtlich Verwaltungsübertretungen nach der Gewerbeordnung. Es wird beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen, da der Bf. aufgrund des vertretbaren Verdachtes Verwaltungsübertretungen nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 und nach §198 Abs2 GewO 1973 iVm. §1 Abs1 litb der V des Landeshauptmannes von Wien vom 18. Mai 1982 bzw. §368 Z11 GewO 1973 begangen habe, ergebnislos abgemahnt und daher nach §35 litc VStG 1950 begründet festgenommen worden sei.

3.1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch Einvernahme des H T, des R K, des M Z, des G S, des Gruppeninspektor A S, des Inspektor P J, des Inspektor K K als Zeugen und des Bf. als Partei sowie durch Einsichtnahme in die vorgelegten Verwaltungsakten.

3.2. Aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens stellt der VfGH folgenden Sachverhalt fest:

Am 15. Dezember 1982 gegen 5 Uhr begab sich der Bf. mit Studienkollegen zum "S-Wirt" in Wien, N-Gasse, wo anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Lokals ein Gratisschnitzelessen stattfinden sollte, von dem der Bf. der Meinung war, daß es sich um eine angemeldete (genehmigte) Veranstaltung handle. Der Bf. und seine Kollegen fanden Sitzplätze in einem Hinterzimmer des Lokals. Die Gastwirtschaft besteht gassenseitig aus einem Schankraum, an den hinten ein schmälerer Raum anschließt, in dem sich auf der rechten Seite ebenfalls Sitzgelegenheiten befinden; linksseitig sind von diesem Raum aus zunächst ein Extrazimmer, anschließend die Toiletteanlagen und sodann die Küche zu betreten. Am Ende dieses schmäleren Raumes gelangt man durch eine abschließbare Türe in ein Hinterzimmer. Während der Bf. und seine Kollegen im Lokal Plätze suchten, hatten sich bereits 150 bis 200 Personen in und vor dem Lokal eingefunden, von denen einige auf der Straße randalierten. Nachdem sich Anrainer bei der Polizei telefonisch über die Lärmbelästigung beschwert hatten, wurden mehrere Funkstreifenwagen zum Lokal beordert, deren Besatzung auf der Straße für Ordnung sorgte. Schon kurze Zeit, nachdem der Bf. und seine Studienkollegen im genannten Hinterzimmer Plätze gefunden hatten, teilte ihnen eine Kellnerin mit, "daß Polizei draußen sei", was einen der Anwesenden veranlaßte, die Türe zum Hinterzimmer zuzumachen. In der Folge kam dann auch der Wirt selbst in das Hinterzimmer und teilte mit, daß nun "die Polizei da sei". Inzwischen hatte die Polizei bereits die in den vorderen Räumlichkeiten der Gastwirtschaft anwesenden Personen zum Verlassen des Lokals aufgefordert und diese, soweit sie der Aufforderung nicht nachkamen und sitzenblieben, wegen Störung der Ordnung und Übertretung der Gewerbeordnung abgemahnt, wovon aber die im Hinterzimmer befindlichen Personen - so auch der Bf. - nichts wußten. Der Wirt kam jedoch neuerlich in das Hinterzimmer und teilte nun mit, daß die Polizei die Räumung des Lokals verlange, da erst um 6 Uhr geöffnet werden dürfe; sie sollten um 6 Uhr wiederkommen, in den vorderen Räumen seien die Gäste bereits gegangen. Daraufhin nahmen der Bf. und seine Kollegen ihre Mäntel und verließen das Hinterzimmer. Erst dann sahen sie, daß sich im Schankraum, den die Gäste bereits verlassen hatten, Polizisten aufhielten. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Bf. von der Polizei weder aufgefordert worden, das Lokal zu verlassen, noch war er abgemahnt worden. Der Bf. gelangte bis zum Windfang des Ausganges, wo er hörte, wie ein Polizist sagte:

"Alle, die noch da sind, werden festgenommen!".

In der Folge wurde der Bf. von Polizisten an den Armen gepackt, worauf er nach dem Haftgrund fragte, jedoch keine Antwort erhielt. Er wurde sodann - um zirka 5.15 Uhr - zum Arrestantenwagen gebracht und mit anderen Festgenommenen in das Polizeikommissariat Schmelz eingeliefert, wo er seine Wertsachen abgeben mußte und mit anderen in eine Zelle gebracht wurde. Nach seiner Vernehmung wurde der Bf. schließlich um 10.10 Uhr entlassen.

Gegen die Gastwirtin erging am 3. Jänner 1983 eine Strafverfügung wegen Übertretung des §368 Z11 GewO 1973 iVm. §1 der V des Landeshauptmannes von Wien vom 17. Juni 1982, LGBl. für Wien 15/1982. Gegen den Bf. wurde wegen Verdachtes der Übertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 eine Anzeige erstattet; der in der Anzeige ursprünglich ebenfalls aufscheinende Vorwurf einer Übertretung der Gewerbeordnung wurde, wie in der Gegenschrift der Bundespolizeidirektion Wien ausgeführt, wegen Vorliegens eines subjektiven Rechtfertigungsgrundes gemäß §6 VStG 1950 fallengelassen, sodaß auch eine Übersendung der Anzeige an die nach der Gewerbeordnung zuständige Behörde nicht erfolgte. Seine Festnahme wurde auf §35 litc VStG 1950 gestützt.

3.3. Diese Beweisergebnisse gründen sich im wesentlichen auf übereinstimmende Aussagen aller Zeugen und die Angaben des Bf., widersprechende Angaben betreffen lediglich die Frage der Abmahnung des Bf., das Lokal wegen der Sperrstunde zu verlassen. Insofern war jedoch der Aussage des Bf. zu folgen, da Gruppeninspektor S, als Zeuge darüber befragt, in welchem Räumen er die Anwesenden zum Verlassen des Lokals aufgefordert und abgemahnt habe, bekunden mußte, daß es seines Wissens im Lokal kein Extrazimmer gäbe, jedenfalls keines, das durch eine eigene Tür vom übrigen Lokal abschließbar wäre; er kenne auch das Lokal nicht so gut. Es war daher der Aussage des Bf., daß im Hinterzimmer, in dem er sich befand, die Polizei niemals intervenierte und er daher von den Polizeiorganen auch weder zum Verlassen des Lokals aufgefordert noch wegen Nichtbefolgung dieser Aufforderung abgemahnt worden sei, zu folgen. Die Aussage des Bf. wird auch von den Angaben der Zeugen H T, R K und M Z bestätigt. Die Richtigkeit seiner Angaben ergibt sich aber auch daraus, daß Inspektor P J nur vage angab, im Hinterzimmer "jedenfalls drinnen" gewesen zu sein, mit der Beifügung "das heißt, Gruppeninspektor S, der Wirt und ich", wohl mit der weiteren Erklärung "Sowohl der Wirt als auch Gruppeninspektor S haben die Leute in diesem Extrazimmer aufgefordert, das Lokal zu verlassen", diese Angaben sich aber mit der Zeugenaussage des Gruppeninspektor S nicht decken.

4. Der VfGH hat über die Beschwerde erwogen:

4.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983, 10112/1984).

4.1.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt, zulässig.

4.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.).

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird; sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß §35 litc VStG ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zwecke der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

4.2.2. Nach den getroffenen Feststellungen erübrigte es sich zu prüfen, ob das einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß der Bf. sich die Übertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 oder die Übertretung der Gewerbeordnung nach §368 Z11 GewO 1973 - danach begeht eine Verwaltungsübertretung, wer die Bestimmungen der gemäß §198 Abs1 GewO 1973 erlassenen Verordnungen über die Sperrstunden und Aufsperrstunden nicht einhält - iVm. §1 der SperrzeitenV 1982 des Landeshauptmannes von Wien, LGBl. 15/1982, zuschulden kommen ließ. Denn die Festnahme war schon deshalb rechtswidrig, weil sie ohne vorausgehende Abmahnung vorgenommen wurde.

4.2.3. Angesichts der Sach- und Rechtslage ist der Bf. durch seine Festnahme und - zwangsläufig - auch durch seine nachfolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

4.2.4. Der Beschwerde war schon aus den dargelegten Erwägungen stattzugeben, ohne daß auf die behauptete Gleichheitsverletzung eingegangen werden mußte.

4.3. Zufolge der Rechtswidrigkeit der Haft ist der Bf. aber auch dadurch, daß ihm während der Haft ihm gehörige Fahrnisse und Wertgegenstände abgenommen wurden, und ihm damit die Verfügungsgewalt über dieselben entzogen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt worden, da sich diese Maßnahmen unter den gegebenen Umständen auf keine gesetzliche Grundlage stützen lassen.

4.4. Der VfGH hatte daher wie im Spruch zu entscheiden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:B38.1983

Dokumentnummer

JFT_10149074_83B00038_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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